- Kapitel 27 -
Zukunft und Vergangenheit
Toireasa befand sich erneut am Rande einer Panik. Sie hatte sich einen Badeanzug von Luna geborgt, da dieser ihr am besten passte – ihn sogar unter ihren normalen Sachen angezogen. Allein das hatte einiges an Überwindung gekostet. Wer trug schon gern einen Badeanzug, auf dem sich ständig die Abbilder von Lemmingen im Wasser versenkten? Sah man davon ab, dass der Massenselbstmord dieser Tiere nur eine Muggellegende war, so war dieser Badeanzug trotzdem nicht sonderlich hilfreich dabei ihr Mut zu machen. Zu ihrer normalen Angst vor Wasser gesellte sich auch noch die Furcht, in diesem Badeanzug von anderen Schülern gesehen zu werden oder schlimmer noch – darin zu sterben.
Man schaute sie jetzt schon seltsam an. Auch wenn die Stiche der Reddbees nicht mehr juckten, so waren sie doch noch immer recht geschwollen und mit einer weiß-silbrigen Creme dünn eingeschmiert. Ihr Gesicht wirkte im Moment so, als wäre es aus welligem Blech.
So stand sie im Aufgang zur Großen Halle, stand sich die Beine in den Hals und wirkte völlig deplaziert mit ihrem Handtuch. Die Ravenclaws verspäteten sich.
Nicht, dass sie nicht für jede Sekunde Aufschub dankbar war – nur, je länger sie herumstand, desto mehr schmolz ihre Entschlossenheit dahin. Wie hatte Tarsuinn sie nur dazu überreden können? Jetzt – ausgeschlafen und befreit von der Übelkeit – kam ihr sein Gelabere über Schwächen bezwingen, Stärke zeigen und seine Angst kontrollieren irgendwie nicht mehr so überzeugend vor.
„Da sind wir schon", begrüßte sie plötzlich Winona. Toireasa war ein wenig überrascht, denn das Mädchen kam aus einer Richtung, aus der sie es nicht erwartet hatte – aus dem Keller.
„Bereit?", erkundigte sich ihre Freundin und lächelte aufmunternd.
„Nein", antwortete Toireasa wahrheitsgemäß.
„Perfekt", ignorierte Winona ihre Antwort und ergriff sie bei der Hand. „Los geht's."
Dann zog das Mädchen Toireasa die Treppe zu den Kerkern hinunter.
„Wo gehen wir denn hin?", fragte Toireasa verwirrt.
„Nachdem ich gesehen habe, wie Lunas Badeanzug aussieht, dachte ich mir, du wärst für ein wenig Privatsphäre dankbar."
„Und dazu gehen wir in die Kellergewölbe? Ist da ein Schwimmbad?"
„Schön wär's. Nee – wir müssen schon in den kalten See."
„Hier unten?"
„Yep", lachte Winona. „Dachte du bist helle und hättest es schon längst erkannt."
„Wie geht es Alec?", fragte sie, um sich nicht anmerken zu lassen, für wie kindisch sie Winonas Gehabe hielt.
„Hab ihn nicht gesehen. Als wir heute Morgen in unseren Turm durften, war er schon weg und niemand weiß wohin. Wir vermuten, Professor Snape hat ihn in der Mangel. Nicht einmal Penelope wusste Genaueres und die ist Vertrauensschülerin."
„Hoffen wir, dass es glimpflich für ihn abgeht", sagte Toireasa ehrlich.
„Besser als jeder Rausschmiss ist es alle Male", gab Winona zu bedenken. „Wir sind übrigens am Ziel."
Sie blieben vor einer riesigen Flügeltür stehen.
„Klickert es jetzt?", grinste Winona.
Toireasa schüttelte den Kopf.
„Gleich wird es", versprach Winona. „Hilf mir mal."
Zusammen zogen sie die schwere Tür auf einer Seite auf und erst dann begriff Toireasa endlich wo sie sich befand. Die düstere Höhle, das Plätschern des Wassers an der Anlegestelle, die schaukelnden Boote. Sie war da, wo ihre Hogwartszeit begonnen hatte – im unterirdischen Hafen der Schule.
Tarsuinn war schon da. Er kletterte gerade an einer Leiter aus dem Wasser. Seine Zähne klapperten hörbar vor Kälte.
„Man kann überall stehen", verkündete er und wickelte sich in einen Bademantel. „Außer da hinten, wo es nach draußen auf den See geht."
Toireasa hielt sich so weit wie möglich vom Wasser entfernt.
Tarsuinn und Winona schienen alles gut vorbereitet zu haben. Einige Decken lagen ausgebreitet auf dem Boden. Daneben lag eine Feuerschale, in der ein angenehmes magisches (und somit rauchfreies) Feuer knisterte. Das war auch nötig. Ohne die wärmende Sonne, die draußen schien, war es hier drin ziemlich kühl.
„Bereit?", stellte er die gleiche Frage wie Winona zuvor.
„Nein!", antwortete sie erneut.
„Ich hoffe, du machst trotzdem mit", sagte er und kniete sich neben das Feuer. „Ich will nicht umsonst in diese kalte Brühe geklettert sein."
„Denkst du immer noch, es ist eine gute Idee?", fragte sie zweifelnd. „Es heißt doch, man ertrinkt im kalten Wasser viel schneller, weil die Muskeln die Arbeit verweigern. Man bekommt einen Krampf und geht unter."
„Zum Ertrinken ist es hier zu flach", stellte Tarsuinn fest. „Außerdem bekommst du ja das hier um."
Er hielt ein seltsames Ding, bestehend aus Stricken und Korkbrettchen, in die Luft.
„Was ist das?", fragte sie neugierig.
„Ein Schwimmgürtel", erklärte Winona. „Damit kannst du praktisch nicht untergehen. Vertrau uns einfach. Schwimmen haben wir im Moment eh nicht geplant."
Toireasa vertraute den beiden durchaus, nur bei ihr selbst sah das anders aus. Trotzdem entkleidete sie sich bis auf den Badeanzug und ließ sich von Winona beim Umlegen des Schwimmgürtels helfen. Doch an der Leiter ins Wasser endete ihr Mut. Sie wollte ja, aber die Angst vor dem Wasser hielt sie zurück. Es war so, als würde sie schon jetzt keine Luft mehr bekommen. Tarsuinn zog sie wieder zurück und kletterte selbst ins Wasser.
„Schau mal", sagte er und legte sich mit dem Rücken auf das Wasser. Zu Toireasas Erstaunen ging der Junge nicht unter. Nur seine Hände bewegten sich langsam, während seine Arme gerade an seinem Körper anlagen. „Ich muss nur ein wenig Wasser unter meinen Rücken wedeln und schon geh ich nicht unter. Versuch es doch selbst mal. Ähem…Winona kann dir dabei am Anfang helfen. Nur Mut!"
Sie war hin und her gerissen. Es sah wirklich einfach aus. Fast spielerisch. Winona kletterte nun auch ins Wasser – äußerst zaghaft und sich laut über das kalte Wasser beschwerend, aber dann lächelte sie aufmunternd Toireasa zu und hielt ihr eine Hand entgegen.
Was war denn schon dabei? Das Wasser ging doch nur bis zur Brust, sie hatte einen Schwimmgürtel und da standen zwei Freunde, auf die sie sich verlassen konnte.
Vorsichtig kletterte sie einen Fuß nach dem anderen die Leiter hinunter und kurzzeitig vertrieb das (verflucht) kalte Wasser ihre Angst. Danach dauerte es gut fünf Minuten bevor sie sich überwinden konnte, sich Winona und dem Schwimmgürtel anzuvertrauen. Nur um dann festzustellen, dass sie wirklich wie von selbst auf dem Wasser schwamm. Auch als das Mädchen ihre Hand unter ihr wegzog, ging Toireasa nicht unter.
Nach wenigen Minuten kletterten sie mit blauen Lippen wieder aus dem Wasser und Toireasa war extrem stolz auf sich. Sie trocknete sich ab und war recht erschrocken, als Winona sich neben ihr auch noch ungeniert des Badeanzugs entledigte, während Tarsuinn sich mit einem Handtuch als Sichtschutz behalf.
Verlegen versuchte sie seinem Beispiel zu folgen, was aber nicht sonderlich einfach war.
„Ach, hab dich doch nicht so", stöhnte Winona auf, als sie dies bemerkte. „Tarsuinn ist blind! Er sieht dich nicht nackt."
Trotzdem ergriff das Mädchen Toireasas Handtuch und hielt es als Sichtschutz hoch, so dass sie sich einfacher umziehen konnte. Dabei verdrehte Winona theatralisch die Augen.
„Ich dachte, du hast zwei Brüder?!", grinste das Mädchen amüsiert über Toireasas Verlegenheit.
„Schon!", sagte sie und ihr Kopf wurde ganz heiß. „Aber bei uns zu Hause ging es da anscheinend deutlich anders zu als bei euch."
„Wenn ihr wollt, geh ich auch weg", bot Tarsuinn an und auch sein Kopf war gerötet.
„Ach, Quatsch!", urteilte Winona. „Du bist blind, wir sind Mädchen. Wer sieht hier was?"
„Nur ihr mich", sagte Tarsuinn und wurde jetzt knallrot wie eine Tomate.
„Glaub mir", kicherte Winona. „Da ist nix Interessantes!"
„Du tust ja so, als ob du alles schon gesehen hättest!", sagte Tarsuinn. „Ähem… du hast doch…"
„Nein, nein", lachte das Mädchen. „Madame Pomfrey war immer sehr sorgfältig beim Aufstellen der Sichtschirme. Wollt dich nur aufziehen. Außerdem wird dir so nicht kalt."
„Ha, ha. Sehr witzig", beschwerte sich Tarsuinn und lenkte dann vom Thema ab.
„Wie ist überhaupt der Stand der Dinge in Sachen Heimholung?", fragte er, wickelte sich in eine Decke und legte sich in die Nähe des Feuers.
Winona und Toireasa folgten diesem Beispiel.
„Ganz gut", erwiderte Winona und schaute Toireasa auffordernd an.
„Na ja – eigentlich nicht", schränkte diese daraufhin ein. „Laut meinen Großeltern planen meine Stiefeltern mich nach der Schule am Express zwar nicht abzuholen, aber mich trotzdem mitzunehmen. So nach dem Motto: Da du schon mal da bist, komm einfach mit!
Und danach wollen sie mir zu Hause klar machen, wie falsch ich liege, indem sie mir drohen mich nicht mehr nach Hogwarts zu lassen. Das wäre zwar eine ungewöhnliche Maßnahme, aber niemand kann sie dazu zwingen mich hierher zu lassen. Und ihnen vorwerfen, sich nicht um mich zu kümmern, geht dann auch nicht, da sie ja für Essen und Kleidung sorgen würden."
„Wie funktioniert das überhaupt mit dieser Vernachlässigungssache?", fragte Tarsuinn. „Musst du halb verhungert sein, damit deine Großeltern dich aufnehmen dürfen?"
„Natürlich nicht!", erklärte Toireasa. Sie hatten Tarsuinn bisher nicht viel erzählt, weil er sich mehr mit dem Versuch zu zaubern beschäftigen sollte. „Wir haben ein paar alte Urteile ausgegraben. Da reichte es schon, dass die Eltern nicht interessiert an der Entwicklung des Kindes waren. Keinerlei finanzielle Vorsorge und kein persönlicher oder schriftlicher Kontakt im Laufe von mindestens sechs Monaten, obwohl die Möglichkeiten von beiden Seiten gegeben waren. Das Problem ist, solange das Schuljahr läuft, treffen sie ja finanzielle Vorsorge. Erst, wenn sie mein Schulgeld nicht zahlen und sie sich nicht um mich kümmern, dann wäre der Nachweis erbracht. Und dazu werden sie es nicht kommen lassen! Professor Flitwick will zwar versuchen, die Zahlung etwas zu verzögern, aber mehr als drei Tage ist nicht möglich, ohne Aufsehen zu erregen."
„Ist es eine Möglichkeit, dass dich deine Stiefeltern doch mögen?", fragte Tarsuinn und sie konnte deutlich sehen, wie er sich bei der Frage wand.
„Ganz bestimmt nicht!", antwortete Toireasa schärfer als gewollt. „Von meinen Großeltern weiß ich, dass sie alle Dinge meiner Mutter verkauft haben und auch einige Sachen die mir gehören! Nein – sie machen sich nur Sorgen um Professor Flitwick. Sie fürchten, er könnte meine Schulgebühren übernehmen. Schließlich ist er in den Augen meiner Eltern der einzige, der mich unterstützt."
„Und wo liegt jetzt euer Problem?", erkundigte sich Tarsuinn stirnrunzelnd.
„Das hat sie doch gerade erklärt!", warf Winona ungehalten ein. „Stiefeltern am Bahnhof, Schulgebühren. Schon vergessen?"
„Nicht auf dem Bahnhof sein? Flitwicks Kreditwürdigkeit untergraben?", antwortete Tarsuinn genauso kurz angebunden.
„Das geht doch nicht und was sollen wir untergraben?", fragte Toireasa verblüfft.
„Natürlich geht das", entgegnete der Junge flapsig. „Einfach nicht in den Hogwarts-Express einsteigen und sich hier verstecken. Kann mich nicht erinnern, dass zu Weihnachten da groß durchgezählt wurde. Was Flitwick angeht, so meinte ich, er muss als jemand erscheinen, der im Moment kein Geld hat und dem man auch keins borgen sollte. Das kann man sicher mit ihm absprechen oder – wenn es sein muss – auch ohne seine Zustimmung als Gerücht für deine Stiefeltern in die Welt setzen."
Ein wenig geschockt schaute Toireasa Tarsuinn an. Meinte er das wirklich ernst? Sie sollte, wenn es sein musste, das Ansehen ihres Paten schmälern?
„Er hat versprochen mir zu helfen", versuchte Toireasa den unangenehmen Teil zu ignorieren. „Aber eigentlich will ich nicht, dass man schlecht über ihn denkt."
„Ich sag nur, was ich als Lösung sehe", sagte Tarsuinn leichthin. „Es ist nur so, ich hab bisher nicht den Eindruck deine Stiefeltern seien dumm. Deshalb werden sie sich wahrscheinlich nur zum Äußersten treiben lassen, wenn sie glauben, dass sie am längeren Hebel sitzen. Erst wenn sie davon überzeugt sind, dann kann man sie vollends auf die Palme bringen."
„Ja, aber muss man dazu Professor Flitwicks Ruf beschädigen?", sträubte sich Toireasa, hatte aber plötzlich eine Idee. „Eigentlich würde es ja schon reichen, wenn sie annehmen würden, er wäre aus dem Weg."
„Ein ausgedehnter Urlaub zum Beispiel?", bot Winona an.
„Dann könnte er noch mit mir in Kontakt stehen", schüttelte Toireasa den Kopf. „Ich dachte eher an eine schwere Krankheit. Eine, die einen eine Zeit lang außer Gefecht setzt. Muss ja nicht echt sein."
„Und wie lassen wir deine Stiefeltern davon erfahren?", forschte Tarsuinn. „Vor allem, wie erfahren sie es unauffällig, damit sie keinen Verdacht schöpfen.
Das war eine durchaus berechtigte Frage. Man konnte so etwas nicht an die große Glocke hängen. Wenn jemand krank wurde, stand das selten in der Zeitung und sobald Ferien waren interessierte sich niemand dafür, was ein Lehrer machte.
„Vielleicht könnte er schreiben, dass er vorbeikommen wird, um mit deinen Eltern über dich zu sprechen und dann taucht er einfach nicht auf", schlug Winona vor.
„Meinen Stiefeltern wäre es wahrscheinlich egal, wenn er nicht vorbeikommt", schüttelte Toireasa den Kopf. „Aber vielleicht…? Wenn jemand dann bei ihnen anfragt, warum Professor Flitwick nicht von seinem Besuch zurückgekehrt ist, dann könnten sie etwas besorgt sein und sich erkundigen. Eventuell sollte man andeuten, dass man von dem Zwist zwischen Stiefeltern und Paten wisse."
„Klingt doch nach einer Idee", sagte Tarsuinn nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens. „Und welchen Unfall lassen wir ihn erleiden?"
„Apparierunfall?", schlug Winona vor.
„Nicht bei seinem Ruf!", lehnte Toireasa ab. „Das glaubt doch keiner. Es muss etwas sein, was man für möglich hält."
„Hagrid war unaufmerksam und ist auf Flitwick draufgetreten", warf Tarsuinn ein.
Es kam so ernst über seine Lippen, dass Toireasa einfach bei der Vorstellung laut lachen musste. Auch Winona kicherte ungehemmt.
„Was ist?", fragte Tarsuinn verwundert. „Kann doch sein, oder?"
Wäre da nicht ein kurzes Zucken der Mundwinkel gewesen, man hätte ihm beinahe abkaufen können, dass er es wirklich so meinte.
„Entschuldige bitte, Hagrid", sagte Winona in ihrer besten Dumbledore-Imitation. „Ich glaube, der Aufenthalt unter deinem Schuh bekommt Professor Flitwick nicht sonderlich."
„Tschuldigung", fuhr sie als Hagrid fort. „Hab Sie ohne ihre Bücher einfach nich gesehen, Professor."
„Das ist nicht witzig!", beschwerte sich Toireasa, schaffte es aber immer noch nicht das Lachen zu unterdrücken. „Immerhin ist er mein Pate!"
„Dann sollten wir ihm gestatten, sich seine Katastrophe selbst zu wählen!", erklärte Tarsuinn und jetzt grinste er selbst auch. „Professor? Wollen Sie vom Besen fallen, unter Hagrids Fuß enden oder vielleicht im Flohnetzwerk verloren gehen?"
Die nächsten fünf Minuten verbrachten sie damit, immer haarsträubendere Unfälle Toireasas Paten anzuhängen. Doch irgendwann beendete Tarsuinn den Kreislauf und forderte zu einer weiteren Runde Schwimmunterricht auf.
Obwohl sofort jegliche Fröhlichkeit von ihr abfiel, musste Toireasa doch zugeben, es fiel ihr diesmal deutlich leichter sich zu überwinden.
Nachdem sie sich erst mal wieder mit dem Rücken aufs Wasser gelegt hatte und mit den Händen Wasser unter ihren Körper wedelte, sollte sie dann mit den Beinen strampeln. Es war erstaunlich, wie einfach und schnell sie sich so plötzlich vorwärts bewegte. Sie hatte das zwar schon einmal gesehen, aber da hatten die Schwimmer auch immer die Arme eingesetzt. Es verblüffte sie ein wenig, dass dies überhaupt nicht nötig war. Einzig als ihr einmal Wasser über das Gesicht schwappte, fühlte sie Panik in sich aufsteigen, doch nach einer kurzen Pause wagte sie sich wieder an einen neuen Versuch. Der Erfolg war berauschend, doch schon bald mussten sie erneut unterbrechen. Das kalte Wasser verhärtete ihre Muskeln und das Schwimmen brachte sie außer Atem.
Nach nicht einmal zehn Minuten wärmten sie sich schon wieder im Kreis am Feuer.
„Du machst gute Fortschritte, Toireasa", lobte Winona.
„Ohne euch würde ich mich nicht mal in die Nähe von so viel Wasser wagen", schränkte sie ein und sah das andere Mädchen dankbar an.
„Warum eigentlich?", wollte Winona wissen. „Bist du mal fast ertrunken oder so?"
„Ich weiß es nicht", gab Toireasa zu. „Sobald ich Wasser in einer solchen Höhe sehe, dass ich ertrinken könnte, selbst in einer Badewanne, fällt mir das Atmen immer schwerer. Manchmal habe ich Alpträume, in denen ich atmen will, aber nicht kann.
Aber ich habe keine Erinnerungen an irgendeinen Auslöser. Vielleicht war ich damals zu klein? Ich kann es einfach nicht sagen. Ich hab schon mal meine Stiefmutter gefragt, aber die sagte, sie wüsste es auch nicht. Sie sagt, ich wäre einfach nur feige."
„Das bist du sicher nicht!", sagte Winona überzeugt und es tat sehr gut.
„Ach! Ich will bloß nicht hinter euch zurückstehen", erklärte Toireasa zurückhaltend. „Um ehrlich zu sein, ich hasse es, wenn ihr in etwas besser seid als ich."
„Na, dann hast du ja noch viel vor dir!", lachte Winona. „Jeder weiß doch, Ravenclaw ist immer besser."
„Selbst in der Niederlage, ich weiß", frotzelte Toireasa zurück. „Immerhin wartet Ravenclaw doch schon mehr als zehn Jahre auf den Hauspokal. Länger sogar als Hufflepuff."
„Ohne Snape und mich lägen wir dieses Jahr deutlich in Führung und Slytherin wäre abgeschlagen auf dem letzten Platz", warf Tarsuinn lächelnd ein.
„Dem vorletzten!", korrigierte Toireasa überzeugt. „Hufflepuff ist gerade in einem extremen Tief!"
„Ja, das sind ziemliche Nasen", sagte Winona. „Die sind stellenweise einfach zu nett, um sich in den Vordergrund zu drängen und so Punkte abzustauben. Kennst du Snapes Lieblingsspruch, wenn er einem Hufflepuff seine Arbeit zurückgibt?"
„Nein, wie du weißt sind wir mit den Gryffindors zusammen in Zaubertränke", entgegnete Toireasa.
„Solide Arbeit, O'Hara. Aber nicht gerade inspirierend. Ich hatte das Gefühl, sie versuchten mich mit Langeweile zu töten!", imitierte Winona Toireasas Hauslehrer.
„Er ist meist ziemlich gemein zu allen Nicht-Slytherins, nicht wahr?", fand Toireasa. „Zu den Gryffindors ist er sogar noch ätzender. Vor allem dieses schüchterne Weasley-Mädchen macht er immer fertig."
„Ginny Weasley?", fragte Winona. „Ich hab mal versucht mit ihr zu sprechen. Sie schien Angst vor mir und jedem anderen zu haben. Ist ohne ein Wort weggerannt."
„Na ja – trotzdem fühle ich mich immer schlecht, wenn Snape und die anderen Slytherins auf ihr rumhacken", sagte Toireasa nachdenklich.
„Wenn man einmal auf der anderen Seite stand, ist das normal", meinte Tarsuinn ernst. „Aber…"
Etwas Kleines, Dunkles flatterte vom See her in die Höhle und landete hinter dem Rücken des Jungen.
„Ninja-chan?", fragte Tarsuinn offensichtlich verblüfft und drehte sich herum. Toireasa konnte nicht sehen, wen er so nannte. Von der Größe her musste es sich um eine Fledermaus, Taube oder Keyx handeln.
Sie hörte Tarsuinn ein – Danke – flüstern, dann flatterte das Etwas weg und diesmal glaubte Toireasa doch eine Eule zu erkennen. Eine Eule, die genau wie Keyx eine Zwergohreule war.
Tarsuinn drehte sich wieder herum und seine Hände entfalteten nun einen Brief.
Seine Finger rasten Zeile für Zeile über den Brief, schneller als mancher normal lesen konnte, und sein Gesicht bekam währenddessen einen immer ausdrucksloseren Ausdruck.
„Ist was mit Rica?", fragte Winona besorgt.
Er schüttelte langsam den Kopf.
„Ihr geht es wie immer, also nicht sonderlich gut", sagte er dann langsam. „Es ist was anderes."
„Und was?", fragte das Mädchen weiter, obwohl Toireasa versuchte sie mit energischem Kopfschütteln davon abzubringen. Winonas Art nach Privatsachen zu fragen, machte Toireasa verlegen. Obwohl – sie gab es ungern zu – sie doch neugierig auf die Antwort war.
„Rica ist sich sicher ein paar unfreundliche Personen im Krankenhaus gesehen zu haben, die darauf warten, dass ich vorbeikomme", sagte Tarsuinn leicht erschüttert. Flackerte da in seinen Augen Angst? Zumindest kaute er auf der Innenseite seiner Wangen. Das tat er immer, wenn er mit Problemen rang.
„Du wirst also noch immer gesucht?", fragte Winona ohne Rücksicht weiter und diesmal versuchte Toireasa nicht sie davon abzuhalten.
Es war seltsam, die Gefühle auf dem Gesicht des Jungen zu sehen, der normalerweise jeden Lehrer mit versteinertem Gesicht anlügen konnte, wenn es nötig war.
„Ach, was soll's", sagte er dann schließlich. „Du weißt eh schon die Hälfte. Ja, anscheinend suchen die mich noch immer."
Er machte eine Pause. Diesmal ohne von Winona weiter gedrängt zu werden. Man konnte auch so sehen, dass er nach Worten suchte.
„Ich wünschte Tikki wäre hier und würde nicht durchs Schloss stromern", flüsterte er unsicher. „Sie bewahrt mich meist vor Dummheiten."
Erneut blieb er eine Weile still. Er schien zu lauschen. Als er dann sprach, war seine Stimme kaum hörbar.
„Weißt du, Toireasa, Rica und ich, wir sind, seit ich denken kann, weggelaufen. Ich kenne fast nichts anderes. Erst hier in Hogwarts habe ich mich vor den Leuten, die uns folgen, sicher gefühlt. Es ist das erste sichere Versteck, das ich jemals gehabt habe. Ich hatte zwar schon mal etwas wie ein Zuhause – in Hongkong – aber ich habe dort niemals gewagt, einfach mal nach draußen zu gehen. Nicht wie hier. Und ich hatte immer Angst, mich jemandem anzuvertrauen."
Tarsuinn lächelte traurig.
„Klingt ziemlich daneben, nicht wahr? Am besten fang ich dann wohl von vorne an. In meiner ältesten Erinnerung bin ich gerade mal vier Jahre alt. Ich habe die ganze Nacht über schlimme Träume und ich schrei die ganze Zeit nach meinen Eltern oder meiner Schwester. Man hat mich auf einem Bett festgeschnallt und eine Frau erklärt mir, dass meine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind und meine Schwester mit schweren Verbrennungen im Bett liegt. Danach verschwimmt wieder alles. Alles ist ein dunkler Tunnel. Und plötzlich ist da Rica. Ich kann mich zwar nicht mehr erinnern, wie meine Eltern hießen, aber ich weiß, dass dieses Mädchen, das mich berührte, meine Schwester war. Ihre Stimme war zwar anders – die Ärzte meinten, sie hätte auch innere Verbrennungen erlitten – aber ich kannte ihre Haut und ihren Geruch. Nachdem ich sie wieder hatte, war dann alles halb so schlimm. Sie beruhigte mich, wenn ich mich fürchtete und übte mit mir Dinge zu ertasten. So bekam sie mich zumindest tagsüber einigermaßen ruhig. Nur nachts…aber das wisst ihr ja!
Zumindest stellten wir schon bald fest, dass wir zwar unser Zimmer verlassen und in den Garten gehen durften, aber das Gelände verlassen – das war uns nicht erlaubt.
Und wir waren damit nicht allein. Auf dem Gelände lebten noch viele andere kranke Menschen und das dazugehörige Pflegepersonal. Obwohl es uns da sehr gut ging, versuchte Rica mehrmals zu erfahren, warum wir nicht auch das Gelände verlassen durften. Sie bekam keine Antwort, aber als sie einmal zu energisch darauf beharrte, haben sie ihr eine Spritze gegeben, woraufhin sie einige Tage ziemlich sonderlich war. Danach fragten wir nie wieder nach dem Warum! Aber ich glaube, nachdem Rica wieder normal war, fasste sie den Entschluss mit mir abzuhauen. Ich schätze, Rica wäre eine Gryffindor, wenn sie hier in Hogwarts wäre. Weil es zwar mutig, aber ziemlich dämlich ist, in einer unbekannten Gegend mit einem kleinen blinden Kind, wegzulaufen. Vor allem, wenn man selbst erst elf ist.
Aber völlig verrückt war sie auch nicht. Einige Wochen lang erkundete sie das Gelände. Sie fand die Vorratskammer und ein Depot mit allerlei persönlichen Dingen. Dort gab es auch zwei Kisten, die mit Rica und mit Tarsuinn McNamara beschriftet waren und weil es niemanden gab, der auch so hieß, waren das wohl unsere Sachen. Es war natürlich zuviel, als dass wir alles mitnehmen konnten, aber sie stahl einige Dinge, die sie für nützlich hielt. Eines Abends brachte sie uns beide nach draußen. Ich kann mich kaum erinnern wie, aber ich glaube, sie verabreichte einem der Wächter eine Spritze. Danach liefen wir einfach in die Nacht hinaus. In irgendeine Richtung! Wir wussten damals nicht, dass wir in Indien waren und wie gefährlich es da im Dschungel war. Aber vielleicht war das auch unser Glück, denn zunächst folgte uns niemand. Nach einer Woche gingen dann unsere Essensvorräte zu Ende und wir fanden eine halb verfallene Hütte. Weil wir nichts zu essen hatten, musste Rica mich da allein lassen, weil sie allein besser nach etwas Essbarem suchen konnte. Ihr glaubt gar nicht, wie viel Angst ich damals hatte. Ich hab die Zeit, in der sie weg war, vollkommen still und bewegungslos zugebracht. Bis ich eines Tages so eine Art verzweifeltes Gewinsel hörte. Ich weiß nicht warum, aber ich bin trotz der Angst aus der Hütte gekrochen und dann dorthin, wo das Gewinsel herkam. Fragt mich nicht, woher ich den Mut dafür nahm. Und fragt mich auch nicht, woher ich weiß, was sich dann abspielte. Ich zumindest sah – oder bilde es mir heute zumindest ein – eine Kobra, die kleine wehrlose Fellknäuel tötete. Aus meinen Träumen kannte und fürchtete ich Schlangen, aber statt wegzulaufen, nahm ich einen Stock und begann auf die Schlange einzuschlagen. Ich glaub, sie würgte gerade eines der Fellknäuel herunter und konnte sich deshalb zunächst nicht wehren, aber meine Schläge waren viel zu schwach, um irgendetwas zu bewirken. In Seelenruhe tötete sie noch die restlichen kleinen Tiere und dann wandt sie sich mir zu. Sie richtete sich auf zum Stoß, doch dann war da plötzlich ein wilder Schrei, ein Schatten und das Genick der Schlange war Geschichte. Ich konnte es richtig knacken hören. Danach war Ruhe. Zunächst dachte ich, die Schlange hätte im Todeskampf noch dieses andere Tier getötet, aber dem war nicht so. Unter dem Fell des Tieres, das ich neben der Schlange ertastete, schlug noch das Herz. Aber es wollte nicht mehr leben.
Man hat mir schon mehrfach erzählt, Tiere – außer vielleicht Delphine und Affen – könnten nichts empfinden, aber ich bin mir sicher, das stimmt nicht. Damals wie heute bin ich dieser Ansicht. Ich hab mit bloßen Händen die Fellknäuel begraben und die Schlange auf einen Ameisenhügel geworfen, dann nahm ich das noch immer regungslose Tier und ging wieder in meine Hütte. Ich hab es bestimmt stundenlang gestreichelt. Als dann meine Schwester kam, lief es weg, doch es kam jeden Abend wieder und jedes Mal brachte es eine frisch getötete Schlange mit. Rica briet die Schlange dann über einem Feuer. Sie war keine gute Köchin. Wir lebten in der Zeit fast ausschließlich von diesem Fleisch. Nach und nach gewöhnten wir uns aneinander und da das Tier – ein Mungo, wie Rica damals schon wusste – immer ein lautes – Tik Tik – ausrief, wenn wir etwas für sie Unverständliches machten – und das war recht häufig – nannten wir sie Tikki."
Hier wischte er sich eine Träne aus den Augen.
„Ja", fuhr er dann fort. „Tikki ist nur bei mir, weil eine Kobra ihren gesamten Wurf getötet hat und weil ich versucht hatte, diesen zu beschützen. Na ja – irgendwann waren wir gestärkt genug um wieder aufzubrechen, und obwohl Rica es eigentlich für das Beste hielt, wenn Tikki im Dschungel geblieben wäre, wo sie hingehörte, bleib diese bei uns, selbst als wir eine Stadt erreichten. Danach zogen oder fuhren wir von Stadt zu Stadt, bettelten oder stahlen uns durchs Leben und immer wieder spürten wir, dass man uns verfolgte. Ab und an hörte ich sie auch. Dann rannten wir. Es gab auch andere Menschen, die uns einfangen wollten. Mal Polizisten, mal Menschenhändler, wenn die bemerkten, dass wir allein waren. Es gab aber auch viele, die uns halfen. Heute denke ich, dass einige uns – na ja – irgendwie für etwas Besonderes hielten. Rica sieht ja nun wirklich verschärft aus und ich denke ein blinder Junge, der mit einem Mungo redet, als könne der ihn verstehen, fällt bei einigen Leuten unter Dämon oder Heiliger. Keine Ahnung, aber als wir merkten, dass es hilft ab und zu etwas wunderlich zu sein, brachte dies uns ganz gut voran. Leider konnte man uns so auch gut folgen. Und so reisten wir immer weiter. Bangladesh, Burma, Thailand, Malaysia. Immer illegal. In Malaysia kamen sie uns dann richtig nah und hätte Tikki nicht einen von denen in die Hand gebissen, sie hätten zumindest mich erwischt. Da beschloss Rica, dass wir einen großen Sprung machen müssten und so gingen wir als blinde Passagiere an Bord eines japanischen Frachters. Wir wussten überhaupt nicht, wohin es ging. Leider reichten unsere Vorräte nicht lang genug und so musste Rica aus der Kombüse klauen. Der Koch an Bord bemerkte das jedoch und stellte dem vermeintlichen Dieb in der Crew eine Falle. Natürlich erwischte er Rica und da sie keine andere Wahl hatte, führte sie den Mann auch zu mir.
Doch zu unserem Erstaunen übergab er uns nicht dem Kapitän des Schiffes. Wie ich später erfuhr, weil er seinen Vorgesetzten und die Crew für – ähem – moralisch fragwürdig hielt. Er versteckte uns und da Rica begriff, dass wir irgendwann auch mal vertrauen müssten, erzählte sie ihm alles. Er glaubte uns und hatte Mitleid. Er schmuggelte uns durch den Zoll in Hongkong und brachte uns zu seinem Vater Ryu-san, der ein eigenes kleines Restaurant hatte und sich schon um die Tochter des Schiffkochs kümmerte. Ryu-san war nicht gerade begeistert darüber Illegale zu beherbergen, aber als wir versprachen zu arbeiten, ließ er uns in einem kleinen Zimmer über seinem Restaurant wohnen. Wie vorhin gesagt, in Hongkong fühlte ich mich zu Hause. Ryu-san schickte uns vormittags in die Schule und ab Mittag arbeiteten wir in seinem Restaurant. Außer montags, da hatten wir den Nachmittag frei, für Kino oder dergleichen. Vier Jahre blieben wir da und lebten ein relativ normales Leben. Wir lernten viel von Ryu-san und seiner Enkelin und hatten auch einiges zu lachen. Bis dann eines Tages Rica einfach umkippte und zuckend am Boden lag. Der Arzt, zu dem wir sie brachten, stellte einen Tumor im Kopf fest. Das Problem war nur, ohne Geld – keine Behandlung. Deshalb versuchten wir die Sachen zu verkaufen, die wir bei unserer Flucht mitgenommen hatten, und wie durch ein Wunder hatten wir plötzlich Unmengen Geld. Das haben wir aber nur Tikki zu verdanken, denn eigentlich wollte der Pfandleiher uns nur 500 Hongkongdollar für das eine Messer geben, doch Tikki war dagegen und nach einigem Hin und Her, sowie einer Versteigerung, hatten wir Geld wie Heu.
Leider half das überhaupt nicht, denn durch die Behandlung ging es Rica zwar besser, aber heilen konnte man sie nicht. Man sagte uns, die einzige Hoffnung für sie wäre ein Hospital in Irland, wo man eine neue Methode der Heilung ausprobierte.
Und so besorgten, sprich kauften, wir uns Ausweise, verabschiedeten uns von den Anamis und reisten über Australien nach Schottland und von da nach Irland. Wir gingen in die Klinik und mit finanzieller Überzeugungskraft wurde Rica in das experimentelle Programm zur Behandlung aufgenommen.
Doch durch das Geld und die Ausweise, die dummerweise auf unsere richtigen Namen ausgestellt waren, fanden uns unsere Verfolger wieder und sie fingen mich."
„Und dann?", fragte Winona gespannt, als Tarsuinn nicht weiter erzählte.
„Man hat mir seltsame Fragen gestellt", sagte er nach einer Weile. „Was ich träume? Ob ein fein geschliffener Stein vorkommt? Ob ich einen solchen Stein besitze? Woher ich den Mungo habe? Mit wem ich alles gesprochen habe? Wie die heißen? Und dann noch mehr über meine Träume. Ich glaub, die haben mir auch eine Wahrheitsdroge oder so was gegeben. Hat aber nicht gewirkt. Ich hab mich nur ein wenig müde gefühlt."
„Was sollten Muggel mit dem Stein wollen?", fragte Winona nachdenklich.
„Na ja – ein Stein, in dem ein Feuer brennt, ist nicht gerade gewöhnlich. Gerade für uns Muggel", entgegnete Tarsuinn.
„Ich weiß nicht", entgegnete das Mädchen. „Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, dass ein Zauberer oder eine Hexe hinter dir her sein könnte?"
Für einen Augenblick sah Toireasa den Jungen erbleichen, doch dann schüttelte er entschieden den Kopf.
„Vor einem Zauberer oder einer Hexe hätten wir doch niemals sieben – inzwischen fast acht – Jahre lang weglaufen können", sagte er. „Du weißt doch selbst, was für Mittel deine Eltern haben, um jemanden zu finden und zu fangen. Außerdem, als sie mich dann hatten, wie konnte ich dann aus dem Heim fliehen, in das sie mich gesteckt hatten?"
„Ich weiß zwar nicht, über was für einen Stein ihr redet…", mischte sich Toireasa ein, „…aber wenn ich jemanden nicht dazu bringen könnte mir zu sagen, wo er etwas versteckt hat, was ich haben will, dann lasse ich ihn unauffällig ausbüchsen und behalte ihn anschließend im Auge. Ich denke, das würde in vielen Fällen funktionieren."
Nachdem Toireasa ihre Theorie dargelegt hatte, herrschte betroffenes Schweigen. In Winonas Augen konnte sie tiefe Besorgnis sehen. Anscheinend teilte das Mädchen Toireasas Meinung.
„Aber warum hat mir dann niemand den Stein weggenommen?", zweifelte Tarsuinn und man sah ihm an, dass aus ihm ein wenig Angst sprach. „Ich hab ihn doch jetzt schon so lange."
„Vielleicht hat man das schon versucht. Du bist immer davon ausgegangen, dass die Wilde Jagd von diesem Sir Oliver geschickt wurde. Was aber, wenn nicht?"
Tarsuinn rollte frustriert mit den Augen.
„Das macht mir nicht gerade Mut", brummte er.
„Hier in Hogwarts kann dir nichts passieren!", beruhigte Winona. „Du solltest aber mit Professor Flitwick darüber reden."
„Muss ich wohl", antwortete der Junge nicht gerade begeistert. „Aber alles kann ich ihm nicht sagen. Er ist so verdammt ehrlich und wenn er glaubt, Rica und ich hätten das Geld gestohlen…! Die Behandlung kostet richtig viel."
„Wir reden dir da nicht rein", versprach Winona sofort. „Rica ist wichtiger als so was."
Toireasa nickte bestätigend. Sie kannte zwar Tarsuinns Schwester nicht persönlich, aber der Junge hatte sich ein paar Mal Keyx geliehen und da hatte Toireasa zum Dank immer einen kleinen, netten Brief von ihr erhalten.
„Wisst ihr was?", erhob sich Tarsuinn plötzlich. „Ich würde sagen, nächste Runde schwimmen ist angesagt. Wenn ich jetzt noch länger darüber nachdenke, ertränke ich mich gleich."
Das war natürlich der völlig falsche Ansatz, um Toireasa Mut zu machen, aber die folgende – sicher nicht ernst gemeinte – Drohung sie ins Wasser zu werfen, motivierte dann doch ausreichend.
Und so verbrachten sie den gesamten Rest des Tages. Schwimmen, Aufwärmen, Reden, Schwimmen. Bis am Abend Hagrid vorsichtig an die große Flügeltür klopfte und daran erinnerte, dass es oben warmes Essen gab und es seine Aufgabe war sicher zu gehen, dass abends die Tür hier unten an der Anlegestelle verschlossen war.
Toireasa begrüßte ihn als Retter und während des Abendessens verdrückte sie so viel Nahrung, wie niemals zuvor in ihrem Leben.
Danach plante sie eigentlich nur noch den Tag im Bett ausklingen zu lassen, doch dank Keyx wurde daraus nichts. Auf dem Weg hinunter in den Kerker fing ihre kleine Eule sie ab und übergab ihr, nach der üblichen Bestechung, einen Brief ohne Absender. Seit sie ihn wieder hatte, war Keyx deutlich anhänglicher geworden, als er vorher gewesen war. Sie verbarg den Brief, schlich sich in ihr Schlafzimmer und murmelte dort sie die geheimen Worte, die das Zaubersiegel brachen. Wie das Siegel sie schon hatte vermuten lassen, war es ein Brief ihrer Großeltern und bestand aus zwei Seiten.
Hallo Enkelin,
hier der Auszug aus der Familienchronik, der Dir so wichtig war, dass Du einen Kontakt riskierst. Bitte sei etwas vorsichtiger und nimm nächstes Mal eine unbekannte Schuleule. Ansonsten hoffen wir natürlich, es geht Dir gut. Wir zumindest können uns nicht beschweren, obwohl Deine Großväter schon kurz davor waren, Onkel Bob mitsamt Haus in die Luft zu sprengen oder wahlweise unter die Meeresoberfläche zu verlegen.
Ganz lieb,
alle Deine Großeltern
P.S.: Verbrenn diesen Brief vorsichtshalber!
Lächelnd nahm Toireasa das nächste Blatt zur Hand. Ihre Großmutter hatte sich kurz gefasst, da sie um Keyxs geringe Traglast wusste.
Marie-Ann Holt
Als Marie-Ann Holt im Jahre 1877 das Licht der Welt erblickte, waren sich alle einig, dieser Spross der Holts war zu Höherem bestimmt und auch eine herbeigerufene Seherin bestätigte dies. Noch im Säuglingsalter entwickelte sich ihre Zauberkraft und ihr Potential ließ voraussehen, dass dem Hause Holt eine segensreiche Zeit bevorstand.
Doch schon bald mussten die armen Eltern etwas Erschreckendes feststellen. Statt mit zunehmendem Alter und Kraft die Magie immer weiter zu beherrschen, stellte sich ein gegenteiliger Effekt ein, Marie-Ann verlor immer mehr die Kontrolle über ihre Fähigkeiten und im Alter von vier Jahren sahen sich die Eltern gezwungen, das Mädchen in einen feuerfesten Raum zu sperren, um sich und jeden um sie herum zu beschützen. Es wurde gar so schlimm, dass Ministeriumszauberer die Möglichkeit einer Auslöschung prüften. Doch Marie-Anns Eltern und das Glück verhinderten dies.
Am Tag vor der Prüfung bewarb sich eine junge Frau um die Stelle des Kindermädchens und nur wenige Stunden darauf bestand Marie-Ann die Prüfung des Ministeriums, ohne jemanden unabsichtlich anzugreifen, zu verletzen oder auch nur die kleinste Vase zu zerstören.
Nur wenige Tage später jedoch entdeckte man, dass es sich bei dem Kindermädchen um eine Hexe handelte, die versuchte Marie-Ann unter ihre Kontrolle zu bekommen und anscheinend plante, sie gar zu entführen. Sie wurde angeklagt und nach Askaban verbracht. Leider nahm dies nicht den Zauber von Marie-Ann, die seit diesem Tage all ihre Fröhlichkeit verlor und niemals das Haus verließ. Doch ihre Zauberkraft entwickelte sich in unglaublichen Maßen und so kam es, dass, als Marie-Ann Holt im Jahre 1888 nach Hogwarts ging, ihre Macht die eines jeden Schülers in den Schatten stellte. Mit dem Wissen der Schule war klar, sie würde die neue Morgana werden.
Wie wir heute wissen, erweckte dies den Neid unter den Schülern und Lehrern aller Häuser und man hieß sie nicht willkommen. Lehrer zollten ihr keine Anerkennung, Schüler hänselten und quälten sie. Niemand schien ihre Besonderheit zu erkennen oder akzeptieren zu wollen und so waren alle höchst erstaunt, als Marie-Ann Holt, noch im Jahr ihrer Einschulung, ihrem Leben mit einem giftigen Trank ein Ende setzte.
Bei den späteren Verhören berichteten Schüler und Lehrer einstimmig, dass Marie-Ann in der Schule oftmals übermüdet und mit rot geränderten Augen am Unterricht teilgenommen hätte, aber ein jeder bestritt, sie in den Tod getrieben zu haben.
Toireasa las den Brief noch einmal. Dann faltete sie ihn sorgsam zusammen und verließ doch noch einmal den Slytherin-Kerker. Tarsuinn hatte das Recht, dies auch zu lesen.
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