- Kapitel 30 -
Der Handschlag
Es dauerte eine Weile ehe sich Tikki beruhigt hatte. Man musste nicht empathisch begabt sein, um zu erkennen, dass sie diesmal wirklich wütend auf ihn war. Zu Recht, wie er eingestehen musste. Vorausgesetzt er bildete sich nicht ein, was er eben zu verstehen glaubte. Noch nie hatten Tikkis Laute derart präzisen Sinn in seinem Verstand geformt. Er glaubte zu verstehen, dass er mit seinem Auftauchen einen Kampf zu ihren Gunsten in eine Situation verwandelt hatte, in der es ein Wunder war, dass sie beide überlebt hatten. Normalerweise hätte er dieses extreme Verständnis auf seine augenblickliche Erregung geschoben, wenn nicht noch etwas gewesen wäre.
Mitten in Tikkis Kampf, als er bewegungslos am Boden gelegen hatte und eine der Schlangen auf ihn zugekommen war, da hatte er alles genau sehen können. Nicht aus seiner Sicht, aber aus der von Tikki. Erst dies und ein wenig sein Gehör, hatte ihn das Messer so genau führen lassen. Diese Bilder hatten ihn bis zum Ende des Kampfes begleitet und waren zeitweise mehr störend als hilfreich gewesen, da Tikki natürlich nicht unbedingt immer geradeaus geschaut hatte. Vor allem, als sie nach ihrem missglückten Angriff gegen die Wand geschlagen wurde. Er hatte mit Macht ihre Sicht aus seinem Kopf drängen müssen, um ihr überhaupt helfen zu können.
Nun aber – wo er sich nichts sehnlicher wünschte, als noch einmal durch ihre Augen sehen zu können – passierte nichts. Seine Welt war wieder schwarz.
Trotzdem war er nicht so dumm, wie Tikki ihm eben vorwarf.
Nachdem Flitwick die gute Nachricht über die Vernichtung des Monsters – einem Basilisken – durch Harry Potter und Ron Weasley kundgetan hatte und auch, dass der Schuldige gefunden und bestraft worden war, waren sie alle zu einer Pyjama-Party in die Große Halle eingeladen worden. Erst auf dem Weg nach unten hatten einige ältere Schüler ihm erklärt, was ein Basilisk für ein Tier war. Eine riesige Giftschlange, deren Blick töten konnte, geboren aus einem Hühnerei und ausgebrütet von einer Kröte. Diese Berichte hatten ihn aufgeschreckt, da er Tikkis unversöhnlichen Hass auf Schlangen kannte. Deshalb hatte er es auch nie gewagt mit ihr in einen Zoo zu gehen. Außerdem fürchtete er immer, irgendwann einmal würde sie eine Schlange treffen, die besser war als sie. Aus diesem Grund hatte er extreme Angst um sie bekommen, war mit einer fadenscheinigen Ausrede umgedreht, hatte sich andere Sachen angezogen, das Messer umgeschnallt, den Zauberstab eingesteckt – warum auch immer – und war auf die Suche nach ihr gegangen. Die Information, dass der Eingang zur Kammer im zweiten Stock in einem Mädchenklo liegen sollte, war dabei recht hilfreich gewesen. Glücklicherweise hatte jemand vergessen den Eingang zu verschließen. In seinen düsteren Phantasien hatte der Basilisk Tikki getötet, bevor Harry Potter diesen und den Erben besiegte. Er hatte einfach nicht mehr damit gerechnet, dass noch Gefahr durch Basilisken bestand.
Jetzt – im Nachhinein natürlich – war es einfach logisch. Toireasa hatte Salazar Slytherin einmal als genialen, visionären Zauberer beschrieben, der mit zunehmendem Alter verrückt geworden war, wobei er jedoch immer noch genial blieb. Für so einen Menschen war es sicher völlig normal, weit über seinen Tod hinaus zu planen und was nutzte schon ein Monster, wenn dieses an Altersschwäche verreckt war, wenn der Erbe eintraf. Also hatte er anscheinend für einen gewissen Fortbestand der Art gesorgt. Natürlich konnte es auch sein, dass der Erbe für Nachwuchs gesorgt hatte. Schließlich hätte er sicher mit mehr Basilisken die gesamte Schule nach seinem Willen säubern können. So weit er verstanden hatte, war es selbst für voll ausgebildete Zauberer und Hexen nicht einfach, ein solches Tier zur Strecke zu bringen.
Tikkis Tirade hatte noch immer kein Ende gefunden und ihre scharfen, kleinen Zähne setzten seinen Händen langsam zu. Er hatte ja verstanden. Wäre er nicht blind gewesen, wäre er jetzt tot.
„Aber ich hatte solche Angst um dich, als man uns das von dem Basilisken erzählte", versuchte er sie zu besänftigen.
Sie hörte mit der Standpauke empört auf, dann spürte er ihre nasse Nase in seinem Gesicht und dann fuhr ihre Zunge sanft über seine Wunden.
Das mochte nicht sonderlich hygienisch sein und Madame Pomfrey hätte vor Entsetzen wahrscheinlich laut aufgeschrieen, doch im Moment war ihm das reichlich egal. Tikkis Zorn schien halbwegs verraucht zu sein und nur das zählte. Liebevoll streichelte er sie mit den noch immer schmerzenden Händen, ließ das aber rasch sein, als er spürte, wie sie bei seiner Berührung zusammenzuckte. So ganz unbeschadet schien auch sie nicht geblieben zu sein, wenn sie auch nicht zu bluten schien.
Vorsichtig barg er sie in seinen Armen, dann erhob er sich ächzend. Er hoffte, Madame Pomfrey würde ihn nicht so sehen, denn wenn sie ihn jetzt fragte, wo es alles wehtat, konnte das eine sehr lange Beschreibung werden. Außerdem hatte er keine Lust im Krankenflügel zu landen. Nicht heute!
Sorgsam darauf bedacht niemandem über den Weg zu laufen, schlich er sich hoch in den Ravenclaw-Turm, der zum Glück vollkommen leer war. Er duschte sich, reinigte die Schnitte so gut er konnte, klebte sie mit Doc Cutters alle Bagatellen heilendes Wundpflaster ab und warf sich dann in einen langärmligen Schlafanzug. Er hoffte, niemand würde fragen, wer den Erste-Hilfe-Kasten so geplündert hatte. Die einzigen sichtbaren Pflaster waren auf seiner Stirn und den Händen und für die würde er sich schon eine plausible Lüge einfallen lassen. Die reichlich zerfetzten und blutigen Sachen, die er in der Kammer angehabt hatte, packte er in einen Beutel und versteckte diesen ganz tief in seinem Rucksack. Bis zum Ende des Schuljahres würden die restlichen Kleidungsstücke schon ausreichen, solange er nicht noch mehr verschliss.
Dann ging er mit Tikki auf dem Arm hinunter zur Großen Halle, als wäre nichts passiert.
Schon von weitem konnte er die ausgelassene Stimmung fühlen. Das gesamte Schloss schien sich in dieser Beziehung geändert zu haben. Selbst die Rüstungen klapperten irgendwie fröhlicher.
„Wo zur Hölle bist du gewesen und warum das Pflaster?", fuhr ihn Winona an, als er sich an den Ravenclaw-Tisch setzte. Alle seine Freunde aus Ravenclaw – plus Toireasa – waren da.
„Tikki musste unbedingt im Wald fangen spielen", log Tarsuinn hemmungslos und schob damit alle Verantwortung von sich. „Und dabei bin ich recht unsanft hingefallen."
„Du weißt doch, du sollst nicht allein in den Wald gehen. Obwohl, ist jetzt auch egal!", sagte plötzlich eine vertraute, aber lange nicht mehr gehörte Stimme.
Penelope stand direkt hinter ihm. Dann ging sie wieder weg.
„Ähem – hab ich was verpasst?", fragte er erschrocken und runzelte verwundert die Stirn. Keine Standpauke? Keine Meldung bei Professor Flitwick?
„Das war doch eben Penelope, oder?", vergewisserte er sich.
„Wie sie leibt und wieder lebt", lachte Alec. „Sie erlebt heut ein Wechselbad der Gefühle."
„Inwiefern? Ich hätte eigentlich erwartet, sie würde sich freuen wieder voll beweglich zu sein."
„Das war sie auch. Und sie ist fast durch den Saal getanzt, als sie sah, dass Ravenclaw die Wertung um den Hauspokal vor Gryffindor anführt. Bis dann Professor Dumbledore die Punkte für Potter und Weasley bekannt gab und die Prüfungen für dieses Jahr abgesagt wurden", erklärte Alec amüsiert.
„Ich glaube, sie ist fast in Tränen ausgebrochen", kommentierte Cassandra etwas ernster.
„Keine Prüfungen?", fragte Tarsuinn entsetzt.
„Jetzt fang du nicht auch noch an", sagte Merton vorwurfsvoll. „Wer Prüfungen liebt, sollte nen eigenen Strebertisch bekommen!"
Tarsuinn wollte ihm zunächst sagen, dass die Prüfung ein Teil des Vertrages war, den er erfüllen musste, um in Hogwarts bleiben zu dürfen, doch er wollte nicht die fröhliche Stimmung mit seinen persönlichen Problemen verderben.
„Keine Sorge", versprach er deshalb grinsend. „Ich wollt nur Snape was Besonderes mixen und hatte mich schon so drauf gefreut."
„Und was?", fragte Merton sofort begeistert. Der Junge liebte es noch immer, mehr oder weniger harmlose Späße zu treiben.
„Verrat ich nicht", meinte Tarsuinn geheimnisvoll. „Kann ja sein, dass ich es nächstes Jahr brauche."
Diese Behauptung war zwar überoptimistisch, aber es brachte die anderen dazu sich auszumalen, was man Snape so alles Lustiges antun konnte. Tarsuinn machte sich geistige Notizen. Nur für den Fall des Falles. Man musste ja auf alles vorbereitet sein.
Schließlich geschahen Wunder, wie der heutige Abend ja bewies.
Tarsuinn genoss diese Nacht des Feierns, wie fast jeder hier auch. Laut Toireasa gab es einige Slytherins, die nicht so begeistert waren, wobei sie jedoch betonte, dass dies bei weitem nicht für alle zutraf.
Doch kein Ravenclaw ließ sich davon die Stimmung verderben. Nicht mal Alec verfiel in seinen typischen Slytherinhass.
Als dann auch noch gegen Morgen Hagrid wieder auftauchte, war die Feier perfekt. Sein dröhnendes Lachen hatte Tarsuinn vermisst.
Später, als die Sonne aufging, saßen nur noch Winona, Toireasa und Tarsuinn am Tisch. Sie waren zwar hundemüde, aber ins Bett wollten sie auch nicht. Es wäre sicher anders gewesen, wenn Toireasa auch zu seinem Haus gehört hätte, nur da sie Slytherin war, mussten sie hier bleiben. Sie saßen nebeneinander auf dem Tisch, mit den Füßen auf der Bank, und amüsierten sich über das leise Schnarchen einiger Mitschüler, die es nicht mehr bis zu ihrem Bett geschafft hatten. Sie lehnten sich zurück und ließen sich die warme Morgensonne auf die Gesichter scheinen. Tikki schlief schon lange zusammengerollt auf seinem Schoß.
„Ich wünschte, wir könnten in einem Jahr wieder genauso hier zusammensitzen", sagte Winona leise.
„Wir werden!", meinte Toireasa trotzig.
Tarsuinn sagte nichts.
„Du musst auch was Positives dazu beitragen!", verlangte Winona nach einer Weile von ihm.
Tarsuinn dachte angestrengt nach.
„Ich hab eine Idee, wie wir Toireasas Eltern ärgern können, ohne es zu übertreiben", antwortete er und verkniff sich ein Lachen.
„Das meinte ich eigentlich nicht!", erklärte Winona.
„Heh – das ist der beste und witzigste Plan, den ich im Moment habe", beklagte er sich ironisch.
„Okay – rück damit raus", gab sie klein bei. „Ich schätze, zu einem Vereint-bis-in-den-Tod-Schwur kann ich dich nicht überzeugen."
„In drei Monaten vielleicht", versprach Tarsuinn und diesmal fiel es ihm schwer zu lächeln. „Aber erst mal dachte ich, wir gönnen Toireasa ein wenig Spaß."
„Und wie?", fragte nun diese interessiert.
„Damit!", sagte er und holte etwas aus seiner Schlafanzugtasche, was er schon den ganzen Abend mit sich herumtrug.
„Leeres Briefpapier und Umschläge?", fragte Winona verwirrt und nahm ihm das Papier ab.
„Kein normales Briefpapier!", grinste jetzt Tarsuinn verschwörerisch.
„Kein normales…?", sann Toireasa und er hörte, wie sie das Papier aus Winonas Händen nahm.
„Ich kenne das", rief sie aus. „Darauf schreibt man Heuler!"
„Genau", bestätigte er. „Hast du dir nicht schon immer gewünscht Onkel Bob etwas mit deinen Antworten zu erfreuen? Steht nicht irgendwann demnächst eine Familienfeier oder so was an?"
„Das ist verrückt!", stammelte Toireasa.
„Das ist genial!", korrigierte Winona begeistert. „Lass uns Heuler schreiben. Nach allem, was du über deinen Onkel erzählt hast, können wir ihn so gerechtfertigt mit Dreck bewerfen, dass ihm Hören und Sehen vergeht."
„Aber meine Stiefeltern…", gab Toireasa zu bedenken, doch er hörte kaum Widerstand gegen die Idee in ihrem Ton. Eher einen gewissen Rachedurst.
„Natürlich solltest du vorher deine Großeltern befragen", schränkte Tarsuinn ein.
„Ich denke…", fügte Winona hinzu „…wenn man die Briefe gut formuliert, dann können sie sehr helfen. Wir machen damit im Grunde nichts anderes als deine Stiefeltern. Sie benutzen deinen Onkel um dich fertig zu machen, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Zahl das ihnen doch mit derselben Münze heim."
„Aber bin ich dann nicht wie sie?", zögerte Toireasa noch immer.
„Du hast nicht angefangen!", sagte Winona ihre Meinung. „Außerdem ist es die einzige Möglichkeit, deine Stiefeltern über die Entfernung zur Weißglut zu treiben, ohne sie direkt anzusprechen."
„Man schafft es nicht bei solchen Sachen sauber zu bleiben", formulierte Tarsuinn hart. „Du kannst nicht auf alle Möglichkeiten verzichten, nur weil ein Gegner sie benutzt. Man muss nur eine klare Grenze ziehen, wie weit man zu gehen gedenkt, und die niemals überschreiten."
„Ich geb ja zu, verführerisch wäre es schon", gab Toireasa endlich zu. „Aber danach bin ich tot, wenn ich nach Hause fahre."
„Waren wir uns nicht einig, dass du hier bleibst?", runzelte Tarsuinn die Stirn.
„Aber das wie…?", sagte sie zögerlich.
„Ganz einfach. Du packst zwei Koffer. Einer wird normal verladen. Winona und ich tun alles was nötig ist, um den Anschein zu erwecken, du wärst schon im Zug. Du versteckst dich im Schloss oder bei Hagrid."
„Ich will Hagrid nicht in Schwierigkeiten bringen", warf Toireasa ein.
„Okay – dann halt im Schloss oder irgendwo in der Nähe", schränkte er ein. „Es muss nur reichen, bis wir weg sind. Dann gehst du runter nach Hogsmeade zu Madame Rosmerta und fragst sie, ob du auf Kredit bei ihr wohnen kannst."
„Und wenn sie nein sagt?"
„Wird sie nicht", freute er sich überlegen. „Irgendwer hat schon für dich gebürgt. Aber offiziell lässt sie dich auf Vertrauen bei sich nächtigen."
„Ich will nicht, dass du…", fuhr Toireasa ihn kraftlos an.
„Hab ich nicht", grinste er. Da Winona ihm gesagt hatte, dass man sich ungern von jemandem Geld borgte, hatten sie vorgeplant. „Keine Sorge. Wir haben deine Großeltern um ein Darlehen für Winona gebeten. Mit Schuldschein und allem."
„Sie sind echt vertrauensselig", fügte Winona hinzu. „Sie haben überhaupt nicht gefragt wofür."
„Ihr habt Geldwäscherei betrieben!", bemerkte Toireasa erstaunt.
„Uns war langweilig in unserem Turm", grinste Tarsuinn schelmisch. „Und da haben wir uns mit deinem Problem beschäftigt."
„Schließlich waren wir erst mal mit Tarsuinns und meinem durch", ergänzte Winona amüsiert.
„Man darf euch nicht allein lassen", merkte Toireasa ernst an. „Was, wenn man euch dazu befragt?"
„Dann lügen wir", antwortete Winona einfach.
„Und wenn sie Magie einsetzen?", beharrte Toireasa.
„Dann haben sie eh alles schon von dir erfahren", amüsierte sich Tarsuinn noch immer. „Denn wenn sie wirklich so weit gehen, dann bist du als erste dran."
„Da hast du auch wieder Recht", gab sie schließlich zu. „Weiß Professor Flitwick davon?"
Tarsuinn schüttelte den Kopf.
„Besser nicht. So muss er nicht lügen. Deshalb lassen deine Großeltern dich auch über uns grüßen."
„Wie geht es ihnen denn? Das Einzige, was ich seit dem einen Brief von ihnen sehe, sind die Päckchen, die sie meinen Stiefbrüdern schicken", beschwerte sich Toireasa traurig.
„Dein Großvater meint, ohne Wasserbomben oder Ähnliches wären es keine Päckchen der Liebe. Du sollst dich nicht grämen", tröstete Winona.
„Aber warum immer nur die Sachen, die mir besonders schmecken würden?"
„Alles Tarnung. Du kannst dir sicher vorstellen, was deine Stiefbrüder in ihren Briefen dann schreiben."
„Es tut trotzdem weh", meinte Toireasa traurig.
Sie tat Tarsuinn leid. Winona und er, sie konnten sich auf ihre Anverwandten verlassen, doch das Mädchen musste sich ziemlich verloren fühlen.
„Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt gleich den ersten Heuler schreiben", versuchte er abzulenken. „Komm schon, Toireasa! Du musst doch irgendwelche peinlichen Geschichten kennen, die man verwenden kann. Das ist dein Gott gegebenes Recht als Slytherin, dies jetzt auszunutzen."
„Wenn man dich so hört, sollten wir vielleicht die Häuser tauschen", knurrte Toireasa, doch sie klang ein wenig fröhlicher. „Also da war mal was…"
Vier Tage später brüllte ein Heuler von Onkel Bob quer über alle Frühstückstische. Tarsuinn krümmte sich vor Lachen (mit den Händen auf den Ohren) unter dem Tisch, als die – sich vor Wut überschlagende – Stimme Toireasa verbot, ihr jemals wieder einen Heuler ins Haus zu schicken.
Noch am gleichen Tag nahmen sie Onkel Bob daraufhin beim Wort und schickten ihm den nächsten zu seiner Arbeitsstelle. Nicht, dass sie das Verbot wirklich ernst nahmen, aber so war es einfach lustiger.
Schon am übernächsten Tag kam die sehnsüchtig erwartete Antwort. Sie war ähnlich lustig und bot wieder Ansatzpunkte für weitere versteckte Beleidigungen.
Und so ging das zwei Wochen. Alle zwei bis drei Tage ein Heuler am Frühstückstisch und zur Verwunderung von Tarsuinn bekam Toireasa so etwas wie Respekt bei einigen ihrer Hausgenossen. Er schnappte einiges Kichern und das Wort „Heulerkrieg" auf.
Dann schaffte Toireasa es auch noch die rothaarigen und berüchtigten Weasley-Zwillinge davon zu überzeugen (oder hatten sie es angeboten?), dass sie auch einen Heuler an Onkel Bob schrieben, in dem sie sich über die morgendliche Ruhestörung beschwerten.
Am Ende der zweiten Woche verbot Professor Snape dann Toireasa weiter das zu tun, was auch immer ihren Onkel so aufbrachte und sie hielten sich lieber daran.
Das nahm ihnen aber nicht die Freude an dem schönen Frühsommer und es gab genug andere Sachen zu tun, die nicht Professor Snapes Missfallen erregten. Die beiden Mädchen paukten mit Tarsuinn intensiv jedes einzelne Fach, da für ihn die Prüfungen doch nicht abgesagt waren. Das hatte zwar keinerlei Zweck solange er nicht zaubern konnte, aber aus irgendeinem Grund waren alle – einschließlich Tikki – davon überzeugt, dass es nötig wäre. Doch dank des Wegfalls der Stunden in Verteidigung gegen die Dunklen Künste hatten sie genug Zeit dafür.
Er selbst rächte sich dafür an Toireasa, indem er sie ständig zum Schwimmen einlud. Inzwischen konnte sie das auch ohne Schwimmgürtel, aber noch immer war sie nicht zum Tauchen zu bewegen. Und so richtig gern ging sie auch nicht ins Wasser. Nur der Hinweis auf seine eigenen Lernqualen brachte sie dazu nicht zu kneifen.
Dafür fiel es ihm immer schwerer eine fröhliche Maske zu tragen. Ricas Briefe wurden immer kürzer und die Handschrift zittrig. Inzwischen hatte er schon Angst, er würde sie überhaupt nicht mehr lebend wieder sehen, und einige Male war er kurz davor auszubüchsen. Doch jedes Mal, wenn er diesen Gedanken hatte, nahm er sich einen ihrer Briefe zur Hand und las die Zeilen, mit denen sie immer schloss.
Bleib in Hogwarts. Hör auf Tikki und Professor Flitwick! Wir werden uns wieder sehen – ich verspreche es.
Er glaubte nicht mehr an ein gutes Ende, auch wenn er in seinen Briefen und vor seinen Freunden etwas anderes behauptete.
Eine Woche vor Schulende wurde er dann zu Professor Flitwick gerufen.
Schon als er mit Tikki auf der Schulter hereinkam, wusste er, dass der kleine Hauslehrer Besuch von außerhalb hatte.
„Guten Tag, Professor", begrüßte Tarsuinn ihn höflich, nachdem er ins Büro gerufen worden war und vergaß auch den Besuch nicht. „Guten Tag, Sir."
Ein kurzes Lachen war die Antwort.
„Du hattest Recht, Filius", sprach der Gast den Professor vertraulich an. „Schon erstaunlich."
Dann wandte sich der unbekannte Mann direkt an Tarsuinn.
„Ich freue mich dich kennen zu lernen, Tarsuinn", sagte er in freundlichem Ton. „Mein Name ist Wardell Blissiev."
Tarsuinn streckte die Hand aus und sofort wurde sie durch eine raue Hand ergriffen und kräftig geschüttelt.
„Mr Blissiev ist vom Ministerium geschickt, Mr McNamara", erklärte Professor Flitwick ernst. „Er wird sich um Ihr Gedächtnis kümmern."
„Jetzt?!", brach es entsetzt aus Tarsuinn heraus. „Ich dachte…ich hab doch eigentlich noch bis September.
„Die Zeit hast du auch", beruhigte Blissiev sofort. „Ich bin nur hier, weil Filius mich darum gebeten und nicht, weil mich das Ministerium geschickt hat."
„Und was wollen Sie dann von mir?", fragte Tarsuinn unfreundlich.
„Nun – soweit ich das verstanden habe kann es passieren, dass ich im September deine Erinnerungen für ein Jahr verändern muss. Das ist kein Kinderspiel und ganz sicher kein einfaches Handwedeln, wie es sich die Mitarbeiter des Unfall-Umkehr-Kommandos leisten können. Ein ganzes Jahr muss passen, darf keine Widersprüche enthalten und darf auch nicht deinem Charakter zuwider laufen. Es könnte sonst zu negativen Auswirkungen für dein zukünftiges Leben kommen. Psychosen und so weiter."
„Ist mir relativ egal", entgegnete Tarsuinn schulterzuckend.
„Das ist keine gute Einstellung", tadelte der Mann vom Ministerium, aber er schien nicht böse zu sein. „Du solltest dir bis September nur ein paar Gedanken machen, was du erlebt haben möchtest. Wenn du schon Erinnerungen verlieren musst, dann können wir doch dafür sorgen, dass du einen gewissen Gegenwert dafür bekommst."
Auch das war Tarsuinn völlig egal. Er konnte sich nichts vorstellen, was sein Jahr in Hogwarts ersetzen konnte.
„Es wird nicht echt sein!", sagte er aber nur.
„Es wird so echt wie jede Erinnerung sein", korrigierte Mr Blissiev. „Davon kannst du ausgehen."
„Dann löschen Sie doch meine Träume", fiel Tarsuinn plötzlich ein. „Wenn Sie mir wirklich etwas Gutes tun wollen, dann machen Sie das!"
Wieder lachte der Besucher.
„Du kennst ihn wirklich gut, Filius."
„Machen Sie es?", hoffte Tarsuinn.
„Ich kann es versuchen, wenn es soweit kommen sollte", sagte der Mann, aber seine Stimme klang zweifelnd. „Aber so etwas geht tiefer und ist schwieriger als alles andere. Vor allem muss es in die Erinnerungen passen."
„Warum sind Sie dann hier?", fragte Tarsuinn abweisend. „Das alles hätte auch Professor Flitwick mir mitteilen können!"
„Und er ist auch genauso grausam offen, wie du sagtest, Filius", kommentierte Mr Blissiev immer noch amüsiert.
„Mr Blissiev ist hier, um mögliche Komplikationen auszuschließen", erklärte Professor Flitwick in tadelndem Ton. „Immerhin ist Professor Snape der Überzeugung, dass Sie nicht ganz richtig im Kopf sind."
„Er ist nur sauer, weil ich ihn aus meinem Kopf geschmissen hab!", entgegnete Tarsuinn feindselig. Die Erinnerung an sein erstes Gespräch mit Snape war nicht sonderlich begeisternd.
„Also hat da Filius nicht geflunkert?", erkundigte sich Blissiev interessiert. „Du hast einem Legilimens Zauber widerstanden?"
„Nein", widersprach Tarsuinn. „Er konnte meine Erinnerungen lesen."
„Na – soweit ich das gehört habe, nicht sonderlich lange."
Tarsuinn zuckte nur mit den Schultern. Die Bewunderung in der Stimme des Mannes irritierte ihn ein wenig.
„Aber genau deshalb bin ich hier", fuhr der Mann fort, als Tarsuinn nicht antwortete. „Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du mir erlauben würdest einen kleinen Test zu machen, damit es später keine unvorhergesehenen Probleme gibt."
Tarsuinn war nicht begeistert von diesem Vorschlag. Zwar hatte er sich verpflichtet, dass man sein Gedächtnis verändern durfte – und er wusste inzwischen, wie sinnlos es war wegzulaufen – aber einfach musste er es den anderen dann auch nicht machen.
„Nein", sagte er einfach. „Ich werde es nicht erlauben."
„Sei nicht dumm, Junge", versuchte der Mann ihn zu überzeugen. „Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert."
„Na, dann strengen Sie sich mal an, Sir", wehrte Tarsuinn störrisch ab.
„McNamara!", tadelte Professor Flitwick sofort. „Mr Blissiev ist hier um Ihnen zu helfen."
„Es fällt mir schwer, das zu erkennen, Sir", formulierte Tarsuinn zynisch. „Wenn es Sie nicht stört, würde ich Sie gern allein über meine letztjährige Vergangenheit diskutieren lassen."
Er drehte sich zur Tür.
„Ich brauche Vorbereitungszeit, um den Grund für deine Träume entfernen zu können", versuchte ihn Mr Blissiev zurückzuhalten. Tarsuinn hielt die Hand auf der Türklinke, drückte sie aber nicht herunter.
„Wie lange vorher?", fragte er. Die Chance seine Träume loszuwerden, war einfach zu verführerisch.
„Mindestens zehn Tage", erklärte der Mann ernst.
„Dann treffen Sie mich irgendwann ab Mitte August und dann können Sie in meinem Gehirn herumforschen. Aber nicht vorher. Auf Wiedersehen bis dahin."
Unhöflich verließ er den Raum und schloss die Tür. Durch das schwere Holz hörte er Flitwick noch etwas sagen.
„Hab ich es dir nicht gesagt, Wardell?"
Tarsuinn ging weg. Mochte ja sein, dass er selbst keine Hoffnung mehr hatte, aber dass Flitwick schon seinen Erinnerungsverdreher bestellte, tat doch weh. Und dass es um nette Erinnerungen ging, war einfach nur armselig. Flitwick kannte ihn nicht gut genug.
Mit hängendem Kopf schlich er durch die Gänge. Tikki war unverhältnismäßig still. Normalerweise tadelte sie ihn oder sprach ihm gut zu, aber es war nicht ihre Art etwas unkommentiert zu lassen.
„Warten Sie, Mr McNamara", erklang Professor Flitwicks Stimme hinter ihm. Tarsuinn blies frustriert die Luft aus seinen Lungen. Er wusste ja, dass er sich absolut unmöglich benommen hatte, das musste ihm der Professor jetzt nicht noch unter die Nase reiben.
„Ja, Professor?", wandte sich Tarsuinn ihm zu.
„Kommen Sie, wir gehen ein paar Schritte."
Ein solches Angebot konnte man kaum ablehnen.
„Ja, Professor", stimmte er wohl oder übel zu.
Der kleine Mann führte ihn wortlos aus dem Schloss und hinunter ins, im Moment leere, Quidditch-Stadion. Dort setzte er sich auf eine Bank.
„Ich hörte, die Darkclouds und Lovegoods haben angeboten, sich in den Ferien um Sie zu kümmern?", fragte der Professor freundlich und völlig am erwarteten Thema vorbei.
„Ja", bestätigte Tarsuinn. „Sie bringen mich auch zu Rica."
„Ich würde es begrüßen, wenn Sie auch eine gewisse Zeit woanders verbringen würden."
Wo denn? Im Knast? Tarsuinn wartete diesmal lieber auf die Antwort, statt eine dumme und eventuell beleidigende Frage zu stellen.
„Ihre Schwester hat mich gebeten, Sie einer Pflegefamilie vorzustellen. Sind sehr nette Muggel", fuhr der Professor schließlich fort. „Sie würden Sie gern kennen lernen."
„Ich aber nicht."
„Seien Sie nicht so stur, McNamara", sagte der Professor sanft. „Es bringt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken, wenn einem die Zukunft nicht gefällt. Sie haben sich keinen Gedanken über den September hinaus gemacht, nicht wahr?"
„Noch nicht", gab Tarsuinn zu. Er wollte es auch gar nicht. Im Gegenteil, er vermied normalerweise jeden Gedanken daran.
„Ich weiß, ich hab kaum das Recht, jetzt irgendetwas zu erzählen. Von wegen das Leben geht weiter oder die Hoffnung stirbt zuletzt. Doch wenn Sie meine Meinung hören wollen, es wäre eine Schande, wenn Sie Ihr Leben als beendet betrachten und es wegwerfen."
„Warum nicht?", fragte Tarsuinn traurig. „Ich verliere bis auf Tikki alles was ich habe. Meine Schwester, meine Freunde, Hogwarts. Was bleibt da noch groß?"
„Die Erinnerung an eine mutige Frau und mehr. Schon einmal dran gedacht, dass Sie zwar ein paar Erinnerungen verlieren werden, aber nicht ihre Freunde? Interessiert es Sie nicht, dass Ihre mögliche Pflegefamilie ganz in der Nähe der Darkclouds wohnt? Was glauben Sie, wen wird ein gewisses Mädchen in ihren Sommerferien ganz zufällig kennen lernen?"
Damit mochte der Professor nicht so falsch liegen, aber ein Jahr in Hogwarts und Winona würde neue Freunde haben. Sie würde ihn langsam vergessen. Er selbst konnte sich ja auch kaum an seine Bekanntschaften erinnern, die er in Asien gemacht hatte. Wenn man mal von einem Koch und seiner Enkelin absah.
„Was sind das für Leute?", fragte er, eher aus Höflichkeit.
„Wer, die Pflegefamilie? Es sind, wie schon gesagt, nette Leute. Können leider keine eigenen Kinder haben."
„Woher kennen Sie sie?"
„Sie – das sind Franklin und Heather Rutherford. Nun, die beiden haben vor einigen Jahren einen verletzten Zauberer – nein, nicht mich, aber jemanden, der mir nahe stand – auf der Straße gefunden. Sie haben ihm geholfen und auch versteckt, weil dieser sie darum bat. Einfach so, obwohl sie sich gar nicht sicher sein konnten, wen sie da zu sich aufnahmen.
Daraus ist eine Freundschaft entstanden und ich besuche sie häufiger, wenn ich Zeit habe. Natürlich in anderer Gestalt, damit sie nicht misstrauisch werden."
„Es gibt auch kleinwüchsige Menschen in der Muggelwelt", erklärte Tarsuinn.
„Schon, aber die sehen anders aus", entgegnete Flitwick. „Außerdem wäre es sehr schwer zu erklären, warum ich plötzlich in einer anderen Gestalt auftauche, wenn sie mich doch als groß gewachsenen, blonden Mann in der Blüte seiner Jahre kennen."
„Nachdem was man mir erzählt hat, sind die aber schon ein paar Jahre vorbei", sagte Tarsuinn schmunzelnd.
„Nun höre sich jemand diesen vorlauten Jungen an", kicherte Flitwick. „Kein Wunder, dass Professor Snape so begeistert von Ihnen ist. Na, wenigstens schaffen Sie es doch noch ab und an die Mundwinkel nach oben zu ziehen."
Wie konnte er auch anders. Professor Flitwicks fröhliche Art war einfach ansteckend. Obwohl sich eigentlich nichts geändert hatte, fühlte er sich etwas besser.
„Was ist, wenn ich sie nicht mag? Ich meine die Rutherfords natürlich!"
„Dann kann man immer noch was arrangieren, aber ich bin sicher, Sie werden gut miteinander auskommen."
„Und ist Wardell Blissiev auch ein netter Mensch?", wollte Tarsuinn wissen.
„Meiner Meinung nach ja!"
„Ist er noch da?"
„Er erwartet uns in meinem Büro. Gehen wir zu ihm?"
„Ja! Aber ich schätze, das wussten Sie schon."
„Diesmal nicht", lachte Flitwick hell auf. „Nur, dass Sie ein außergewöhnliches Gehör haben, das wusste ich."
Wardell Blissiev blieb länger als einen Tag. Drei Tage lang musste Tarsuinn zu ihm und seine Erinnerungen zur Verfügung stellen. Doch es war für ihn gar nicht so schlimm, wie damals bei Professor Snape. Mr Blissiev war sehr vorsichtig und hielt sich von geheimen Gedanken fern. Dafür musste Tarsuinn zugeben, setzte er, ohne es zu wollen, dem Mann ziemlich heftig zu. Nie schaffte Tarsuinn es länger als ein paar Minuten Blissiev in seinem Kopf zuzulassen und im Geheimen bedauerte er das nicht.
Trotzdem war Blissiev der Ansicht Fortschritte gemacht zu haben, als er ging. Tarsuinn glaubte es nicht. Im Gegenteil – er war der Ansicht, dass er selbst viel mehr gelernt hatte, um jemanden aus seinem Kopf auszusperren. Ein paar Bilder aus seinen Träumen und schon flog der fremde Geist aus ihm heraus. Das war zwar für ihn recht schmerzhaft, aber für den Eindringling anscheinend noch mehr.
Und dann kam der letzte Schultag. Alle Lehrer hatten sich für diesen Tag in ihrem Unterricht etwas Lustiges oder Interessantes einfallen lassen. Professor Flitwick hatte eine Art Schaumgummibälle besorgt, die in einem Schauer aus Schleim explodierten, wenn sie einen Menschen berührten. Mittels des Levitationszaubers versuchten alle Erstklässler sich gegenseitig möglichst umfangreich einzuschleimen. Es war eine lustige Angelegenheit, trotz Kosloff und ihrer Bande. Schließlich störte es überhaupt nicht zu verlieren. Der Schleim fühlte sich zwar eklig an, schmeckte ansonsten aber hervorragend. Tarsuinn bekam sicher die dreifache Ladung ab und kam aus dem Lachen kaum heraus, da Tikki einfach nur noch ein wandelnder und mies gelaunter Schleimhaufen war. In Sachen Fell und Verschmutzung verstand sie kaum Spaß.
Danach in Kräuterkunde hatte Professor Sprout eine Art Trampolin aus Schlingpflanzen wachsen lassen und ein klebriges, weiches Moos an der Decke, an dem man eine Zeit festkleben konnte, wenn man nur hoch genug hüpfte. Auch das war toll, wenn er sich auch nicht sonderlich geschickt dabei anstellte.
So waren alle gut gelaunt, als sie zu ihrer letzten Stunde Zaubertränke schlenderten. Niemand machte sich natürlich Illusionen über mögliche Späße in Professor Snapes Unterricht. Das mochten Erstklässler vielleicht vor Weihnachten erwarten – jetzt nicht mehr.
Und Snape enttäuschte sie nicht. Damit jeder sein geringes Leistungsniveau besser realisieren kann, hatte Professor Snape ein besonderes Bonbon für die letzte Unterrichtsstunde: Die eigentlich geplante Prüfungsaufgabe.
Für Tarsuinn persönlich war die Herstellung eines Sonnenschutztrankes keine große Herausforderung. Und dabei war es unerheblich, dass ihm ständig die Bücher das Rezept zuflüsterten. Er kannte die Rezeptur aller Tränke, die er dieses Jahr gebraut hatte, auswendig. Die der legalen, wie auch der illegalen. Die Zubereitung war für ihn eh nur ein Automatismus. Genau wie es für ihn eine Automatismus war, erst nachdem alle anderen Schüler gegangen waren an Snapes Lehrertisch zu treten.
Und wie immer prüfte Snape seinen Trank besonders intensiv.
„Mmh", brummte der Lehrer nach einer Weile und verblüffte damit Tarsuinn völlig. Das kam ja fast einer positiven Bewertung gleich.
„Sie können verschwinden", fuhr Snape danach fort und Tarsuinn schloss seinen Mund wieder.
„Aber vergessen Sie bitte Ihr fallen gelassenes Messer nicht", rief Snape ihm nach, als er gehen wollte. „Es ist nicht meine Aufgabe Ihnen alles nachzuräumen!"
„Natürlich, Professor", sagte er noch mehr erstaunt. „Danke, Professor."
Tarsuinn ging zu seinem Tisch zurück und tastete vorsichtig den Boden ab. Snape hätte ihm wirklich ein paar genauere Hinweise geben können. Schließlich fand er das gesuchte Messer, richtete sich auf, steckte es in die Messerscheide an seiner Hüfte und erstarrte mitten in der Bewegung.
Es war sein Messer, kein Zweifel. Aber es war das, was er in der Kammer des Schreckens in einem Basilisken stecken gelassen hatte.
Seine Erstarrung hielt ein paar Sekunden, dann wollte er sich fix absetzen.
„Kommen Sie wieder her!", blaffte Snape, lange bevor er die Tür erreichte.
Mit gesenktem Kopf schlich er zurück.
„Dachten Sie, Sie könnten sich einfach so davonschleichen?", fragte Snape kalt.
„Ja", antwortete Tarsuinn. „Ich…"
„Das war eine rhetorische Frage, McNamara", unterbrach ihn der Mann rüde, was Tarsuinn aber noch weniger als sonst einschüchterte. Trotzdem schwieg er.
„Ich soll nicht fragen, was Sie da unten zu suchen hatten. Ich soll Sie auch nicht für Ihre Dummheit bestrafen, weil dies bei Ihnen ins Leere geht und nicht genug Zeit bleibt. Außerdem vergessen Sie eh alles in näherer Zukunft. Ist also den Aufwand nicht wert.
Was ich jedoch soll, ist Sie zu fragen, ob Sie irgendetwas aus der Kammer mitgenommen haben. Haben Sie?"
Tarsuinn dachte einen Moment intensiv nach.
„Nein", entgegnete er.
„Vollkommen sicher?"
„Ich glaub, ein wenig Schlangenblut war an meiner Kleidung", präzisierte Tarsuinn. „Aber im Ausgleich habe ich auch einiges von mir dagelassen."
„Aber sonst nichts?"
„Sagte ich doch. Nein!"
„Gut, dann nehmen Sie das hier…", Snape schob etwas über den Tisch „…und bewahren Stillschweigen über die Kammer und was Sie eben von mir erfahren und erhalten haben."
Tarsuinn nickte nachdenklich. So weit er es verstand, glaubte Snape, dass irgendwer etwas aus der Kammer des Schreckens entfernt hatte. Ob das die beiden Gryffindor-Jungen gewesen waren? Aber die hatte man sicher auch schon befragt.
„Was ist das?", erkundigte sich Tarsuinn und griff nach dem, was auf dem Tisch lag. Einem kleinen Lederbeutel.
„Professor Dumbledore war der Ansicht, Sie würden sich über ein Andenken freuen", erklärte Snape abfällig.
Neugierig öffnete Tarsuinn den Beutel und tastete hinein. Zuerst zuckte er erschrocken zurück, doch dann lächelte er über seinen Schrecken. Erneut steckte er seine Hand hinein, holte einen präparierten Schlangenkopf hervor und danach einige Phiolen.
„Was ist da drin?", fragte er neugierig und schwenkte einen der Glaskörper.
„Basiliskenblut."
„Ist das nicht illegal?"
„Das Züchten eines Basilisken ist illegal."
„Und wozu ist das gut?"
„Es leuchtet im Dunkeln."
„Oh – so was hab ich mir schon immer gewünscht", meinte Tarsuinn ironisch.
Fasziniert glitten seine Fingerspitzen immer wieder über den Schlangenkopf, wobei er die Zähne mied. Immerhin hatte er das Geschenk von Snape. Es war zwar unwahrscheinlich, dass ein Lehrer jemanden vergiften würde, aber im Allgemeinen herrschte die Meinung vor, von allen Kandidaten für so eine Aktion wäre Snape derjenige, auf den alle zuerst tippen würden. Also ging er lieber kein Risiko ein.
„Irgendwie passend für dieses Jahr", murmelte Tarsuinn vor sich hin.
Snape sagte nichts, was er bedauerte. Ein kleiner Streit mit dem Professor wäre bestimmt witzig gewesen. Zumindest hätte es vielleicht seinen Abschied von Hogwarts etwas leichter gemacht.
Stattdessen fühlte er Snapes interessierten Blick auf sich ruhen. Tarsuinn packte die Andenken wieder ein und wollte gehen, doch zuvor musste er noch eine Frage stellen.
„Professor?", fragte er vorsichtig. „Haben Sie mir absichtlich geholfen? Und wenn ja, warum?"
Unsicher von einem Fuß auf den anderen tretend, wartete er auf eine Antwort. Das war eine der Fragen, die ihn schon seit geraumer Zeit beschäftigte.
Snape entgegnete eine Minute nichts.
„Ich erwarte Sie im September zu Ihrer Prüfung und hoffe, dass Sie dann bessere Ergebnisse abliefern, als ich es gewohnt bin", sagte Snape geschäftsmäßig, die Frage völlig ignorierend. „Ich mag es überhaupt nicht, von einem Schüler blamiert zu werden!"
„Ja, Professor", murmelte Tarsuinn leise.
„Dann gehen Sie endlich und nutzen Sie die Ferien konstruktiv. Ach – und kümmern Sie sich auch um die Aufnahme in eine Muggelschule!"
„Ja, Professor."
Tarsuinn wandte sich abrupt ab und ging frustriert davon. Snape war ein herzloser, kalter Dämon. Die Andenken waren sicher von Dumbledore, Flitwick oder auch Hagrid. Überreicht hatte nur Snape sie, weil er wahrscheinlich genau der war, der Tarsuinns Messer erkannt hatte.
Zum Glück heiterte sich seine Stimmung im Laufe des Tages wieder auf. Zuerst fiel natürlich die Dunkle-Künste-Stunde aus und dann war zwar Professor Binns in seiner Nachmittagsstunde so langweilig wie immer – Tarsuinn tat noch immer so, als könnte er ihn nicht hören oder sehen – dafür jedoch war es die letzte Stunde und die Vorfreude war überall im Klassenzimmer zu hören. Niemand achtete mehr auf den Geist an der Tafel.
Dem letzten Klingeln des Schuljahres folgte dann ein allgemeiner Jubelschrei quer durch das gesamte Schloss. Wobei er auch einige Lehrerstimmen aus dem allgemeinen Jubel herauszuhören glaubte.
Den Nachmittag verbrachten alle Ravenclaws damit, ihre Sachen für den nächsten Tag zu packen. Tarsuinn selbst war erstaunt darüber, wie viele Dinge sich in nur einem Jahr bei ihm angesammelt hatten. Sein Wanderrucksack war viel zu klein, um all die Schuluniformen, Kessel, Messer, Trankproben, Materialien und Ähnliches zu verstauen. Zum Glück hatte Winona noch mehr als genug Platz in ihrem Koffer, der ein Fassungsvermögen besaß, das normalerweise nur Damenhandtaschen vorbehalten war.
Am Abend gab es dann eine Abschlussfeier in – wie man ihm erzählte – den Gryffindorfarben, da die den Hauspokal gewonnen hatten. Wobei Ravenclaw als Zweites etwa zweihundert Punkte dichter dran war, als Tarsuinn es eigentlich vom Morgen her in Erinnerung gehabt hatte. Aber egal, der Abstand war trotzdem gigantisch und so richtig traurig war niemand über die Niederlage. Noch immer überwog die Freude über den Ausgang der Sache mit der Kammer des Schreckens den Frust über die Niederlage.
Im Anschluss hielt Professor Dumbledore noch eine kurze Rede in der er hoffte, dass nicht das ganze Wissen des Jahres verloren gehen würde und kündigte für die fünften Klassen an, dass das Ministerium zugestimmt hätte, die ZAG Prüfungen, die dieses Jahr ja abgesagt worden waren, Ende September durchzuführen. Auf diese Weise hätten alle genug Zeit den Stoff zu wiederholen und gute Leistungen zu bringen.
Die UTZ-Prüfungen der Siebten jedoch waren Ende Juli angesetzt, damit es zu keinen Problemen mit dem Studienbeginn einiger weiterführender Lehreinrichtungen kam.
Das interessierte Tarsuinn im Moment zwar wie eine Wasserstandsmeldung vom Ganges, aber es war trotzdem lustig, die verschiedenen Reaktionen auf diesen Terminplan zu hören.
Danach folgte ein hogwartstypisches Festessen der Marke: Feine Sachen essen bis einem schlecht wird.
Doch perfekt wurde es erst, als Professor Flitwick sich mit an den Schülertisch setzte und Tarsuinn laut gratulierte, einer der wenigen Schüler zu sein, die jemals innerhalb eines Schuljahres mehr als einhundert Punkte für Ravenclaw holen konnten. Natürlich hatte der kleine Mann diese Eröffnung so abgepasst, dass Tarsuinn geschockt seinen Saft verschluckte und krampfhaft husten musste. Jetzt ahnte er, woher die eher symbolischen zweihundert Punkte kamen und die danach einsetzenden Fragen seiner Kameraden brachten ihn so in Bedrängnis, dass Professor Flitwick zu seinen Gunsten eingreifen musste. Immerhin hatte er versprochen nichts zu erzählen und ihm fiel partout keine Lüge ein, die plausibel und zweihundert Punkte wert war.
Im Endeffekt hatte Flitwick damit erreicht, dass ab diesem Zeitpunkt versucht wurde, ihm sein Geheimnis auf heimliche Art und Weise zu entlocken. Er lernte dabei ältere Ravenclaws kennen, die es bisher für unter ihrer Würde gehalten hatten sich mit einem Erstklässler abzugeben.
Nach dem Essen verlagerte sich das Fest einfach in den Turm. Die fröhlich-traurige Stimmung, die dabei herrschte, spiegelte gut sein Inneres wieder. Einige verabredeten sich für die Ferien, andere sagten Lebwohl zu den Siebentklässlern. Poesiealben und Adressen wurden ausgetauscht.
Tarsuinn saß währenddessen bei geöffnetem Fenster auf dem Fensterbrett und lauschte still dem Lied der Einhörner. Ihm gegenüber platzierte sich ab und an einer seiner Freunde. Niemand sprach mit ihm, was wahrscheinlich daran lag, dass ihm unablässig Tränen über das Gesicht liefen. Er wollte das nicht, aber er konnte es nicht aufhalten. Das Lied war so traurig. Ja, genau. Das war es heute.
Es war Luna, die ihn davon löste. Ohne zu fragen oder überhaupt zu sprechen, nahm sie einfach seine Hand und führte seine Fingerspitzen über ihr Gesicht. Es war genau die Geste, die er brauchte, um ihn aus seiner traurigen Stimmung zu reißen. Sie war hübsch und er sagte ihr das auch.
Den Rest der Nacht verbrachte er deutlich ausgelassener mit seinen Freunden und auch Penelope kam vorbei, drückte ihm freundschaftlich die Hand und erklärte ihre Hoffung, ihn nächstes Jahr wieder in Ravenclaw zu sehen. Er revanchierte sich mit der Versicherung, dass er fast alle Rüffel verdient hatte, die sie für ihn gehabt hatte.
Auch der Streit zwischen Winona und der Vertrauensschülerin wurde noch an diesem Abend mit einer gegenseitigen Entschuldigung aus der Welt geschafft.
Früh am nächsten Morgen herrschte dann das erhoffte Aufbruchschaos. Überall suchten Schüler nach ihrem Gepäck, jagten ihren Katzen, Kröten oder Ratten hinterher oder suchten irgendwelche Dinge, die eigentlich da sein sollten, aber nicht waren.
Das war perfekt so. Auf diese Art und Weise würde wohl kaum jemand bemerken, wenn Toireasa nicht in den Hogwarts-Express stieg. Im Moment war sie aber noch bei der üblichen Bande Ravenclaws, zu der er im Moment auch noch gehörte. Erst in einer halben Stunde, wenn die Kutschen kamen, würde sie sich verstecken. Bis dahin wollte sich Tarsuinn aber noch von ihr verabschieden. Darum zog er sie an der Hand zur Seite in einen kleinen Gang.
„Ich wollte – Leb wohl! – sagen", erklärte er ihr flüsternd. „Und dir alles Gute wünschen."
Sie umarmte ihn zur Antwort zunächst heftig und er drückte kräftig zurück.
„Danke für alles", flüsterte sie schniefend.
„Danke für alles nach Halloween", entgegnete er ergriffen.
„Wir sehen uns wieder", versprach sie ihm.
„Tikki wird dich erkennen", sagte er in dem schwachen Versuch witzig zu sein.
„Wenn ich doch nur etwas tun könnte", sagte sie keineswegs aufgeheitert.
„Da gäbe es was", meinte Tarsuinn daraufhin. „Aber ich weiß nicht, ob es so gut ist dich…"
„Was immer es ist!", unterbrach sie ihn energisch.
„Okay", sagte er.
Umständlich holte er den Feuerrubin an der Kette hervor. Der Stein pulsierte voll Wärme in Toireasas Nähe. Dabei versuchte er ihr diesen zu zeigen und trotzdem das Licht etwas zu dämpfen.
„Ich hab dir ja mal erzählt, dass Leute bei Rica sind, die mich fangen wollen. Ich vermute, sie suchen diesen Stein", begann er. „Ich will nicht, dass sie ihn bekommen. Nur für den Fall, dass irgendetwas schief geht. Könntest du ihn für mich aufbewahren?"
„Natürlich mach ich das!", sagte sie entschieden. „Was soll ich aber damit machen, wenn…na ja…wenn…"
„Behalte ihn, gib ihn Flitwick oder Dumbledore. Ist dir überlassen. Es ist ein Geistergefängnis. Sehr nützlich um sich gegen Peeves zu wehren."
„Wow. Davon hab ich noch nichts gehört. Ich werd darauf gut aufpassen."
„Danke."
Er wollte ihr gerade den Rubin reichen, als ein empörter Schrei ihn stocken ließ.
„Nein!", schrie eine Jungenstimme auf. „Du nimmst keine Geschenke von diesem Muggel!"
„Halt dich da raus, Aidan. Das geht dich nichts an!", rief Toireasa zurück. „Gib schon, Tarsuinn."
Wieder streckte er die Hand aus.
„Ich sagte: Nein!", rief Toireasas Stiefbruder erneut und er schlug von oben auf Tarsuinns Hand, auf welcher der Rubin lag.
In dem Augenblick, als seine Hand schmerzhaft weggeschlagen wurde, war Tarsuinns erster Gedanke, dem anderen Jungen eine Faust ins Gesicht zu schlagen, doch er kam nicht dazu. Eine Druckwelle riss ihn von den Füßen und er schlug hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Seine Sinne schwanden.
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