- Kapitel 32 -
Mal mehr oder weniger
Tarsuinn rannte und wünschte sich, er hätte vor einem Jahr das Krankenhaus etwas besser kennen gelernt. Er wusste zum Beispiel nicht mehr, wie viele Stockwerke dieses verdammte Haus hatte. Ihn hatte immer nur das vierte interessiert, in dem seine Schwester damals gelegen hatte, als die Ärzte noch von Hoffnung redeten.
Tikki rannte vor ihm und trieb ihn mit kurzen Rufen an. Er musste sich absolut auf sie verlassen und er brauchte seine ganze Konzentration, um nicht über die Treppenstufen zu fallen.
Hinter ihm kamen die Frau und der Mann immer näher. Sie nahmen drei Stufen auf einmal, während er nur zwei schaffte.
Tikki bog ab und gab den Laut für Tür und weg, was so viel bedeutete wie: Nach außen öffnende Tür. Er warf sich gegen die Tür und versuchte gleichzeitig die Klinke zu erwischen, falls es eine gab. Zu seinem Glück traf er auf eine klinkenlose Tür und wurde so kaum verlangsamt. Er rannte über einen Flur, zog seinen Zauberstab mit der linken und das Messer mit der rechten Hand. Seine Gedanken rasten. Auf Tante Glenns Anraten hatte er viele Zauber und Flüche für Verteidigung gegen die Dunklen Künste geübt. Die Theorie war ihm also durchaus vertraut, doch er fürchtete, dass sein Wildes Talent ihm den Arm oder noch mehr lähmte. Er war noch nicht verzweifelt genug, um das zu riskieren.
Tikki führte ihn mit möglichst vielen Kurven durch das Haus, was wahrscheinlich seine einzige Chance war nicht innerhalb von Sekunden gefangen zu werden. Kinder waren einfach wendiger als Erwachsene und rutschten auch nicht so schnell aus.
Auf Tikkis Kommando hin warf er sich plötzlich zu Boden, hörte zwei Dinge über sich hinweg surren, drehte sich auf den Rücken herum, streckte den Zauberstab seinen Verfolgern entgegen und rief: „Viridis micare!"
Er konnte nicht sagen, ob wirklich grüne Funken durch den Korridor flogen, aber irgendetwas tat es und sein Bluff funktionierte.
Der Mann und die Frau wichen den harmlosen Funken aus und das verschaffte ihm die Zeit, sich wieder aufzurappeln und weiterzulaufen.
„Was zum Teufel war das?", hörte er den Mann erschrocken seine Partnerin fragen.
„Keine Ahnung, vielleicht ein Feuerwerkskörper", antwortete diese, aber es klang alles andere als überzeugt.
„Quatsch, du hast doch auch gesehen, dass dies aus dem kleinen Stab in seiner Hand kam!"
„Schon, aber willst du das ihm erzählen?"
„Überzeugt! Weiter! Wo bleiben nur die anderen?"
Wieder hörte Tarsuinn ihre Schritte, doch er hatte schon einen guten Vorsprung herausgelaufen. Leider konnte er diese anderen inzwischen nur zu gut hören. Tikki hatte ihn in einen Bereitschaftsraum geführt, in dem auch eine Schwester saß, die ihn jedoch völlig ignorierte. Selbst als er zu ihren Füßen unter den Schreibtisch krabbelte und sie dabei am Fuß stieß, reagierte sie nicht. Sie zog einfach ihre Beine ein Stück zurück.
Zusammengekauert zitterte Tarsuinn unter dem Tisch. Angestrengt versuchte er seinen Atem und sich selbst unter Kontrolle zu bekommen.
„Ein kleines Mädchen schiebt einen Patienten durch die Gegend?", hörte er draußen auf dem Gang die Frau rufen. „Oh verflucht! Haltet sie auf!"
Toireasa, schoss es ihm durch den Kopf und besorgt wollte er aufspringen, doch dann hielt ihn sein Verstand zurück. Er war nicht in der Lage Toireasa zu helfen. Sie konnte sich viel besser wehren als er und solange man ihn nicht erwischte, würden sicher mehr Leute nach ihm suchen, als nach ihr.
Denk, bevor du handelst, wies er sich selbst an. Kontrolliere dich!
Seine beiden Verfolger trafen auf drei andere Personen.
„Wo ist er?", fragte einer der Neuankömmlinge.
„Er müsste euch eigentlich entgegen gekommen sein", entgegnete der Mann, der ihm schon von Anfang an folgte.
„Ist er nicht."
„Dann hat er sich irgendwo auf dieser Station versteckt. Suchen wir!"
Die fünf Personen auf dem Flur verteilten sich wieder. Während drei von ihnen anfingen Türen zu öffnen und die Räume zu durchsuchen, blieben zwei vor Tarsuinns Versteck im Flur stehen, wahrscheinlich um diesen im Auge zu behalten.
„Es ist schon gespenstisch wie uns die Krankenschwestern ignorieren", sagte die Stimme des Mannes leise, den er mit seinem Funkenzauber erschreckt hatte.
„Denk darüber nicht nach", sagte die Frau, die Tarsuinn auch inzwischen zur Genüge kannte. „Wird man nur verrückt dabei."
„Suchen wir ihn wegen dieser…?"
„Ich sagte, denk nicht darüber nach!"
Der Mann hielt sich daran oder zumindest sprach er das Thema nicht mehr an.
Tarsuinn war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass man ihn spätestens dann finden würde, wenn seine Häscher alle Krankenzimmer durchsucht hatten. Doch jetzt hatte er wieder die Ruhe, um überlegt zu handeln. Zusammen mit Tikki kroch er aus seinem Versteck und langsam Richtung Tür.
Seine kleine Begleiterin brummte dabei fast unhörbar und was Tarsuinn daraus herauszuhören glaubte, gefiel ihm überhaupt nicht. Es klang so kalt, so gnadenlos und sie wollte anscheinend, dass er tat, was sie von ihm forderte. Er schaffte es nicht, sich dem zu entziehen.
Langsam schlich er näher. Tikki war vor ihm am Türrahmen und spähte wahrscheinlich gerade die Lage aus. Er selbst versuchte den Standort einer jeden Person genau zu bestimmen.
Besorgt hörte er eine sechste Person eine Treppe heraufkommen.
Ihm blieb keine Zeit und Skrupel konnte er sich laut Tikki nicht leisten.
Auf ihr Signal hin rollte er nach vorn, direkt hinter die beiden Menschen, die im Gang standen, und beschrieb mit seinem Messer einen weiten Halbkreis circa zwanzig Zentimeter über dem Boden.
Die scharfe Klinge traf Fleisch, schnitt hindurch und beide schrien laut auf. Sofort sprang Tarsuinn von den beiden Menschen weg, die aufgrund der Verletzungen zu Boden stürzten. Dann lief er davon. Noch einige Gänge und Treppen später konnte er die Schmerzen hören, die er verursacht hatte und ihm wurde fast schlecht vor Schuldgefühlen. Noch nie hatte er jemanden bei klarem Verstand angegriffen und verletzt. Egal, wie sehr er sich sagte, dass sie ihn dazu gezwungen hatten, dass sie Unrecht taten und nicht er, es machte es nicht besser. Ein guter Zauber hätte die beiden einfach nur geschockt, doch er hatte auf Nummer Sicher gehen müssen. Tikki zumindest war mit ihm zufrieden und trieb ihn an, jetzt nicht nachzulassen.
Gemeinsam sprangen sie die Treppen hinunter, an Station sieben vorbei, er schubste deren Tür weit auf und rannte dann selbst auf Station sechs, deren Tür er nur einen Spalt öffnete und dann schnell und möglichst leise schloss. Danach rannte er weiter, denn schon hörte er seine Verfolger im Treppenhaus.
Er musste mehr Zeit schinden. Jede Minute mehr konnte Rica helfen. Tarsuinn schalt sich, weil er nur versucht hatte einen Erwachsenen zu informieren, statt auch gleich einen mitzunehmen. Aber – dann wäre er wahrscheinlich zu spät gekommen. Aus diesem Grund schob er den Gedanken beiseite und hoffte, dass es Toireasa und Rica gut ging.
Plötzlich drehte Tikki um und sprintete wieder zurück zu dem Treppenhaus, das er vor wenigen Sekunden verlassen hatte. Natürlich folgte er ihr so leise er konnte. An der Tür wies Tikki ihn an zu warten und nach etwa einer Minute schlichen sie sich wieder hinauf zu Station acht. Es war ein gewagter Zug von seiner kleinen Freundin, aber vielleicht auch einer, der ihn retten konnte. Doch jetzt befand er sich genau zwischen seinen Jägern. Eine Station tiefer die, welche ihn suchten. Auf der Station hier, die beiden, die er verletzt hatte und die sich, den Geräuschen nach, gerade gegenseitig im Bereitschaftsraum verarzteten. Den Worten nach zu urteilen, war es sicher keine gute Idee, einem der beiden in die Hände zu fallen.
Er huschte an der offenen Tür vorbei und atmete leise auf, als keiner der beiden irgendetwas von sich hören ließ, woraus er schließen konnte, dass sie ihn entdeckt hatten.
Tarsuinn war schon viele Meter entfernt, als er sich umdrehte und wieder zurückging. Ihm war bewusst geworden, dass er es nicht zulassen durfte, wenn seine Verfolger nicht wussten, wo er war. Wenn er verschwunden schien, würden sie sich Rica nehmen, um ihn zu bekommen. Außerdem hatte er etwas auszuprobieren.
Dreimal tief durchatmen, alle Gedanken beiseite schieben (und Tikkis Gemeckere ignorieren), nur an das denken, was er zu tun gedachte.
Er trat an die Tür, richtete seinen Zauberstab aus und sagte laut: „Expelliarmus!"
Es geschah etwas, aber offensichtlich nicht das, was er beabsichtigt hatte. Er sprang zur Seite – wie schon im Voraus geplant – und hörte fast sofort erneut zweimal dieses sirrende Geräusch, das an der Wand hinter ihm mit einem leisen Knall endete.
Erneut trat er in die Tür.
„Rictusempra!", sagte er emotionslos und versuchte sich diesmal an dem einfacheren Kitzelfluch. Wieder war das Ergebnis einfach nur erbärmlich (niemand lachte) und er musste sich erneut in Sicherheit bringen.
„Was versucht er da?", schrie der Mann panisch und wieder war dieses Sirren zu hören. Tarsuinn konnte nur hoffen, dass ihnen endlich mal die Munition ausging und er einen Zauber hinbekam. Ansonsten würden sie hier ewig miteinander spielen. Ohne es zu wollen, musste er bei dem Gedanken grinsen.
„Rictusempra!", versuchte er es ein zweites Mal und diesmal begann die Frau hysterisch zu lachen.
„Er verhext uns!", schrie der Mann. „Helft uns, er ist…"
„Petrificus Totalus!", rief Tarsuinn kalt. Der Mann beendete abrupt seinen Satz und fiel um.
Erstaunt über seinen eigenen Erfolg (und über die anhaltende Teilnahmslosigkeit der Krankenschwester), blieb Tarsuinn einen Moment erstarrt stehen.
Doch dann riss er sich los und folgte Tikkis drängenden Rufen. Er rief den Fahrstuhl und wartete ungeduldig auf das Ping. Als dieser endlich die Türen geöffnet hatte – und zu seinem Erstaunen auch noch leer war – ging er hinein, drückte die oberste Taste die er finden konnte, stellte sich wieder zwischen die Tür und wartete.
Das brauchte er nicht lange.
Die Tür zum Treppenhaus öffnete sich und voller Überzeugung schmetterte er ihnen einen Lähmfluch entgegen – nur um erneut zu versagen. Der lähmende Schmerz durchzuckte seinen eigenen Arm, statt auf die Gegner zuzufliegen. Erschrocken sprang er wieder in den Fahrstuhl hinein und hoffte, dass die Türen sich schnell schlossen. Warum funktionierte das jetzt wieder nicht? Sein Arm pochte und kribbelte unangenehm, während auf der kurzen Fahrt nach oben, das Gefühl langsam wieder zurückkehrte. Er wechselte seinen Zauberstab in die andere Hand.
Im neunten und letzten Stockwerk stieg er aus. Er zählte darauf, dass über dem Fahrstuhl immer angezeigt wurde, in welchem Stockwerk dieser gerade war und seine Verfolger ihn so finden würden. Wahrscheinlich würden sie jetzt dem Fahrstuhl etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen. Er hätte ins Erdgeschoss fahren sollen! Wenn es ihm gelungen wäre hier abzuhauen, wären ihm alle Verfolger sicher nach draußen gefolgt und eine Stadt bot viel mehr Möglichkeiten sich zu verstecken.
Er schüttelte den Gedanken ab. Er war jetzt hier. Jammern über verpasste Möglichkeiten und eigene Idiotie half ihm jetzt auch nicht weiter. Aber was Tarsuinn wusste war, er brauchte langsam Hilfe. Es mochte nicht mehr lange dauern und die übrigen Verfolger würden ein wenig koordinierter vorgehen. Seltsamerweise kam zunächst niemand. Statt der üblichen schnellen Schritte blieb es unerwartet ruhig.
Das machte ihn noch nervöser, als alle Verfolger auf der Welt. Was, wenn sie seine Schwester schon eingesammelt hatten und deshalb wussten, dass sie ihn damit in der Hand hatten? Aber warum sagte ihm das dann niemand? Sie wussten doch wo er war! Oder etwa nicht?
Er musste irgendwie Hilfe rufen…Hilfe rufen…da war doch was. Zwar nur eine kleine Chance, aber warum nicht. Wenn er gewusst hätte, wo hier ein Feuermelder war, er hätte ihn benutzt.
Er tastete sich zu einem der Fenster und öffnete es. Professor Flitwick hatte es schon in einer der ersten Unterrichtsstunden gesagt: „Wenn Ihr in Gefahr seid, sprüht rote Funken in den Himmel!"
„Ruber micare", zauberte er aus dem Fenster und wider Erwarten klappte es sogar. Diesmal hallte sogar ein lautes Wusch mit durch die Nacht. Jetzt musste er nur hoffen, dass der ganze Zauber auch wirklich rot gewesen war.
Etwas ließ ihn herumfahren. Kein Geräusch, kein Geruch, nur so ein Gefühl. Selbst Tikki wirkte leicht verwirrt.
Doch dann wurde dieses Gefühl verdrängt durch einige sehr gut hörbare Schritte, die nur sehr langsam auf ihn zukamen. Keine Eile lag in diesem Geräusch, eher als würde sich ein Henker seinem Opfer nähern.
Tarsuinn hielt dem Neuankömmling seinen Zauberstab entgegen und das Messer verborgen in der Hand.
„Kommen Sie nicht näher", sagte Tarsuinn drohend. „Ich möchte Ihnen nichts tun!"
Ein lautes Lachen war die Antwort.
„Das wirst du nicht, kleiner Zauberer", versicherte ein Mann mit einem leichten irischen Akzent. „Mach es dir einfach und komm mit mir. Ich würde dich ungern beschädigt abliefern."
„An wen?", erkundigte sich Tarsuinn.
„Das erfährst du noch früh genug."
„Ich gehe nicht mit Ihnen mit!"
„Das war keine Wahlmöglichkeit", verkündete der Mann. „Ich zähle bis drei. Eins…"
Tikki stürzte auf den Mann zu.
„Stupor!", rief der Mann laut und Tikki fiel um.
„Tikki!", schrie Tarsuinn besorgt auf, schleuderte sein Messer auf den Zauberer und sprang vor. Ein Lähmfluch zog über ihn hinweg und zischte den Flur entlang. Er schnappte sich die reglose Tikki und rannte weg. Weit kam er damit nicht. Trotz seines Versuchs auszuweichen, traf ihn ein Beinklammerfluch und warf ihn zu Boden. Er wollte sich umdrehen und doch noch einmal einen Zauber versuchen, als ein Entwaffnungszauber ihm den Stab aus der Hand riss.
„Du kleine Wanze!", fluchte der Mann und zu Tarsuinns Freude klang er schmerzerfüllt. „Das bereust du! Plagam!"
Ein Zauber wie ein Boxhieb traf ihn im Gesicht und ließ Tarsuinn nach Atem ringen.
Trotzdem versuchte er mit Tikki im Arm wegzukriechen, so schnell es der Fluch um seine Beine erlaubte.
„Aber nicht doch", lachte der Mann bösartig. „Circumagi!"
Tarsuinn fühlte eine Kraft seine Beine packen und dann wurde er an den Füßen im Kreis über den Boden geschleudert. Immer schneller, immer kraftvoller.
Tikki drohte ihm aus den Händen zu rutschen. Er musste so fest zugreifen, dass er fürchtete, er könne sie verletzen. Das war jedoch nichts gegen das was ihr drohte, wenn er sie losließ und die Fliehkraft sie gegen eine Wand schleuderte.
Dann endete plötzlich die Bewegung und auch der Beinklammerfluch war verschwunden. Immer noch Tikki im Arm haltend, versuchte er aufzustehen, aber ihm war so schwummrig, dass er nach nicht mal zwei Schritten gegen einen Heizkörper knallte. Ihm war kotzübel und auch sein Gefühl für oben und unten war ihm genommen. Ohne Augen, die ihm die Möglichkeit gaben dem Gehirn die horizontale Realität zu vermitteln, war es ihm kaum möglich dieses Gefühl schnell abzuschütteln.
„Na? Sind wir jetzt etwas demütiger?", fragte der Mann fies. „Wage es nie wieder, dich gegen mich aufzulehnen und mich anzugreifen!"
Tarsuinn antwortete nicht, da er gerade sein Abendbrot wieder in seinen Magen zurückschluckte. Außerdem bekämpfte er eine Panikattacke. Aber er rang sich dann doch zu einer internationalen Fingergeste durch.
„Noch immer nicht gefügig?", freute sich der Mann geradezu. In seiner Stimme lag die Befriedigung eines begeisterten Sadisten. Etwas, was Tarsuinn bei Snape noch nie gehört hatte, selbst bei den größten Gemeinheiten nicht.
Ich werde nie gefügig sein, sagte plötzlich eine brüchige Stimme in Tarsuinns Kopf. Eine Stimme, die er nur aus seinen Träumen kannte. Ihr erfahrt nichts!
„Na dann Lektion Nummer zwei!", kündigte der Mann an.
Das wirst du bereuen, fauchte die Stimme voller Hass. Ich töte dich!
„Nein!", schrie Tarsuinn verzweifelt aus. Er spürte, wie ihm langsam immer weiter die Kontrolle entglitt und etwas anderes sich in ihm breit machte.
„Ach, nein!", missverstand sein Gegenüber. „Welch weiser Entschluss."
Tarsuinn schüttelte nur den Kopf. Er hatte nicht vor, sich dem einen oder dem anderen zu ergeben.
„Lasst mich in Ruhe!", schrie er laut, um die Stimme in seinem Kopf zu übertönen.
„Das ist keine Option", erwiderte der Mann kalt. „Dann halt eine weitere Runde – Frigere!"
Eine Welle tödlicher Kälte erfasste Tarsuinn und obwohl er nah der Heizung war, spürte er keinerlei Wärme mehr. Woher auch – es war Sommer und die Heizung eher kalt. Seine Zähne klapperten von einer Sekunde auf die andere und er rollte sich am Boden zusammen, in dem instinktiven Versuch sich warm zu halten. Warum nahm dieser Mann ihn nicht einfach mit? Warum musste er Tarsuinn so quälen? Der Mann war ihm doch so deutlich überlegen, dass Tarsuinn keine andere Chance hatte als mitzukommen. Er spürte, je mehr der irische Mann ihn hier quälte und seinen Körper schwächte, desto stärker wurde der Feind in seinem Inneren. Seine Alpträume drängten in die Realität.
Wehr dich nicht, säuselte es in seinen Ohren. Zusammen besiegen wir sie alle! Lass mich machen.
Warum eigentlich nicht, schoss es ihm durch den Kopf. So war es doch viel einfacher.
„Nein!", schrie er erschrocken über diesen Gedanken auf und schlug in voller Absicht seine Stirn einmal kurz gegen die Heizung, um den Kopf klar zu bekommen. Der leichte Schmerz verdrängte die Stimme und die Kälte ein wenig. Unweit von Tarsuinn entfernt ging eine Fensterscheibe zu Bruch.
„Hör auf damit!", schrie der Mann, plötzlich nicht mehr mit Spaß bei der Sache.
Tarsuinn achtete nicht auf ihn. Wenn er Tarsuinn unversehrt abliefern sollte, dann war es wohl zu spät. Unkontrollierte Wut und Angst hatte ihn ergriffen und auch Hass auf sich selbst und seine Schwäche.
„Gehen Sie, wenn Sie keine Probleme wollen!", zischte Tarsuinn und eine ungewollte Woge des Hasses brach schmerzhaft aus ihm heraus und ließ irgendwo weiter hinten Putz von der Wand rieseln.
Er wollte diese Stimme endlich aus seinem Kopf vertreiben! Eine warme Flüssigkeit wärmte seine rechte Gesichtshälfte. Weitere Scheiben brachen.
„Hör verdammt noch mal auf damit!", schrie der Mann ihn an und ein weiterer Schlag mit dem Plagam-Zauber traf Tarsuinn im Gesicht und diesmal brach etwas.
Ziemlich dämlich, wie irgendein krankhaft intakter Teil seines Hirnes ihm mitteilte. Ein solcher Zauber konnte ihn doch nicht stoppen. Eher verschlimmerte er das Problem. Ein Schockzauber wäre viel effektiver gewesen, um ihn an seinem zerstörerischen Tun zu hindern. Er presste den Kopf gegen den kühlen Heizkörper und versuchte die Magie, die ihn fiebrig schüttelte, zurückzudrängen.
Eine Hand riss ihn rücksichtslos zurück.
„Was soll das, Idiot?!", schalt ihn der Mann.
„Ich beiß Ihnen ins Knie, wenn ich es finde!", knurrte Tarsuinn hasserfüllt.
„Immer noch kampfeslustig?", staunte Tarsuinns Quälgeist. „Brauchen wir noch eine Lektion?"
Tarsuinn lachte rau.
„Noch eine Lektion und ich werde mich nicht mehr kontrollieren können", verkündete Tarsuinn ängstlich, rappelte sich auf die Knie und barg Tikki zwischen seinen Beinen und seinem Oberkörper. „Bin mal gespannt, ob Sie mit mir dann klarkommen."
„Was redest du für einen Unsinn?", fragte der Mann kaum beunruhigt. „Lehren wir dir also weiter etwas Demut!"
Tarsuinn wollte dem Mann nicht die Befriedigung gönnen. Aber er konnte auch nicht zulassen, dass er die Beherrschung verlor.
„Ich lerne nicht von Versagern", brachte er hervor, spuckte Blut aus und provozierte noch etwas weiter, da ihm langsam alles egal wurde. „Professor Snape habe ich nicht mit dem Messer treffen können."
„Ach", entgegnete der Mann zornig. „Dann versuchen wir halt mal was Wirksames: Cruci…"
„Stupor!", rief eine andere, sehr melodische Stimme.
Ein Fallen, dann Stille. Noch immer nicht in der Lage aufzustehen, versuchte er sich um Tikki zu kümmern. Dann fühlte er plötzlich…
„Wer ist da?", fragte er, doch niemand antwortete ihm. Stattdessen fielen sein Zauberstab und sein Messer vor ihm zu Boden.
Ein leises Plop ließ ihn eine Minute später zusammenzucken und nach den beiden Gegenständen vor sich greifen. Doch es blieb alles ruhig. Noch immer regte sich Tikki nicht und auch er brachte es nicht über sich, seinen Kopf von den Knien zu erheben. Dieses Warten allein zerrte sehr an dem Wenigen, was von seinen Nerven geblieben war, und am Ende barg er Tikki in seinen Armen und schluchzte nur noch zitternd. Er erwartete eigentlich nur noch, dass irgendwer kam um ihn mitzunehmen.
Er wusste nicht, wie lange er so in dem Gang gekniet hatte – vielleicht waren nur ein oder zwei Minuten vergangen – als wieder dieses Plop ertönte. Tarsuinn reagierte kaum darauf. Er rollte sich nur noch enger um Tikki und hielt den Kopf gesenkt. Die Welt sollte ihn in Ruhe lassen!
Doch sie ließ ihn nicht in Ruhe. Dünne starke Hände hoben ihn hoch, eine sanfte Stimme flüsterte etwas und Tarsuinns Wahrnehmung wurde erneut durcheinander gewirbelt.
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