- Kapitel 33 -

Das Ritual

Normalerweise liebte Gloria ihre nächtlichen Ausflüge hierher. Heimlich nannte sie das dunkle Gebäude schon ihr Zuhause und sie war normalerweise hier lieber, als sonst irgendwo. Nur heute war ihr die Freude des täglichen Weges vergällt. Ihr Schädel schmerzte und es war, als würde ihr jemand das Gehirn auffressen, was leider nicht nur eine Einbildung war. Etwas war tatsächlich in ihrem Kopf und tat sich am Zentrum ihres Seins gütlich.

Sie blieb vor einer so genannten Invest-Ruine stehen.

Aperire!", sagte sie und malte ein kompliziertes Gebilde in einen verrosteten Drahtzaun. Sie hasste diese krächzende Stimme.

Sofort änderte sich die Szene. Aus dem Drahtzaun wurde eine feste Mauer und in dieser Mauer befand sich eine barocke Tür, die sich leise knarrend öffnete.

Dahinter erwartete sie ein kleiner Hauself in einer Butlerlivree.

„Willkommen zu Hause, Mylady!", begrüßte sie der Hauself höflich mit einer tiefen Verbeugung, wobei das Tablett mit dem Glas in seiner Hand keinen Millimeter schwankte.

Trotzdem ihr Schädel inzwischen zu zerspringen drohte, erwiderte sie die Geste. Die erste Zeit hatte sie der freie Hauself irritiert, ja sogar abgestoßen, aber inzwischen hatte sie den Wert echter Loyalität begriffen und die Macht der freien Entscheidung.

„Einen guten Abend, Fidusy", entgegnete sie höflich. „Wie geht es dir?"

„Gut, Mylady", antwortete er und seine großen Augen fixierten sie besorgt. „Aber mein Meister sagte mir, Ihr würdet Euch nicht wohl befinden. Weshalb er mich gebeten hat, Euch dies zu Eurem Wohle zu gereichen."

Er hielt ihr das Tablett mit dem Glas hin. Sie nahm es, trank und fühlte sich sofort besser.

„Danke sehr! Das hat gut getan", sagte sie und stellte das Glas zurück.

„Sehr schön, Mylady", freute er sich mit einem breiten Lächeln. „Ich vermute, Ihr wünscht den Meister zu sehen. Bitte folgt mir!"

Sie ging dem kleinen Hauselfen gemessenen Schrittes hinterher. Noch vor einem Jahr hätte sie über jeden die Nase gerümpft, der in einem Elfen etwas anderes als einen Diener sah. Sie war zwar noch immer der Ansicht, dass die Macht, über welche die Hauselfen geboten, eine Kontrolle brauchte, die diese selbst nicht ihr Eigen nannten, aber das bedeutete nicht, dass man sie deswegen wie Vieh behandeln musste. Außerdem hatte sie die Elfen Mr Banefactors freiwillig Dinge machen sehen, die weit über bloße Befehlserfüllung hinausgingen. Sie befolgten nicht nur die Bitten ihres Meisters, sie befolgten sie so gut sie konnten. Das war etwas, was in der Familie Kondagion undenkbar war. Sie hatte es beobachtet. Die Hauselfen ihrer Eltern waren fleißig und unermüdlich, aber sie taten nicht mehr, als sie mussten und wagten nur selten etwas ohne Erlaubnis zu tun. Mr Banefactor ermutigte sie sogar dazu und die Ergebnisse sprachen für diese Methode.

Fidusy führte sie in die weitläufigen Kellergewölbe und in einen Raum, der nur mit Fackeln beleuchtet war. Gloria war hier schon einmal gewesen und wusste, wozu dieser Ort diente. Hierher bestellte Mr Banefactor nur Personen, mit denen er unzufrieden war. Er hatte es ihr selbst erzählt. Alles in diesem Raum war darauf ausgerichtet jemanden einzuschüchtern. Es ging dabei überhaupt nicht darum, denjenigen physisch zu bestrafen.

Im Gegenteil, hier wurden nur Fehler analysiert und über Lösungen gesprochen. Der Raum war Warnung genug.

Der Hauself verließ sie, sobald sie die Tür erreicht hatte. Mit ein wenig Herzklopfen öffnete sie und trat ein, nur um erleichtert festzustellen, dass nicht sie hier zum Gespräch geladen war. Vor Mr Banefactor knieten zwei Personen und hielten den Kopf gesenkt. Dies musste eine freiwillige Geste sein, denn sie hatte noch nie erlebt, dass er jemanden zu so einer archaischen Art der Entschuldigung aufforderte.

„Guten Abend, meine Liebe", begrüßte Mr Banefactor sie. „Wir haben dich schon erwartet."

Sie ging um die beiden Knienden – ein Mann und eine Frau – herum und zu ihrem Wohltäter.

„Du kennst unsere beiden Gäste", sagte Banefactor und unter seiner Kapuze sah sie ein nachsichtiges Lächeln.

Sie nickte, da sie ihre eigene Stimme im Moment nicht hören wollte.

„Wir haben sie losgeschickt, um ein todkrankes Mädchen hierher zu bringen", erklärte ihr Lehrmeister überflüssigerweise. „Und sie sind von drei Kindern aufgehalten worden."

Milde lächelnd schaute er auf die beiden, die es vorzogen beschämt zu Boden zu blicken. In Glorias Blick lag ein eher vernichtendes Urteil.

„Ich würde gern eine Erklärung hören", fuhr Banefactor fort.

Die beiden sahen einander kurz an, dann ergriff der Mann das Wort.

„Es war schlechtes Timing", erklärte er in unterwürfigem Ton. „Wir wurden spät von den Muggeln gerufen. Als wir endlich die Ziele gefunden hatten, tauchten auch schon die Eltern des einen Mädchens auf. Und sie waren nicht allein. Wir mussten verschwinden."

„Hast du nicht etwas vergessen?", fragte Mr Banefactor und diesmal klang seine Stimme eisig.

„Ähem, ja", stammelte der Mann und senkte wieder den Kopf. „Ich habe die Beherrschung verloren und Zeit vergeudet. Ich hätte den Jungen hierher bringen können, wenn ich mich beherrscht hätte."

„Er hat dich verletzt, nicht wahr?"

„Ja, Sir!"

„Und das hat dein irischer Stolz nicht akzeptieren können!"

„Es war dumm, Sir! Ich werde gehen und den Jungen holen, egal wo er jetzt ist!"

„Das ist ein löbliches Angebot, aber ihr beide werdet ihn lassen wo er ist. Nein, genauer. Ihr werdet eine Weile das Land verlassen. Ich habe in Brasilien eine Aufgabe für euch. Geht."

„Wir gehen dürfen?", fragte die Frau erstaunt in gebrochenem Englisch.

„Ja!", erwiderte Banefactor einfach. „Geht jetzt, packt eure Sachen und lasst euch von Fidusy eure Anweisungen geben. Wir sprechen uns auf dem üblichen Weg, sobald ihr am Zielort seid."

Schnell und offensichtlich erleichtert gingen beide, sich tief verbeugend.

Nachdem sie verschwunden waren, konnte sich Gloria durchringen etwas zu sagen.

„Manchmal glaube ich, Ihr seid doch etwas zu nachsichtig, Meister", warf sie ihm mit kratziger Stimme vor.

„Ihre Schuld war geringer, als sie selbst glauben", entgegnete Banefactor und ergriff ihre Hand. Früher war sie bei seiner Berührung immer zusammengezuckt, doch inzwischen störte sie die kalte Reptilienklaue nicht mehr.

„Komm", sagte er und führte sie aus dem Raum.

„Ich wäre vielleicht etwas mitleidiger, wenn in meinen Kopf nicht ein Hirnfresser sein Festmahl halten würde."

„Nun, dafür solltest du mir die Schuld geben", sagte er milde lächelnd. „Ich habe dafür gesorgt, dass die beiden versagen. Ich habe sogar den Iren mit einem Zauber geschockt."

„Wie bitte?!", entfuhr es ihr entsetzt und sie blieb stehen.

„Ich gehe noch weiter", entgegnete er. „Ich wollte das Mädchen nur holen, um die Siegel selbst zu brechen. Mir ging es im Grunde immer nur darum, dass sie den verlorenen Siegelrubin dafür verwenden. Aber wenn sie nicht herausgefunden hätten, wie es geht, hätte ich es getan."

„Das ist nicht Ihr Ernst!"

Gloria war inzwischen völlig aus dem Gleichgewicht. Hatte er sie die ganze Zeit nur benutzt und das mit der Nachfolge war eine List, um sich ihre Dienste zu erkaufen?

„Sie wissen doch, was Sie mir damit antun!", fuhr sie anklagend fort.

„Natürlich weiß ich das!", erklärte er gleichmütig. „Dadurch, dass Miss McNamara nicht gestorben ist, bevor sich das Siegel aufgelöst hat, ist der Hirnfresser nicht vor Hunger geschrumpft und so ist er im Moment mit voller Größe in deinem Kopf und entzieht nun dir das Leben. Das, was er davon übrig lässt, nennen die Muggel irrtümlich Tumor."

„Ich habe mich noch nie so krank gefühlt!", fauchte sie. „Mein Kopf dröhnt immer noch, trotz Ihres Trankes, ich habe mich fast eine Stunde lang übergeben bevor ich hierher kommen konnte und ich brauchte einen Essenztrank, um den Weg zu schaffen."

„Ist es nicht schön, dies jahrelang nicht ertragen zu haben?", sagte er und schaute ihr tief in die Augen.

Sie schüttelte den Kopf.

„Versuchen Sie nicht, mir Schuldgefühle dafür zu machen", entgegnete sie ungehalten.

„Das habe ich nicht vor", sagte er ernst. „Dass du leiden musst, liegt nur daran, dass ich dich im Moment nicht für kritisch halte."

„Ach nein?", schrie sie ihn fast an. Je mehr sie sich aufregte, desto schmerzhafter hämmerte es wieder in ihrem Kopf. Hirnfresser liebten es, wenn das Blut reichlich zu ihnen floss.

„Nein. Du lebst doch noch und weißt genau, du wirst den Schmerz nicht lange ertragen müssen. Deshalb hielt ich mein Wohlergehen für wichtiger."

„Ihr Wohlergehen?", fragte sie erstaunt und wurde sofort deutlich ruhiger. Das war ihr mehr als neu.

Ihre Verwirrung schien ihn sehr zu amüsieren.

„Hast du geglaubt, ich hätte keinen persönlichen Grund gehabt dieses Ritual zu entwickeln?", blinzelte er sie verschmitzt an, doch seine Augen schauten kalt. „Der kleine McNamara ist mir sehr wichtig!"

„Wie wichtig?", erkundigte sie sich.

Er ging langsam weiter und winkte Gloria ihm zu folgen.

„Ich verdanke ihm fast alles und auch du ihm eine Menge. Ich bewundere ihn und ich möchte, dass er ein schönes und ausgesprochen langes Leben hat."

„Sie lieben ihn", unterstellte sie ihm und interpretierte damit seinen Ton. „Sind Sie mit ihm verwandt?"

„Nicht wirklich", schüttelte sich der Kopf unter der Kapuze. „Aber ja – vielleicht kann man das, was ich für ihn empfinde, Liebe nennen. Eher aber eine tiefgehende Dankbarkeit."

„Aber warum die Bewunderung?"

„Weil er fertig bringt, was ich nicht kann – meinen Wahnsinn kontrollieren", erneut schaute er ihr prüfend in die Augen. „Ich habe dir doch erzählt, wie ich in Selbstüberschätzung versuchte der Schüler Grindelwalds zu werden und leider feststellen musste, dass dieser schon einen Schüler hatte. Ich habe dir auch geschildert, wie er seinem Schüler an meinem Körper und Geist lehrte, was man alles mit einem Gefangenen anstellen kann."

Zum Beweis hob er seine Klauenhand vor ihre Augen und fuhr dann fort.

„Ich habe dir nicht erzählt, dass sie meinen Verstand fast in den Wahnsinn trieben.

Das schafften erst die drei Krankenpfleger, zu denen Albus Dumbledore mich nach seinem Sieg über Grindelwald brachte. Alle drei versuchten sie mir meine Geheimnisse und mein Wissen zu entlocken und sie schafften dies, indem sie meine Alpträume intensivierten und mir neue schickten. Danach durchsuchten sie mit Geistzaubern die Trümmer von dem, was von mir übrig geblieben war. Doch sie waren zu gründlich gewesen.

Nicht gewillt aufzugeben, versuchten sie alle meine Erinnerungen herauszulösen, weil sie hofften, sie danach in einem Denkarium ordnen zu können.

Zu ihrem Pech erwischten sie mich in einer meiner helleren Momenten und in einer Mischung aus Verzweiflung, Wahnsinn und unheimlicher Klarheit, wälzte ich meinen gesamten geistigen Ballast in einen von ihnen."

Hier lächelte ihr Meister grausam.

„Er merkte es nicht sofort. Erst als seine Träume immer schlimmer wurden und dann auch noch in den Tag hineinspielten – er nicht mehr wusste was Realität und was Einbildung war – erst dann begriff er.

Im Gegensatz zu heute war mein Vorgehen primitiv und brutal und es bestand danach noch immer eine Verbindung zwischen uns. Je weiter er seinen Verstand verlor, desto größer wurde meine Macht über ihn, bis ich ihn zwang mich freizulassen und meinen Tod zu beglaubigen. Danach versteckten wir uns und ich versuchte zu ergründen, wie ich diese Verbindung zustande gebracht hatte und wie ich sie dauerhaft machen konnte. Nach nur wenigen Wochen starb er und der Wahnsinn kehrte zu mir zurück. Ich weiß noch, wie ich durch die Straßen dieser Stadt lief und mir den erstbesten Muggel schnappte, nur um nicht erneut diese Träume ertragen zu müssen.

Ich glaube, ich tötete in dieser Nacht vier oder fünf von ihnen ehe ich Erfolg hatte. Die nächsten vier Jahre verbrachte ich damit, das Ritual zu entwickeln. Doch egal wie perfekt es mit der Zeit wurde und ob ich nun Muggel oder Zauberer meinen Wahnsinn aufzwang, keiner lebte länger als sechs Monate.

Das hat mich aber kaum gestört. Bis dann vor acht Jahren dieser kleine Junge durch einen Zufall mein Opfer wurde. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mehr als zwei Wochen durchhalten würde, doch er überraschte mich. Wobei ich nicht weiß, ob es nicht eventuell an seiner Schwester lag.

In einem der damals seltenen Momenten von Mitleid und auf die Idee eines Muggels hin, gab ich Rica McNamara die Erinnerungen an ihren Bruder zurück und zusätzlich pflanzte ich ihr die Erinnerung ein, dass sie ihren sterbenden Eltern das Versprechen gegeben hatte, sich um ihn zu kümmern. Der Muggel glaubte, mit der Liebe eines Anverwandten könne der Junge länger überleben. Was er ja auch hat. Leider hatten wir nicht damit gerechnet, wie weit die Fürsorge seiner Schwester gehen würde und wie hoch sie die Freiheit über die Gefahr für das körperliche Wohl setzte. Anscheinend sah sie in uns eine große Gefahr für ihren Bruder. Sie flohen und sie nahmen einen Siegelrubin mit. Ich ging davon aus, sie würden recht bald sterben, schließlich waren sie nur Kinder in einer gefährlichen Welt. Ich organisierte einfach nur Ersatz für sie, da die Übertragung der Zauberkraft des Jungen damals eh nur ein erstes Experiment gewesen war. Aber um den Rubin machte ich mir Sorgen.

Doch je länger ich bei Verstand blieb, desto mehr änderte ich meine Ansicht. Zu Beginn wollte ich sie noch fangen, aber je länger es dauerte, desto mehr Zweifel kamen mir. Ich begriff es erst später – ich entwickelte mich weiter. Die Möglichkeit zu rasten, den Verstand zur Ruhe kommen zu lassen, gab mir eine innere Ruhe, von der ich nie zu träumen gewagt hatte und glaub mir, die unschuldigen Träume eines kleinen Kindes können wirklich neue Wege eröffnen.

Aus diesem Grund unternahm ich nichts gegen sie, als wir sie in Hongkong aufspürten. Ich veranlasste eine heimliche Durchsuchung ihres Heimes, um den Rubin zu finden, doch sie schienen ihn nicht mehr zu besitzen. Also ließ ich sie dort leben und als sie Geld brauchten, um eine medizinische Behandlung für das Mädchen zu bezahlen, kaufte ich einige Gegenstände, die sie versteigern wollten, zu völlig überhöhten Preisen.

Ich ahnte nicht, dass sie planten gerade in Großbritannien eine Klinik aufzusuchen und als ich es herausfand, handelte ich etwas überstürzt. Ich fürchtete, wenn sie doch noch den Siegelrubin besaßen, könnte er hier einigen Zauberern oder Hexen in die Hand fallen, die damit etwas anzufangen wussten. Deshalb nahm ich den Jungen gefangen, nur um festzustellen, dass sie ihn immer noch nicht bei sich hatten.

Was ich jedoch feststellte, war seine unheimliche Willenskraft. Geisteszauber, Tränke, Drohungen, nichts hatte Erfolg. Das Einzige, was ihm wirklich Angst machte, waren seine Träume, die jedoch absolut und einzig auf seinen Schlaf beschränkt waren. Niemals ließ er zu, dass ein Traum seine wirkliche Welt durchdrang. Vielleicht liegt es daran, dass er genau unterscheiden kann, was Traum ist und was nicht? Ich weiß es nicht! Aber er besiegt seit Jahren jede Nacht etwas, dem ich selbst nicht widerstehen konnte, und schenkt mir ein normales Leben mit ruhigem Schlaf. Deshalb durfte er damals entkommen, wobei ich damit rechnete, er würde in der Nähe seiner Schwester bleiben – was er nicht tat, wie wir ja jetzt wissen."

„Warum haben Sie dann zugelassen, dass er in Hogwarts bleibt und man das Geheimnis des Rubins entschlüsselt", erkundigte sie sich. Er riskierte doch damit alles, was er besaß.

„Ein kalkuliertes Risiko", entgegnete er. „Ich bin einfach davon ausgegangen, er würde den Rubin benutzen, um seine Schwester zu retten."

„Sie sagten aber, Sie hatten eigentlich vor sie selbst zu retten?"

„Nun, vorgestern glaubte ich noch, sie hätten den Rubin wirklich nicht. Du wirst dich erinnern, ich gab die Anweisung sie zu holen, bevor wir von Aidan Davian wussten."

„Aber warum ist es so wichtig, dass sie lebt?"

„Weil ich glaube, dass sie Tarsuinn McNamaras Lebenskraft ist. Ohne sie ist sein Leben nicht mehr lebenswert. Selbst mit Zauberkraft und seinen Freunden in Hogwarts, vermute ich."

„Was ist mit der Gefahr, dass alles heraus kommt?"

„Die besteht natürlich!"

„Und was machen wir dagegen?"

„Wir werden ihn dazu bringen zu uns zu kommen. Freiwillig."

„Warum sollte er?"

„Verlass dich auf die Vorurteile der Leute und bestärke sie ein wenig. Mehr braucht es nicht. Vertrau mir. Und wenn es doch herauskommt – es gibt noch kein Gesetz dagegen, da niemand kennt was wir tun."

„Ihr seid der Meister."

„Ja, der bin ich. Aber nicht mehr lange, hoffe ich. Tritt ein."

Er öffnete vor ihr eine Tür.

Sie trat ein und erkannte sofort, wo sie waren.

„Alles ist vorbereitet", verkündete er lächelnd und deutete auf drei Liegen, von denen zwei von regungslosen Gestalten belegt waren.

„Wird es meinem Kind schaden?", fragte sie besorgt und hielt beide Hände an ihren inzwischen deutlich sichtbaren Bauch. Sie war im siebenten Monat und die Schwangerschaft hatte ihr Zielen und Trachten durchaus verändert.

„Keine Sorge", erwiderte ihr Meister. „Es wird nichts davon mitbekommen. Ich werde darauf achten."

„Sicher?"

„Ganz sicher. Die Spender passen beide perfekt zu dir, aber nicht zu deinem ungeborenen Kind. Das macht Auswirkungen unmöglich!"

Sie schaute auf die beiden besetzten Liegen. Obwohl – Liegen war hier vielleicht der falsche Ausdruck, flache Wannen traf es besser. Zwei Gestalten ruhten in einer Art Gelee, links und rechts der dritten Wanne, die noch leer war und auf Gloria wartete. Sie begann sich zu entkleiden, während Mr Banefactor durch den Raum schritt.

„Dies hier ist Rosa, vierzehn", erklärte er sanft und strich dem Kind über die Wange. „Ein Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist, weil ihr Vater sie schlug und ihre Mutter eine Alkoholikerin ist. Wir fanden sie völlig verwahrlost und halberfroren im letzten Winter. Sie wird dir ihre Stimme leihen. Akzeptierst du die Verantwortung, die du damit auf dich nimmst, Gloria Kondagion?"

„Ich werde für sie Sorge tragen und ihre Patin sein."

„Davon bin ich überzeugt. Sie wird ihre Stimme gegen ein sorgenfreies Leben und eine gute Schulbildung eintauschen."

Und man würde ihr erzählen, sie hätte einen Unfall gehabt, man wüsste, was ihre Eltern getan hätten und würde sie deshalb in eines von Mr Banefactors Waisenhäuser in Sicherheit bringen. Wahrscheinlich würde sie irgendwann aus Dankbarkeit für ihn arbeiten. Gloria kannte das. Sie selbst hatte einige dieser Rituale schon durchgeführt und auch die Nachsorge übernommen.

„Dies hier ist der schlagfertige Vater", fuhr Banefactor kalt fort. „Ich habe ihn vorgestern höchstpersönlich hierher gebeten, um uns zu Diensten zu sein. Er wird zurückkehren in sein widerwärtiges Leben. Er verdient keine Verantwortung von deiner Seite, doch er wird dies als Strafe Gottes empfinden."

„Das akzeptiere ich gern", sagte Gloria nur und atmete tief durch.

Vollkommen nackt legte sie sich auf die mittlere Liege und in die sehr kalte, geleeartige Masse. Die Arme hielt sie nach links und rechts.

Mr Banefactor legte die Hand des Mannes in ihre linke und die des Mädchens in ihre rechte Hand.

„Es ist deutlich einfacher, wenn man nur zwei Siegel erzeugen muss und nicht die erwarteten drei", lächelte ihr Meister Gloria aufmunternd zu.

„Warum eigentlich?", erkundigte Gloria sich und die Erinnerungen an den Drachenodem über ihrem Gesicht und in ihren Lungen ließ sie schaudern. „Warum haben sie bei Rica McNamara nicht alle Siegel gebrochen?"

„Ich vermute, sie haben nicht alles richtig gemacht. Schließlich blieb ihnen nicht viel Zeit. Bereit Gloria?"

Sie nickte und er begann.

Obwohl sie das Prozedere kannte, war es nicht weniger unangenehm, denn leider musste sie dabei bei Bewusstsein bleiben.

Während Banefactor seine Zauberformeln murmelte, kroch langsam das kalte Gel ihre Haut entlang. Nach wenigen Minuten war sie fast vollständig eingehüllt von der Flüssigkeit und den beiden Spendern erging es ähnlich. Kurz darauf legte sich das Gel auch über ihr Gesicht und hüllte sie völlig ein. Dies war der wirklich unangenehme Teil. Man versuchte Luft zu holen, doch es ging nicht. Stattdessen füllte das Gel die Lungen. Man würgte, man rang nach Luft, doch nichts. Sie war kurz davor in Panik zu verfallen, doch ihr Wissen ließ sie sich beherrschen. Das Gel, das jetzt langsam in ihre Haut eindrang, würde sie am Leben erhalten. Trotzdem versuchte ihr Instinkt immer wieder einzuatmen und das Gefühl zu ersticken war einfach übermächtig.

Sie spürte, wie die kalte Flüssigkeit ihren Körper durchdrang, wie diese sich um ihre vernarbten Lungen und um den Hirnfresser legte. Dann wurden Lunge und Hirnfresser aus ihrem Körper herausgelöst und flossen mit dem Gel nach rechts und links in die Körper ihrer Spender. Sekunden später kam in einer Welle die Gegenleistung und ein zusätzlicher Zauber passte die Spenden an ihren eigenen Körper an. Danach schwappte die kalte Welle aus ihrem Inneren zurück in ihre Hände, trat dort hinaus, traf auf das Gel aus den anderen Körpern und zusammen verfestigten sich die Flüssigkeiten zu zwei Steinen.

Und endlich erlaubte ihr das Ritual einen tiefen Atemzug.

Danach ging Mr Banefactor aus dem Raum. Ihre Finger umschlossen fest die beiden neu entstandenen Siegelrubine in ihren Händen, dann richtete sie sich mühsam auf. Sie legte die Steine auf einem kleinen Tisch ab, reinigte sich selbst, zog sich an und ergriff sinnend wieder die beiden Rubine. Nach einem kurzen Nachdenken, tat sie den des Mannes in die bereitgestellte Schatulle. Der Stein konnte noch zwei Siegel erzeugen, es gab sicher jemanden, der mit dem Geschenk des Lebens und der Gesundheit mehr anfangen konnte, als dieser Muggelabfall, auch wenn es nur für kurze Zeit sein mochte.

Den Siegelrubin des Mädchens steckte sie jedoch in ihre Tasche und trat zu dem immer noch bewusstlosen Mädchen. Versonnen strich sie über die Stirn der Vierzehnjährigen.

„Nur die Stimme", versprach sie leise. „Nicht mehr!"

Dann deckte sie ihr Patenkind mit einer Decke zu. Die Hauselfen würden sich gut um alles Weitere kümmern, das wusste Gloria. Trotzdem schaffte sie es nicht den Raum zu verlassen.

Sie hatte nun schon zum zweiten Mal dieses Ritual durchlebt und diesmal tat ihr Gewissen noch mehr weh, als beim ersten Mal. Auch wenn ihr Meister versuchte hatte, es ihr leichter zu machen. Er musste lange gesucht haben, um einen gesunden, passenden Menschen zu finden, der es auch noch verdiente. Trotzdem – es fiel ihr schwer zu ignorieren, dass er sterben würde. Und für ihn würde es nicht Jahre dauern, wie bei dem Mädchen namens Rica, sondern nur einige Wochen oder Monate. Der Hirnfresser war schon groß und würde ihn schnell umbringen. Natürlich bedeutete dies auch, dass alsbald ein neues Ritual für Gloria anstand, nur würde der Hirnfresser dann wieder klein und halb verhungert sein, da dann sein Wirt zuvor gestorben wäre.

Langsam ging sie zu dem Mädchen. Wenn man sie so liegen sah, war kein Unterschied zwischen Muggel und Hexe sichtbar. Sanft strich sie der reglosen Gestalt die Haare aus dem Gesicht. Es war schon recht, dass minderes Leben das Leben von Zauberern und Hexen verlängerte oder verbesserte. Muggel waren es, welche die Erde töteten. Zauberer und Hexen waren es, welche die Welt im Gleichgewicht hielten. Trotzdem war es auch richtig, wenn man die Muggel belohnte, die spendeten. Sie hatten ein gutes Leben verdient und inzwischen hatte Gloria gelernt, wie nützlich und effektiv Muggel sein konnten, wenn sie gut angeleitet wurden.

„Schlaf dich aus", sagte sie zu dem Mädchen mit einer jugendlich sanften Stimme, die nur in Nuancen von ihrer alten abwich. „Morgen beginnt für dich ein besseres Leben und ich werde für eine bessere Welt sorgen."

Dann wandte sie sich ab und ging.

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