Teil 2 – Rastlos


Eine unheilvolle Dämmerung brach herein und eine sternenlose Nacht senkte sich auf den Wald hinab.
"Es sind wahrlich düstere Zeiten, wenn selbst die Sterne vor Grauen vergessen zu leuchten...", murmelte Legolas, als er einen Blick in den Nachthimmel warf.
Andeliniel nickte stumm und bemühte sich weiterhin mit Legolas Schritt zu halten. Plötzlich blieb Legolas stehen. „Wir sollten Rast machen."
Doch Andeliniel schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich will endlich fort aus Düsterwald. Zu schrecklich sind die Erinnerungen an den heutigen Tag, als dass ich es hier länger als erforderlich aushalten würde. Meine Seele würde keine Ruhe finden..."
Legolas atmete tief durch. „Ich weiß, dass dieser Ort zu viele Erinnerungen birgt, doch es ist dunkel und ich spüre, dass deine Kraft nachlässt. Den ganzen Tag schon setzt du unermüdlich einen Schritt vor den anderen. Die Geburt hat dir mehr deiner Energie geraubt als du zuzugeben bereit bist."
"Ich bin einfach nicht dazu bereit als Sklavin meiner eigenen Schwäche zu enden. Solange meine Füße noch vermögen mich zu tragen, werde ich sie auch benutzen. Mein schwacher Körper wird mich nicht an einem Ort halten, der für mich nichts bereit hält als tote Ruinen. Mein Geist ist stark, er zwingt mich durchzuhalten.", sprach sie trotzig.
Ruckartig drehte Legolas sich zu ihr um. Er sah ihr fest ins Gesicht. "Deine Worte sind wohl gewählt und wollen mich beinahe glauben lassen, dass es stimmt, was du sagst. Jedoch bedeutet mir mein Herz nicht auf dich zu hören. Ich habe dich gesehen, Andeliniel. Die Geburt des Kindes hat dir nicht nur die Kraft, sondern auch die Seele geraubt. Dein Körper ist hier bei mir und kämpft sich durch Berge von Leichen, doch deine Gedanken verweilen bei deinem toten Sohn."
"Denkst du nur weil du ein Prinz bist, kannst du mich verurteilen?", rief Andeliniel gereizt und ihre Augen schienen Funken zu sprühen.
"Seit heute bin ich kein Prinz mehr, Andeliniel. Es gibt keine Düsterwald-Elben mehr. Wie sollte es da einen Prinzen geben?! Überdies verurteile ich dich nicht! Ich tat nichts, als die Wahrheit zu sprechen! Und wenn du weiterhin versuchen möchtest deinen eigenen Lügen Glauben zu schenken, so kannst du dies tun – und zwar während wir rasten!"
Sanft drückte er Andeliniel auf den Boden. „Setz dich.", fügte Legolas überflüssigerweise zu.
Empört sah sie zu ihm auf. „Aber ich will ni-"
"Aber ich will, dass du rastest! Wenn du vor Schwäche umfällst, dann wird es noch längere Zeit in Anspruch nehmen den Düsterwald zu verlassen.", erwiderte Legolas und ließ sich ebenfalls auf dem erdigen Waldboden nieder. „Gerne würde ich dir etwas zu essen geben, doch die Yrch* haben alles geplündert. Nichts mehr ist von Düsterwald übrig – weder Vorräte noch Bewohner...", seufzte er und es war offensichtlich, dass es seinem Herzen, angesichts all der Trauer, schwer fiel weiter zu schlagen. „Schlaf jetzt!"
Andeliniel gehorchte und streckte sich auf dem kalten Boden aus. Bilder des Kampfes überkamen sie und sie kniff verzweifelt die Augen zu, um die schrecklichen Gedanken zu verdrängen.
Sie spürte eine sanfte Bewegung und als sie die Augen öffnete sah sie, dass Legolas sie mit seinem Umhang zugedeckt hatte.
"Aber Leg-", versuchte sie gegen seine Führsorglichkeit zu protestieren, doch er unterbrach sie. „Nein, sprich nicht... Schlafe jetzt und schone deine übrige Kraft. Uns steht eine weite Reise bevor." 

*-*-*

Kein Laut außer dem gleichmäßigen Atmen Andeliniels durchbrach die unendliche Stille der Nacht.
Legolas saß allein auf einem Stein in der Nähe von Andeliniels Lager. Betrübt sah er in den dunklen Himmel und stumme Tränen rannen von seiner Wange. 3000 Jahre waren eine lange Zeit, um sich an andere zu gewöhnen. Und es schmerzte, wenn der plötzliche Verlust wie ein Pfeil ins Herz traf.
Legolas spürte, wie seine Seele unter all dem Schmerz zu zerreißen drohte. Doch das Geschehene war zu schrecklich, als dass er es aus seinen Gedanken hätte verbannen können. Den ganzen Tag schon, als er mit Andeliniel durch den Düsterwald gewandert war und die Hoffnung weitere Überlebende zu finden erloschen war, hatte er versucht stark zu sein. Er wollte Andeliniel nichts von seiner Wut und seiner Trauer erkennen lassen.
Doch nun, wo er allein und unbeobachtet war, brachen all diese Gefühle in Form von Tränen aus ihm heraus. Er wünschte sich in die Arme seines Vaters, wollte dem engelsgleichen Gesang anderer Elben lauschen...
Zögerlich griff Legolas nach einem seiner Dolche. Das bleiche Mondlicht spiegelte sich in der glatten Klinge.
Was hielt ihn schon noch hier? War es etwa seine Aufgabe nach Bruchtal zu reisen? Wieso sollte er den alten Fehler beheben?
Leise, flüsternde – zischende- Stimmen drangen in seine Gedanken. „Tu es! Beende es! Sei kein Feigling!"
Dann die Stimme seines Vaters: „Legolas, mein Sohn. Komm zu mir. Wieso willst du alleine bleiben, wenn du doch zu mir kommen kannst? Jederzeit. Sofort."
Mit zitternden Fingern strich Legolas über die kalte Klinge des Dolches. Die Stimmen wurden lauter, unerträglich. Er wollte ihnen gehorchen.
Er führte den Dolch zu seiner Brust, platzierte ihn direkt an seinem Herz. Er wollte zustechen.
Andeliniel schrie laut auf und schien sich unter Schmerzen aufzubäumen. Legolas ließ den Dolch fallen. Mit einem leisen Klirren kam er auf dem Boden auf und das fahle Mondlicht beleuchtete einen einzelnen Tropfen Blut an der Spitze der Schneide.
Langsam ließ Legolas sich neben Andeliniel auf den Boden gleiten. Noch immer schrie sie, wie unter enormer Pein. Vorsichtig griff Legolas nach ihren Schultern und begann sie leicht zu rütteln. „Andeliniel, wach auf...", flüsterte er leise und schluckte seine Tränen hinunter.
Mit einem heiseren Keuchen setzte Andeliniel sich plötzlich auf. Ihr Atem ging rasselnd und ihr Blick irrte verängstigt durch die Nacht.
"Ruhig... Ich bin es, Legolas.", sprach der Elb sanft und nahm seine Hände von Andeliniels Schultern.
"Legolas... Ich, ich..." Sie brach in Tränen aus.
"Es war nur ein Traum... Was auch immer du gesehen haben magst, Andeliniel, es war nicht wirklich.", flüsterte Legolas und versuchet sich unauffällig die Spuren seiner Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
Andeliniel schluckte trocken. „Doch, es war wirklich... Noch heute war es die Wirklichkeit.", schluchzte sie und befreite sich unbeholfen aus Decke.

*-*-*

Die vergangene Schlacht

Kampfgeschrei... Gehört wie durch eine Nebelwand, die alle Laute verschluckt...
Kriechen... Schnell, schnell! Fort vom Kampf... Fort...
Leichen, Elben, Orks... Tot, blutend, schreiend, jammernd... Earendil** schick Hilfe!
Allein, so allein... Schmerzen... Ungeheuere Schmerzen...
Ächzend, stöhnend, wimmernd... Wieso? Wieso jetzt?
Blut, überall... Stinkend... Tropfend...
Diese Schreie, diese schrecklichen Schreie... Die Laute des Todes...
Nein, nicht die Toten... Die Lebende... Sie ist es... Sie schreit, als würde der Tod vor ihr stehen, doch es ist das neue Leben, das sie dazu bringt...
Tränen laufen über den schreienden Mund... Tränen der Freude unter all der Trauer...
Neben ihr stirbt ein Ork... Kriechen... Fliehen... Verstecken...
Schnell, schnell! Sonst ist es zu spät!
Endlich weit genug fort... Aufatmen... Allein...
Erneute Schmerzen... Als wollte ihr jemand den Bauch aufschlitzen...
Der eigene Herzschlag in ihren Ohren... Es beginnt...
Blut... Soviel ihres eigenen Blutes... Wimmernd, schreiend... Schmerz....
Sie schreit, wie besessen... Es dauert... es dauert so furchtbar lang...

Endlich vorbei... Überstanden... Sie wartet auf den lebendigen Schrei...
Es ist still... So schrecklich still... Kein Schrei, kein Laut...
Allein... Tränen laufen ihr über das Gesicht... Tränen der Trauer unter all der anderen Trauer...
Noch ist es warm, doch es liegt herum, wie die anderen Toten...
Schreie... Die Schreie der Sterbenden... Kein Schrei des Kindes...

Schatten...

*-*-*

Langsam näherte Legolas sich der schluchzenden Andeliniel. „Es tut mir Leid..."
"Nein, du trägst schließlich keine Schuld... Es ist nur... die Erinnerung an das Geschehene... Und ich... ich weiß nicht, ob ich jemals vergessen werde können, was geschah... Ich habe ein Kind unter meinen Herzen getragen und es scheint mir, als hätte ich mein Herz nun zusammen mit meinem Sohn verloren..."
Erneut stiegen Tränen in Legolas hinauf. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber kurz darauf wieder.
Schließlich besann er sich. „Versuche wieder einzuschlafen, Andeliniel. Wir werden morgen mit den ersten Strahlen der Sonne aufbrechen."

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*Sindarin: „Orks"

** Quenya „Meeresfreund": Tuors und Idrils Sohn, einer der Halbelben, heiratete Elwing und fuhr mit ihr und dem von Beren und Lúthien gewonnenen Silmaril auf seinem Schiff Vingilot nach Aman, um Hilfe für die Elben und Menschen von Mittelerde zu erbitten. [...] Earendil wurde mit Vingilot und dem Simaril in die Ozeane des Himmels erhoben, wo er morgens und abends als ein hell leuchtender Stern zu sehen ist. [...]

Das Handbuch der Weisen von Mittelerde; „Earendil"

Ich hoffe, dass euch dieser Teil gefallen hat. Ich habe ziemlich lange dran geschrieben... Es war schwer die Gefühle der Charaktere zu beschreiben, was mir sehr wichtig in diesem Kapitel war. Ich hoffe, dass die Gefühle einigermaßen gut rausgekommen sind. Wenn nicht, dann schreibt mir ein Review und wenn doch, dann auch :-) Ich würde mich nämlich gaaaaaaaaaanz doll über jedes einzelne Review freuen!

an Meldis: Noch mal ganz vielen lieben Dank für das nette Lob! Und das von der Meisterin höchst persönlich :-)