Teil 6 – Mondenlicht

Dunkle Schatten vor flackerndem Feuer… Blut in geschmeidiger, fließender Bewegung… Stille… Gestank nach verbranntem Fleisch… Versiegte Tränen, leere Augenhöhlen…
Plötzlich ein Grollen, so laut, dass der Boden erzittert und das Blut hohe Wellen schlägt.
Der Sieg Saurons – das Ende Mittelerdes…

Legolas schreckte hoch und eine zarte Hand legte sich auf seine Schulter. „Nichts als Träume, Legolas…", murmelte eine schwache Stimme beruhigend. Er spürte wie das leise Wispern ihn einlullte. Sein unstetiger Atem beruhigte sich und erneut ergriff der tiefe Schlaf Besitz von ihm.

*-*-*

Es war Nacht, als er das nächste Mal aufwachte. Der volle Mond schien durch die hohen Fenster seines Zimmers und hüllte alles in bleiches Licht.
Leiser, wehmütiger Gesang drang von draußen herein und Legolas machte sich, wie von einer höheren Macht geführt, auf den Weg nach draußen.
Sein Kopf schmerzte noch immer und die dunklen Träume vieler Nächte schwirrten durch seine Gedanken. Ungreifbar und doch gegenwärtig.

*-*-*

Kühler Wind schlug ihm entgegen, als er ins Freie trat, und trug den leisen Gesang näher zu ihm heran.
In den Gärten Bruchtals blühten noch immer Blumen und es schien, als würde keine Macht der Welt mächtig genug zu sein, um ihren betörenden Duft zu zerstören.
Die zarten Blüten wurden vom Mond erhellt und doch wirkte es, als würden sie selbst von innen heraus leuchten.
Immer weiter folgte Legolas der traurigen Melodie, bis er schließlich stehen blieb.
Am Ufer eines silberglitzernden Sees saß eine Elbin und blickte zum Vollmond, während sie sehnsüchtig sang.
"Andeliniel…", flüsterte Legolas und trat auf sie zu. Die Elbin unterbrach ihr Lied und drehte sich langsam zu ihm um. Legolas erschrak, als er in ihr Gesicht blickte. Sie schien um viele Menschenjahre gealtert zu sein und doch lächelte sie.
"Wie geht es dir Legolas?", fragte sie leise und blickte ihn mit milchigen Augen an.
Er setzte sich zu ihr. „Es geht mir gut. Danke. Was tust du hier draußen?"
"Abschied nehmen…", antwortete sie mit heiserer Stimme.
"Abschied? Wovon?", fragte er und folgte ihrem Blick hinüber zum anderen Ufer. Die mächtigen Bäume Bruchtals säumten den See auf der gegenüberliegenden Seite und wirkten ihm fahlen Mondlicht, wie hölzerne Gebeine.
"Abschied vom Leben.", antwortete Andeliniel und tauchte ihre zitternde Hand in das klare Wasser des Sees.
Legolas schüttelte betrübt den Kopf. „Nein, bitte verlass mich nicht, Andeliniel. Lass mich nicht allein.", flehte er.
"Ich kann nicht. Meine Zeit ist gekommen… Hörst du nicht, wie Mandos* nach mir ruft? Es ist Zeit in die ewigen Hallen einzukehren…"
"Nein… Nein… Bleib bei mir…", bat Legolas und Tränen benetzten sein blasses Gesicht.
Plötzlich drehte sie sich zu ihm um und sah ihm tief in die Augen. „Komm mit mir, Legolas. Der Weg ist einfach, einfacher als all die anderen Wege, die du schon gegangen bist.", flüsterte sie beschwörend.
"Nein… Nein, ich kann nicht.", antworte er und versuchte aufzustehen, doch Andeliniel hielt ihn fest.
"Ich habe dich gesehen, Legolas. Die letzten Tage, die du ihm Schlaf verbracht hast, waren leidvoll. Wieso willst du dich noch weiter quälen? Die Tage der Elben sind gezählt - die Tage Mittelerdes sind gezählt. Komm mit mir über das Meer zu den Totenhäusern*. Bleibe nicht zurück, in dieser grausamen Welt.", sprach sie nachdrücklich und griff nach seiner Hand.
Ihre kalten Finger schlossen sich um seine, der Hauch des Todes hatte Andeliniel bereits umschlungen.
Legolas schluchzte. „Nein, Andeliniel verlass mich nicht. Nicht auch noch du, bleib bei mir… Bitte…"
"Wenn du nicht mitkommst, werde ich alleine gehen müssen. Ich werde auf dich warten…" Sie lächelte sanft und schloss die Augen.
Ihre Finger, die sich noch immer an Legolas' Hand klammerten wurden starr und jegliches Leben wich aus ihrem Gesicht.
Eine schwere Wolke schob sich vor den Mond und das geheimnisvolle Glitzern des Sees verschwand.

*-*-*

Astern

Astern – schwälende Tage,
alte Beschwörung, Bann,
die Götter halten die Waage
eine zögernde Stunde an.

Noch einmal die goldenen Herden
der Himmel, das Licht, der Flor,
was brütet das alte Werden
unter den sterbenden Flügeln vor?

Noch einmal das Ersehnte,
den Rausch, der Rosen Du-
der Sommer stand und lehnte
und sah den Schwalben zu,

noch einmal ein Vermuten,
wo längst Gewissheit wacht:
die Schwalben streifen die Fluten
und trinken Fahrt und Nacht.

(Gottfried Benn)

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*Mandos (auch „Námo"; Verkünder, Richter) ist der Schicksalsrichter der Valar und Hüter der Totenhäuser im Westen von Valinor, an den Ufern des Außenmeeres.
In Mandos Hallen sitzen die erschlagenen Elben und warten auf ihre Wiedergeburt oder das Weltenende.
Das Handbuch der Weisen von Mittelerde; „Mandos"


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Uff, ich weiß es hat ziemlich lange gedauert und es ist auch nicht gerade allzu lang geworden. Aber es hat ein wenig Zeit gedauert, bis die Muse mich geküsst hat. Außerdem war ich mir lange nicht sicher, ob ich sie wirklich sterben lassen soll. Tja, ich hab's getan.
Schreibt mir bitte, bitte ganz viele und lange Reviews zu diesem Kapitel, weil ich wissen möchte, wie es euch gefallen hat!
Viele liebe Grüße! Kröte