Curriculum 09: Bestimmung

Galew spürte einen kräftigen Schlag und sah sich wütend um. Der Victim hatte ihn getroffen!

"Leena! Das große Kaliber! Dem brat ich eins über, dass es ihn in Stücke reißt!"

Seine Lotsin gehorchte, gab die nötigen Daten ein und die Eeva Leena erhielt ihre Waffe. Der grünhaarige Pilot feuerte eine riesige Salve ab, doch sein Gegner baute ein Schutzschild auf und kam unbeschadet davon.

"Verdammt!"

Erts wurde von dem anderen Victim in die Enge getrieben, doch plötzlich tauchte die Ernn Laties vor der Grünen Göttin auf und schwang ihr Schwert. Die Kreatur wich jedoch gekonnt aus. Teela fluchte leise. Noch nie hatte sie einen so geschickten und aufmerksamen Feind gehabt! Die Agui Keameia verwendete einige ihrer Granaten (kann man die Teile so bezeichnen?), doch die zwei Wesen zeigten sich davon kaum berührt. Eines von ihnen öffnete das Maul und eine gigantische Energiekugel raste auf eine Gruppe von PRO-INGs zu. Im letzten Moment fuhr Einheit #88 dazwischen und errichtete eine Barriere um sich und seine Mitstreiter.

"Gute Arbeit, Nr. 88!" rief Azuma und hielt einen Daumen hoch.

Hiead legte sein Gewehr an, zielte und schoss, doch der Victim schleuderte die Schüsse zurück als wäre es nichts. Erschrocken ging er in Deckung, doch der Mecha wurde an der Schulter getroffen. "Argh!"

Ikhny unterdrückte einen Aufschrei. Oh nein, er war verletzt! Doch halt! Sie durfte sich jetzt nicht in ihrer Angst verlieren, so würde sie ihm gewiss keine Hilfe sein! Auch wenn sie ihn liebte, wenn sie jetzt den Kopf verlor, konnte das sein Ende bedeuten, und das wusste sie. Saki berührte flüchtig ihre Jackentasche, in der sie Clays Brille barg und drückte sie sanft an ihr Herz. Noch war alles in Ordnung, es bestand keine Gefahr für ihn, solange er nicht angriff. Plötzlich bemerkte sie, wie beide Victims gleichzeitig auf eine größere Ansammlung von PRO-INGs zusteuerten. Wie im Traum sah sie #89 aus den Reihen hervorbrechen, dicht gefolgt von #85 und #86. Wrecka und Tsukasa stießen einen furchterfüllten Ruf aus. Die drei Einheiten umkreisten die Kreaturen, die wild um sich schlugen, ohne darauf zu achten, wohin sie trafen. Roose entkam durch einen Salto einem neuen Geschoss, während Yamagi nach unten abtauchte, um dem stachelbewehrten Schwanz des Wesens zu entgehen. Clay zog sein Schwert und hieb nach einem der grässlichen Fangarme. In der nächsten Sekunde fand er sich davon umsponnen und wurde zum Maul seines Gegners gezerrt. Sakis Gesicht wurde aschfahl.

"Lass ihn in Ruhe, du Missgeburt!"

Teela hackte die fleischigen Fesseln auseinander und der Top-Schüler bedankte sich und kehrte zu seinen erleichterten Freunden zurück. Nachdem sie den Jungen gerettet hatte, fixierte sie ihre abstoßenden Kontrahenten. Sie konzentrierte sich und ihr Haar leuchtete türkis auf. Ruhig schloss sie die Augen und erinnerte sich an ihre Begegnung mit IHM. Als sie eben die Arme über Kreuz legen wollte, um ihre EX-Attacke loszulassen, spürte sie, wie einer der Victims seine falkenartigen Klauen um den Rumpf der Weißen Göttin schlang und sie mit dieser eisernen Klammer erbarmungslos festhielt. Die zweite Bestie bereitete ein vernichtendes Geschoss vor. Zero sah das. Entsetzt machte er mitten in der Bewegung kehrt und raste mit atemberaubender Geschwindigkeit zur Ernn Laties, um ihr zu helfen. Die Eeva Leena schoss eine neue Salve ab, doch die Kreaturen blockten den Angriff ab. Rioroute platzierte erneut einige Granaten, doch auch sie zeigten keine Wirkung. Die Reneighd Klein versuchte, von oben durch das Schutzschild der Victims durchzustoßen, aber es gelang ihr nicht. Zero jagte einen wahren Kugelhagel in die seltsame, wie eine Blase geformte Barriere. Auch er blieb erfolglos.

"Teela! Hörst du mich?! Antworte!" schrie Galew verzweifelt.

Das Geschoss krachte frontal auf die Ingrid und schleuderte diese mehrere Kilometer weit in das nachtschwarze All.

"TEELA!!!!"

Die drei anderen Göttinnen und Zero folgten dem Mecha. Erts überholte die Ernn Laties und fing sie auf. In seinem Kopf formte sich ein entsetzliches Bild. Blut....!

"Eeva Leena und Agui Keameia zurück zum Kampf! Bergung wird übernommen von Reneighd Klein und Einheit #88!" entschied Zero energisch.

"Was denkst du dir eigentlich, Anwärter?!" schnauzte Gareas ihn an.

"Ich denke mir, dass es ein paar Kadetten nicht ohne euch schaffen werden, die Victims zu besiegen! Also, kehrt um und unterstützt sie!"

Der Befehlston in seiner Stimme ließ keinen Widerspruch zu und die beiden Piloten begaben sich wieder zu den gefährlichen Wesen. Erts stützte die Weiße Göttin noch immer, seine Augen waren vor Unglauben und Fassungslosigkeit geweitet. Das konnte nicht sein....! Sie konnte doch nicht....!

"Teela!" brüllte der braunhaarige Junge gegen das Kampfgetöse an. "Sag etwas, irgendwas! Kannst du mich verstehen?! Verdammt, Teela!!"

Diese Frau war seine Verbindung zu all den Rätseln, die ihn, seine Person, betrafen, sie war diejenige, die ihm das Leben gerettet hatte, damals, als einer der Invasoren seine Kolonie angegriffen und die Schutzhülle gegen das Weltall zerstört hatte. Dort draußen im luftleeren Raum wäre er ohne sie erstickt. Und nun sollte sie....?! Tränen traten ihm in die Augen.

"Hörst du mich?! TEELA!!!"

Auf einmal breitete sich in seinem Cockpit ein gleißendes Licht aus und er musste sich mit den Händen vor der strahlenden Helligkeit schützen. Als er wieder sehen konnte, stand die Top-Pilotin vor ihm. Ob das auch eine Projektion ihres Geistes war, wie letztens?

"Mein Schicksal hat sich heute erfüllt, Rei. Ich werde meinen vorherbestimmten Platz einnehmen, so wie du den deinen."

"Deine vorherbestimmten Platz? Ich weiß nicht, was du meinst...."

"Siehst du?"

Sie deutete mit ihrer Hand auf die Weiße Ingrid und beschwor ein Bild der Pilotenkanzel herauf. Zero erstarrte. Teelas Kopf war nach hinten gekippt, das lange Haar fiel ihr wirr in die Stirn. Sie wirkte friedlich, fast so, als würde sie schlafen. Doch das Blut, das ihre Schläfe entlanglief, strafte diesen Eindruck Lügen. Sie war tot.

"NEIN!"

"Aber es ist so. Es war nicht geplant, dass ich meinen Körper überhaupt über eine so große Zeitspanne hinweg behalten würde. Ich wurde geboren, um die Seele einer Göttin zu sein, um ihr ihre unverwechselbare Kraft zu verleihen und um ihren wahren Piloten zu schützen, sollte er endlich seine Aufgabe übertragen bekommen. Pilot zu werden ist kein Lebensziel, aber ein Pilot zu SEIN, ist etwas ganz anderes. Du wirst diese Welt retten. Es ist deine Bestimmung."

"Meine Bestimmung? Was heißt das? Es war nicht geplant, dass du deinen Körper behältst? Was soll das bedeuten? Die Seele einer Göttin? Ich verstehe kein Wort! Ich habe doch noch so viele Fragen! Warum sind wie ,gleich', wie du gesagt hast? Was wird hier eigentlich gespielt? Und woher kennst du meinen richtigen Namen?"

"Finde den ,Guardian'. Er wird dir deine Fragen beantworten."

"Den....'Guardian'? Wer oder was ist das?"

"Er ist der Hüter des Retters von Zion. Durch seine Adern fließt dasselbe Blut wie durch deine. Finde ihn....und alles wird klar werden!"

Ihre Erscheinung begann zu verblassen und war schließlich ganz verschwunden. Zero blieb der Mund offen stehen. Was ging hier bloß vor?! Wild schüttelte er den Kopf. Was hatten diese Geheimnisse mit ihm zu tun?! Er konnte doch unmöglich allein den Letzten Planeten vor der Vernichtung bewahren! Wie sollte er das schaffen?! Wütend biss er sich auf die Lippen. Jetzt war er noch verwirrter als vorher! Das Durcheinander seiner Gedanken wurde von Erts' monotoner Stimme durchbrochen.

"Mr. Revord - hier spricht Erts Virny Cocteau, Pilot 05. Rapport vom Schlachtfeld. Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Teela Zain Elmes, Pilot 01, tödlich verwundet wurde. Wir können nichts mehr tun."

Ein langes Schweigen antwortete ihm am anderen Ende der Leitung.

"........Bergen Sie den Leichnam und bringen Sie die Ingrid zur Station zurück. Ich werde die Bestattungszeremonie in die Wege leiten."

Gerade, als Maschine 05 die andere Göttin unter den Armen packte, um sie nach GIS zu fliegen, ertönte ein Schmerzensschrei. Dank seiner telepathischen Fähigkeiten hatte der blonde Junge rasch die Quelle dessen ausgemacht. Einer der zwei Victims hatte sich vom Brennpunkt des Gefechts entfernt und Zero attackiert. Dieser, immer noch wie gelähmt von dem, was er soeben erlebt hatte, konnte nicht mehr ausweichen. Ein PRO-ING hatte sich dazwischen geworfen. Auf dem mattgrauen Panzer schimmerte die Zahl 87.

"HIEAD?!"

"....Es ist.....schon zum Kotzen mit dir.....Da schwingst du große Reden über die Gefühlswelt anderer.....und kannst nicht mal.....auf dich selbst aufpassen.....Du bist also doch ein Idiot...."

Ein blutiges Rinnsal tröpfelte aus seinem Mundwinkel.

"Warum hast du das getan?!"

"..............................Hmpf! Warum wohl......?" grinste Hiead unverschämt und abschätzend. "Stell dich nicht dümmer.....als du eh schon bist.....Du hast es.....doch selbst gesagt.....Wir sind.....Freunde....." Zeros musste schlucken, als er das hörte. Seine Augen flirrten über das Kampfgetümmel. Teela war gestorben. Seine Freunde und Kameraden waren verletzt, sogar sein einstiger Rivale hatte sein Leben riskiert, um ihn zu schützen. Zion war in Gefahr. Die Victims würden diese Schlacht gewinnen, wenn nicht bald etwas geschah! Ein unbändiger Zorn stieg in ihm hoch. All dieser Schmerz....das Leid....die Tränen....die Opfer....alles nur wegen diesen verfluchten....!!!

"DAS WERDEN SIE BÜßEN!!!!"

Sein Haar erglühte türkis und blaue Blitze umgaben den Jungen. Hiead hielt unwillkürlich den Atem an. PRO-ING #88 legte die Arme über Kreuz und entsandte eine gigantische Energiewelle, die den ersten Victim zermalmte. Azuma fiel die Zigarette aus dem Mund, als er diese gewaltige EX-Reaktion sah. Bevor er richtig begriffen hatte, was gerade los war, verschwand die Einheit einfach, als hätte sie sich unsichtbar gemacht. Im Bruchteil der nächsten Sekunde tauchte sie vor dem anderen Angreifer auf und mit einem Mal schien es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Zero zog sein Schwert und schlug seinen Feind in der Mitte entzwei. Sein Haar leuchtete noch immer. Langsam beruhigte er sich. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und die Zeit kehrte in ihre normalen Bahnen zurück. Der Kampf war entschieden. Kizuna konnte es nicht fassen. War das....ihr Rei gewesen?

Teelas Körper lag, umgeben von unzähligen Blumen, in einem Sarg, ihr Gesicht immer noch wie schlafend. Die Belegschaft von GIS hatte davor Aufstellung genommen. Erts legte Tune die Hand auf die Schulter und sie wandte sich zu ihm um, um ihm dankbar zuzulächeln. In ihren Wimpern hingen Tränen. Kazuhi stützte ihren genesenden Bruder ein wenig. Beide wirkten gesetzt, aber dennoch betroffen. Rio hielt während der Zeremonie die Hand seiner Lotsin und er merkte, wie sie zitterte. Gareas trat nach vorne, wechselte einen Blick mit Leena, die krampfhaft ihre Schluchzer zu verbeißen versuchte, und vollführte das Ehrenzeichen.

"Die letzte Ehre!"

Der Sarg wurde geschlossen und ins All hinausgeschossen, wo er in Richtung Zion schwebte. Heute schien der Planet in ein beinahe unwirkliches Licht getaucht zu sein. Nach dieser traurigen, aber festlichen und auch schönen Bestattung, die dem Charakter Teelas und ihrem Mut und ihren Verdiensten Genüge getan hatte, kehrte Phil Phleira in ihr Quartier zurück, sank auf ihr Bett und brach in Tränen aus. Es war einfach schrecklich, wenn jemand starb! Warum konnte nicht endlich Frieden herrschen?! Es klopfte. Sie schluckte mühsam und bat den Besucher herein. Es war Rioroute.

"Hi! Ich....hab mir gedacht, diese Sache nimmt dich ganz schön mit und na ja, da wollte ich noch mal nach dir sehen. Es ist dir doch recht?"

"Ja, natürlich. Komm rein."

Verzagt betrachtete sie ihn, wie er vor dem Fenster ihres Raumes stand. Seine Haut war von einem gesunden Schein übergossen und seine Augen leuchteten warm und tapfer. Er war wunderschön in der Stärke und Kraft seiner Jugend. Nachdem er eine Weile nach draußen geblickt hatte, seinen eigenen Gedanken flüchtig nachhängend, wandte er sich zu Phil Phleira um und lächelte ihr zärtlich zu. Ein elektrisierender Schock durchfuhr sie. Sie liebte ihn in diesem Augenblick mit einer solchen Heftigkeit, dass sie dem Drang nicht zu widerstehen können glaubte, sich an ihn zu pressen, ihn mit Küssen zu bedecken und ganz leise leidenschaftlich zu rufen: "Rio! Oh Rio, mein Liebster!" Er stutzte über den verwirrten Ausdruck in ihrem Gesicht. Er bedeutete ihr, sich neben ihn auf das Bett zu setzen. Rio vermutete, dass Teelas Tod sie so aufgewühlt hatte. Auch ihn hatte es getroffen, doch jetzt war das nicht mehr wichtig, denn er meinte, dass Phil Phleira seinen Beistand nun wesentlich nötiger hatte. Sie kam zögernd näher und nahm neben ihm Platz, vermied es jedoch, ihn direkt anzusehen. Dies verwunderte ihn nur noch mehr und er legte ihr fürsorglich den Arm um die Schultern, um sie zu trösten.

"Tu das nicht", flüsterte sie leise. Er begriff nicht. Hing es etwa mit ihm zusammen?

"Habe ich....dir irgendwie wehgetan? Habe ich dich durch irgendwelche unbedachten Worte verletzt? Wenn ja, dann sag es mir!"

Sie schüttelte den Kopf.

"Das ist es nicht....bitte, lass mich los. Ich....ich....fürchte mich....."

"Vor den Victims? Seit wann denn das? Oder vor dem Krieg an sich? Aber du warst doch immer so mutig....Fürchtest du dich etwa....vor....mir? Phil Phleira, was ist denn?! Ich kann es nicht verstehen, wenn du es mir nicht erklärst!"

Er ergriff ihre Schultern und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Die ihren schwammen in Tränen, was ihn schmerzte.

"Was ist denn nur? Sag es mir!"

Seine Stimme flehte, verzweifelt vor Angst, sie möglicherweise verloren zu haben. Ihre Lippen zitterten. Das erdfarbene Feuer, das ihr entgegenblickte, verbrannte sie förmlich und jagte ihr ein irritierendes und zugleich angenehmes Prickeln über die Haut.

"Du....verstehst....nicht...." brachte sie mühsam hervor. "Ich.....fürchte mich vor dem, was du....was du in mir auslöst.....Teela ist tot und mir ist, als würde alles über mir zusammenfallen.....und dann kommst du und fängst mich auf....Ich glaube, noch nie zuvor war mir deutlicher bewusst als heute, dass ich eine Frau bin....und du ein Mann....Der Tod ist es, den ich fürchte, Rio. Ich habe mir immer jemanden gewünscht, der mich festhält, der für mich da ist, wann immer ich ihn brauche, der....der mich wärmt, wenn die Kälte der Welt einen Menschen aus dem Leben reißt, den ich gekannt habe und die daraufhin in mich eindringt wie eine Krankheit....Dir würde ich alles geben, ich hoffe, du weißt das....Manchmal träume ich davon, meinen Körper an den deinen zu schmiegen und all das Leid, den Krieg und die Gefahr, meine Angst und die Bedrohung der Menschheit in deiner zärtlichen Umarmung zu vergessen und einfach nur in den nächsten Tag hinein zu träumen, geborgen in deiner Wärme...."

Rioroute starrte über ihren Kopf hinweg in die Schwärze des Alls außerhalb des Fensters. Ihr Geständnis bewegte ihn zutiefst. Nie hätte er erwartet, dass je ein Mensch so in Liebe zu ihm vergehen würde.

"Deshalb will ich nicht, dass du....mich berührst.....denn.....ich glaube, dass.....ich dir nicht mehr widerstehen kann......all das bringt mich furchtbar durcheinander! Ach, ich weiß, dass das, was ich sage, keinen Sinn ergibt!"

Urplötzlich, sich selbst dessen kaum bewusst, umarmte sie ihn und erstickte ihre Schluchzer im Stoff seiner Uniform. Gleich einem Blitz drang das Verlangen in die Lenden des jungen Mannes. Er fühlte sich schwach werden, konnte ihre Brust spüren, die sie gegen die seine drückte, empfand ihre Wärme, die eine ungekannte Hitze in ihm erzeugte.

"Phil....Phleira...." flüsterte er, teils fassungslos, teils überwältigt, teils verwirrt, teils liebevoll. Angestrengt richtete er sie wieder auf, versuchte er, ihr mit seinen Händen etwas Haltung zu geben, doch sie wollte sich nicht aufrichten lassen, ihn nicht loslassen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Zaghaft hob er ihr Gesicht mit den wunderschönen, smaragdgrün leuchtenden Augen zu sich empor. Ihre Wimpern waren immer noch feucht, ebenso ihre Wangen, aber sie weinte nicht mehr. Sie wagte ein schmales Lächeln.

Rio durchlief ein heißes Zucken. Ihm war, als schmelze er dahin, gefangen von dem Sog dieser, ihrer Augen. Ihre Haut war unglaublich zart, ihr glänzendes Haar strich sanft über seine Finger. Ihre Lippen hatten die Farbe von Rosenblüten oder jungen Himbeeren angenommen. Eine Woge des Begehrens wallte in ihm auf, ließ sein Blut schneller kreisen und beschleunigte seinen Atem. Phil Phleira merkte deutlich, dass die Leidenschaft in ihm aufzukeimen begann. Mit einem Seufzer gab sie es auf, sich zu wehren. Vorsichtig streifte ihr Mund seine rechte Wange. Er kapitulierte, noch ehe ihr dies wirklich klar wurde. Seine Stimme schien von weit her zu kommen.

"Ich....liebe....dich....Ich liebe dich...."

Mehr Worte brauchten sie nicht. Hingegeben und eingelullt in die Wonne des Augenblicks, überließen sie sich der anonymen Dunkelheit des Abends und ihrer Liebe.....

Azuma verließ das Büro seines Vorgesetzten.

"Mr. Revord hat sich gemeldet. Er hat einen neuen Piloten angefordert. Die Auswahl überlasse ich Ihnen."

Mit ernstem Gesichtsausdruck und ausgreifenden Schritten durchmaß der Ausbilder die Korridore von GOA. Wie erwartet kehrten die Top-Schüler gerade von der Gedenkzeremonie zurück, die man zur Ehrung von Teela Zain Elmes auf der Akademie abgehalten hatte. Saki hatte Clay seine Brille zurückgegeben und klammerte sich nun an seine Hand. Es war schrecklich, dass die Top-Pilotin gestorben war! Die fünf Jugendlichen und ihre Partnerinnen reagierten verwirrt auf Azumas Aufforderung, ihm schnell zum PRO-ING-Übungsgelände zu folgen. Sollte er angesichts der Tragödie, die sich soeben ereignet hatte, das letzte Training nicht lieber ausfallen lassen? Schließlich waren sie alle an dem Ort versammelt, an dem der Kapitän seine Rekruten haben wollte.

"Nummer 88!"

"Ja!" Zero trat vor und legte die Hand aufs Herz. Sein Lehrer räusperte sich kurz, als suche er nach den richtigen Worten.

"Es ist jetzt 18 Uhr 25. Ich habe die Aufgabe erhalten, dich zum vollwertigen Piloten zu ernennen! Pack deine Sachen!"

"......Was sagen Sie da?!"

"Du hast mich verstanden. Abmarsch!"

Kurz darauf stand der Junge vor seinem Schrank und räumte seine persönliche Habe in einen Koffer. Seine Uniform für offizielle Anlässe trug er ja bereits. Kizuna half ihm beim Packen.

"Ich kann es immer noch nicht glauben - du bist wirklich ernannt worden. Du hast es geschafft! Dein großer Traum geht in Erfüllung!"

"Ja. Ja, ich weiß. Aber dass Teela dafür sterben musste, betrübt mich sehr. Sie meinte zwar zu mir, das sei ihre Bestimmung gewesen, so, wie es die meine gewesen sei, Pilot zu werden, aber dennoch....ich habe plötzlich das Gefühl, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein....Wie könnte ich diese Welt retten....? Und dann diese Sache mit dem ,Guardian'...."

"Wer?"

"Ach nichts, vergiss es."

Als Zero (eigentlich Rei) und seine Partnerin die große Halle betraten, herrschte völlige Stille. Mit einer spürbaren Beklommenheit ging er den roten Teppich entlang, der zum Aufzug führte, von wo aus er in ein Shuttle steigen und zum Trägerschiff GIS gebracht werden würde. Fast am Ende sah er seine Freunde in der Reihe stehen.

"Clay Cliff Fortran!" wandte er sich an den mittlerweile wieder bebrillten Kadetten. Dieser trat vor und erwiderte das Ehren- und Grußzeichen.

"Ich wollte mich verabschieden."

Sie gaben einander die Hand und lächelten sich an.

"Viel Glück, Zero."

"Yamagi Kushida, Roose Sawamura!" rief er, als die beiden sich mehr oder weniger gleichzeitig aus der Aufstellung schoben, wodurch keiner von beiden vorwärts kam. Zero wartete geduldig, bis die zwei ihre Glieder entwirrt hatten und reichte einmal Anwärter Nr. 85 und dann Anwärter Nr. 86 die Hand.

"Du wirst mir fehlen", erklärte Roose und zupfte verlegen an seinen Hemdsärmeln herum. Yamagi schlitterte verärgert auf dem Glatteis der Rührung umher, schlug seinem Kameraden schließlich im gut gemeinten Sinn auf die Schulter und sagte: "Versprich mir, dass du denen dort auf GIS mindestens genauso auf die Nerven gehst wie uns!"

"Klar doch!"

Jetzt war Kadett Nr. 87 dran.

"Zu dir sage ich nur ,Auf Wiedersehen', Hiead, denn ich bin überzeugt, dass auch du bald Pilot werden wirst. Wünsch mir Glück und drück mir die Daumen - ich werde es jedenfalls für dich tun."

"Hau endlich ab."

"Sag, was du willst, mein Freund - wir werden uns wieder sehen. Und ich erwarte den Tag unserer erneuten Begegnung mit Ungeduld. Ich weiß nicht, warum....aber irgendwie habe ich den Eindruck, dass das Band zwischen uns gedeihen könnte. Du brauchst Freunde, Hiead - du weißt, wo du mich finden kannst."

Nun sah er sich Azuma gegenüber.

"Streng dich an, Bursche. Ich glaube wirklich, dass du es verdient hast, dein Ziel zu erreichen. Halt die Ohren steif."

Zero bedankte sich und Kizuna strahlte vor Stolz.

"Zum Gruß!" Bald erfüllte der Klang der Schulhymne den Saal und der Frischernannte und seine Lotsin wechselten über in das bereitgestellte Shuttle. Die Musik spielte noch, als GIS vor ihnen auftauchte. Ein Echo hallte im Kopf des Jungen wider.

"Es ist deine Bestimmung...."

Wer träumt, dem wachsen Flügel.

Die nächste Folge heißt: "Curriculum 10: Verzeihen"