Erkenntnis
Die Nacht breitet sich über dem Lager des Heeres aus wie ein bedrohlicher Schatten, der so düster und schwer auf meinem Herzen liegt wie die Angst vor der großen Schlacht, in die sich die Reiter der Rohirrim bei Morgengrauen aufmachen werden, und in die auch du reiten wirst. Doch eine andere Furcht erfüllt meinen Geist, und ich kann sie nicht deuten, kann nicht sagen, was sie ankündigt.
Ich laufe zwischen den Soldaten umher, die um kleine Feuer sitzen, essen, ihre Waffen säubern oder sich unterhalten. Manche von ihnen scherzen, um sich gegenseitig die Angst zu nehmen. Fürchtest auch du dich?
Ich suche dich in der Menge, möchte dich noch einmal sehen und dir die Dinge sagen, die mein Herz bedrücken, seit…
Ich weiß nicht, wie lange ich in dieser Nacht geweint habe, nachdem du mich verlassen hast, aus dem Zimmer stürmtest und deine Wärme von mir nahmst. So oft hatte ich davon geträumt, ob am Tage oder in der Nacht, und dann warst du zu mir gekommen, hast mich geküsst, mich berührt, und für einen Augenblick die Hoffnung in mir erweckt.
‚Vergib mir', hast du zu mir gesagt, doch wofür sollte ich dir vergeben? Mein Verstand ahnt es, doch mein Herz will es nicht wahrhaben.
Es war so anders. So anders als in meinen Träumen. Du warst nicht zärtlich, nicht vorsichtig und behutsam, sondern voller wilder Leidenschaft und Verlangen. Und es hat mich nicht gestört. Vielleicht musste es so sein, und meine Vorstellungen waren die eines naiven Mädchens gewesen. Und vielleicht war es immer so, nicht nur beim ersten Male. Vielleicht sind Männer und Frauen in ihrer Lust nur einfach so verschieden, wir geduldig und sanft und ihr zügellos und wild.
Und dennoch habe ich mich in deinen Armen glücklich gefühlt, habe den Schmerz hinuntergeschluckt, als ich dich in mir spürte, habe meine Tränen der Enttäuschung zu Tränen des Glücks werden lassen, oder zumindest redete ich mir das ein. Mein Herz will glauben, dass das Verlangen nach mir dich so sehr überwältigt hat, dass du dich von deiner Lust hast weg schwämmen lassen, dass ich es war, die die Leidenschaft in dir entfacht hat, dass es mein nackter Körper war, meine Berührungen, die dich erregten. Doch etwas in meinem Kopf scheint immer wieder zu mir zu flüstert: ‚er hat dich benutzt'.
Ich will es nicht glauben, zwinge die Stimme zur Ruhe und höre auf mein Herz. Es sagt mir du begehrst mich, doch kämpfst du mit dir selbst, fühlst dich vielleicht schuldig, dass du mich so zügellos genommen hast, dass du mich nicht langsam und zärtlich geliebt hast. Vielleicht fühlst du dich auch schuldig wegen ihr. Die Stimme in meinem Kopf sagt, dass ich sie nie verdrängen könnte, dass sie immer einen Platz in deinem Herzen hätte, egal wie weit und unüberwindbar das Meer ist, das nun zwischen dir und ihr liegt. Doch vielleicht will ich das auch gar nicht. Wird es mir reichen, ewig nur die Zweite zu sein? Ich habe keine Wahl, denn du wirst sie immer mehr lieben als mich. Doch tust du das überhaupt? Liebst du mich? Oder straft mein Herz mich lügen, und du hast dich tatsächlich nur zu etwas hinreißen lassen, was lediglich dein Körper brauchte?
Sind alle Männer so schwach, dass sie dem Begehren ihrer Lenden gehorchen wie willenlose Figuren eines sinnlosen Spieles? Auch ich war dem, was geschehen ist, wehrlos ergeben, doch war es mein Herz, das mich beherrschte und nicht die Glut in meinem Inneren, die ich durch dich entfacht glaubte.
Als du aus meinem Gemach gestürmt bist, hinterließt du ein Gefühl der Leere, und wie Feuer brannte die Leere in meinem Herzen, als da nur noch Furcht war, die mich bis heute erfüllt.
Langsam beginne ich zu begreifen, wovor ich mich fürchte. Erkenntnis.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich die tiefe Stimme von Gimli vernehme, der nach mir ruft. Er sitzt auf einem kleinen Fels und säubert seine Axt.
„Guten Abend", sage ich höflich. „Habt ihr Aragorn gesehen?"
Der Zwerg lacht kurz auf, und ich frage mich, ob er mich verspotten möchte oder nur darüber belustigt ist, dass ich in dem Lager umherirre.
„Er ist dort drüben", antwortet Gimli und deutet mit der Hand an ein paar Zelten vorbei. „Er macht sein Pferd fertig für den Aufbruch."
„Aufbruch?" Doch ich warte auf keine Antwort und eile über das festgetretene Gras hinter das Zelt. Wohin willst du gehen? Hast du eingesehen, dass der Kampf vergeben ist und lässt uns im Stich? Nein, das wäre feige und unehrenhaft, und du bist so voller Mut und Kraft.
Meine Augen erblicken dich, wie du dein Pferd bepackst und den Sattel befestigt.
„Warum tut ihr das?" fragte ich, während ich zu dir eile. „Im Osten wird Krieg geführt. Ihr dürft nicht am Vorabend der Schlacht fortgehen." Ich kann es nicht verhindern, dass meine Stimme aufgebracht klingt. Du siehst mich an, mit deinen großen grauen Augen, die in der Dunkelheit aufblitzen wie Sterne, und ich spüre, wie die Stärke aus meiner Stimme schwindet. „Ihr dürft die Männer nicht im Stich lassen."
Du wendest deinen Blick ab. „Eowyn", ist alles was du sagst, beinahe flüsterst, während du um mich herum gehst. Warum willst du uns im Stich lassen? Warum willst du mich im Stich lassen?
„Wir brauchen Euch hier", sage ich, und spüre ein Brennen hinter meinen Augen, doch bekämpfe ich es tapfer. Ich möchte nicht weinen, weil du mich verlässt.
„Warum seid Ihr gekommen?" fragst du, während du das Halfter deines Pferdes überprüfst, so als wäre ich nicht wichtig, als störte ich dich bei deiner Arbeit.
„Wisst Ihr das nicht?" Ich schaue dich an, suche deinen Blick, und endlich schaust du zu mir auf, siehst mir lange in die Augen. In den deinen liegt ein Ausdruck, den ich nicht ganz deuten kann, doch ahne ich bereits, dass er nichts Gutes verheißen kann. Ich versuche zu lächeln, zwinge mich gerade dazu, doch ich spüre, wie meine Mundwinkel zucken, und das Brennen hinter meinen Augen stärker wird. Und wieder zittere ich, zittere vor Angst vor dem, was du sagen könntest. Weißt du es denn wirklich nicht? Weißt du nicht, wie sehr ich dich liebe? Kannst du es nicht sehen?
„Es ist nur ein Schatten und ein Gedanke, den Ihr liebt." Deine Stimme klingt so sanft, und doch schneiden deine Worte wie Dolche in mein Herz. „Ich kann Euch nicht geben, was Ihr sucht." Dein Blick ist besorgt, doch scheint er mich in meinem Innersten zu verbrennen. Ich traue mich nicht zu atmen, denn ein einziger Atemzug würde ausreichen, den Knoten in meiner Kehle zu lösen, und ich würde schluchzend zusammen brechen. Was würdest du dann tun? Würdest du tröstend deine Arme um mich legen und mich wieder um Vergebung bitten? Ich würde es nicht ertragen, könnte nicht noch einmal deine Berührung spüren, wissend, dass es die letzte sein wird, dass ich dich nie wieder bei mir spüren werde.
Langsam trete ich einige Schritte zurück, doch ich kann den Blick nicht von dir abwenden, kann dem deinen nicht ausweichen, der so voller Sanftmütigkeit und Bedauern ist. Endlich wendest du ihn ab, nimmst die Zügel deines Pferdes und führst es an den Zelten vorbei. Du verlässt mich, doch du bist immer noch hier, in meinem Herzen, und es schmerzt mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Die Tränen formen sich in meinen Augen, doch du siehst es nicht mehr, siehst nicht, wie ich dir nachblicke und deine Gestalt verschwimmt, als die Feuchtigkeit in meinen Augen meine Sicht trübt. Du hörst nicht mehr, wie ein Schluchzen meiner Kehle entrinnt, wie mein Herz wie Donner in meiner Brust schlägt, und doch so schwach ist, dass ich fürchte es würde unter der Last brechen.
Und etwas bricht wirklich in mir. Hoffnung. Die Hoffnung, die ich bis heute Abend noch hatte. So klein sie auch gewesen sein mag, sie war es, die mir Mut und Kraft gegeben hat, und nun ist dies alles zunichte. Eine bedrohliche Leere breitet sich an ihrer statt aus und verschlingt mich beinahe.
Die Stunden vergehen nur langsam, als ich erschöpft aber zu aufgewühlt um zu schlafen im Lager umher wandere. Ich steige wieder hinauf zu dem Aussichtspunkt, wo das königliche Lager aufgeschlagen ist und wo auch du dein Zelt hast, das nun verlassen ist. Die Zeit kommt mir endlos schleichend vor, und doch rückt der morgen zu schnell näher. Bald schon wird die Sonne aufgehen und das Heer der Rohirrim in den Krieg reiten. Sie werden kämpfen, für Gondor und die Menschen, deren Hoffnung nur noch so fahl leuchtet wie das verebbende Strahlen der Sterne, die bald von der Morgenröte verdrängt werden. Sie werden kämpfen für alles, das ihnen wichtig ist, während ich zurück bleibe, allein mit meinen Gedanken und der Furcht, dich nie wieder zu sehen.
Auch wenn ich nun weiß, dass du in mir nie das sehen wirst, was ich mir erhoffte, so möchte ich dich doch wohl behalten wissen, möchte wieder in dein Antlitz schauen können und wissen, dass es dir gut geht. Doch habe ich nicht nur Angst um dich. Mein Bruder wird in wenigen Stunden in die Schlacht reiten, ebenso mein Onkel, der mir seit dem Tode meiner Eltern wie ein Vater war. Werde ich sie je wieder sehen? Oder werden sie alle fallen und mich zurück lassen in einer Welt, für die es sich nicht mehr zu kämpfen lohnt, wenn alles das mir lieb und teuer war langsam zu Staub zerfällt?
Ich blicke zwischen den aufgeschlagenen Zelten hindurch über das Tal zum bergigen Horizont, der schon in einem matten Gold erstrahlt, als die Sonne ihren Aufstieg zum bewölkten Himmel beginnt, und höre Schritte hinter mir. Ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass es mein Onkel ist. Er läuft langsam um mich herum, blickt ebenso in die Ferne wie ich.
„Ich habe Anweisungen hinterlassen. Du sollst an meiner Stelle über das Volk herrschen." Seine Stimme klingt wie weit entfernt und ich nehme seine Worte kaum war. Wie versteinert stehe ich da, immer noch erfüllt von der Leere und Schwärze, die sich über mein Herz gelegt hat, als du gingst.
„Nimm meinen Platz in der goldenen Halle ein. Lange mögest du Edoras verteidigen, wenn die Schlacht schlecht ausgeht."
Doch wie soll ich dies tun, wenn ich allem so müde geworden bin? Ich möchte nicht irgendwo fern ab vom Geschehen sitzen und warten, nicht wissend, ob die, die ich liebe, noch am Leben sind oder bereits dem Feind zu Opfer gefallen sind.
Meine Stimme klingt dumpf und müde, als ich antworte.
„Welche andere Pflicht möchtet Ihr mir auferlegen, mein Herr?"
Sein Ausdruck ist besorgt, doch nehme ich es kaum war, als er meine kalten Hände ergreift und sie bestärkend drückt.
„Keine Pflicht. Nein. Ich möchte, dass du wieder lächelst und nicht trauerst um jene, deren Zeit sich zu Ende neigt."
Ich liebe ihn wirklich, bewundere ihn für seine Stärke und fühle mich ihm so nahe, als wäre er tatsächlich mein Vater, und doch kann ich mich kaum dazu zwingen, für ihn schwach zu lächeln, ihm das Gewissen zu erleichtern, bevor er in die Schlacht zieht, von der er vielleicht nie wieder zurückkehrt. Was, wenn der Feind sie alle besiegt? Wie viel Hoffnung bleibt uns dann, wenn ich bereits jetzt kaum noch welche besitze?
Und doch strahlt sie aus seinen weisen Augen, als er mich anblickt, und ich weiß, seine Hoffnung liegt auf mir.
„Du wirst es erleben, dass hellere Tage heraufziehen. Ich möchte, dass du nicht mehr verzweifelst", sagt er sanft.
Ich darf ihn nicht enttäuschen, und das werde ich nicht. Es mag alles verloren sein, doch ich werde nicht tatenlos zusehen. Ein Entschluss fängt an, sich in mir zu festigen, so stark wie das Gestein der Berge und unerschütterbar wie die Welt, und er gibt mir Mut, Kraft, und auch ein wenig Hoffnung. Ich werde in den Kampf ziehen, an der Seite meines Königs, Onkels, Vaters, und sollte ich fallen, so wird es in dem Bewusstsein geschehen, dass ich alles in meiner Macht stehende getan habe, nicht hilflos zusah und mich von der Hoffnungslosigkeit habe beherrschen lassen.
Die Stäbe des Käfigs schmelzen dahin durch das Feuer meines Vorhabens, und ich breche endlich aus ihm aus.
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A/N: Bitte sagt mir wieder, wie es euch gefallen hat. Es werden noch 2 Teile folgen, noch einmal Aragorns Sicht und dann wieder Eowyns. Seid aber bitte etwas geduldig. Es kann sein, dass ich hierfür noch ein Weilchen brauche.
Ich hoffe, es hat euch bisher gefallen.
