3. Kapitel

Chaos (caoV)

Inzwischen war es schon Winter geworden. Ziyóu konnte auf der öffentlichen Eisbahn fahren und tat dies mit Begeisterung.

"Seit wann stehst du schon hier?" Hōtáru erschien plötzlich hinter Yún, die ihre Schwester beobachtete. "Ach, noch nicht so lange." "Trotzdem bist du schon richtig ausgekühlt." Er umarmte sie von hinten. "Da ist es ja nur gut, daß du noch Wärme gespeichert hast, was? Aber mir ist eigentlich gar nicht so kalt. Ziyóu zuzusehen ist spannend, was meinst du?" Er beobachtete die kleine Läuferin, die grazil über das Eis schwebte und hin und wieder ein paar Pirouetten drehte." "Sie läuft schon, seit sie ein kleines Kind ist, hast du gesagt. Aber sie ist ja erst acht." Yún drehte sich lachend um. "Sie lernte laufen, dann stieg sie aufs Eis. Mit ungefähr zwei oder drei Jahren bekam sie ihre ersten Schlittschuhe. Keine Ahnung, wie viele Paare sie inzwischen schon verschlissen hat. Mama hat darüber zuerst schrecklich geschimpft, jetzt haben sich aber alle aus der Familie daran gewöhnt. Ich schäme mich direkt, neben ihr zu laufen, denn im Gegensatz zu ihr sehe ich wie ein Elefant auf Schneeschuhen aus. Kein schöner Anblick!" Hōtáru sah sie zärtlich an und drückte sie noch fester an sich. "Du kannst keine schlechte Figur machen. Du könntest einen Kartoffelsack tragen und dich wie ein Engel darin bewegen." Von hinten konnte er sehen, wie ihre Ohren rot wurden. "Du bringst mich in Verlegenheit. Sei nur froh, daß Ziyóu uns nicht hören kann. Das wäre ein gefundenes Fressen für sie, und sie würde mich damit wochenlang ärgern!" Trotz dieser ablehnenden Worte schossen ihr plötzlich Tränen in die Augen, und sie konnte die Welt nur noch verschwommen betrachten. "Hoffentlich fragt er jetzt nichts. Meine Stimmbänder fühlen sich wie eingerostet an, und ich kriege kein Wort heraus." "Stimmt was nicht?" Er sah sie erschrocken an, und sie zwang sich zu einer unbefangenen Antwort. "Nein, alles bestens. Was ist, sollen wir etwas trinken gehen? Mir wird jetzt doch kalt." Er nickte, und sie war froh, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte.

Sie setzten sich in ein kleines Café nahe der Eisbahn. "Jetzt fangen bald die Weihnachtsfeiern an, nicht wahr? Diese ganzen Parties und so. Nainai und Yéye haben das nie gefeiert. Die erste X-mas Partie habe ich erst in Hongkong miterlebt." Yún mußte bei der Erinnerung plötzlich lachen. "Vor den Weihnachtsmännern habe ich mich zuerst zu Tode gefürchtet!" "Ich dachte eigentlich immer, in China ist nur ein Kind erlaubt. Nimm mir die Frage nicht übel, aber wie konnten sich..." "Meine Eltern meine Schwester leisten? Na, ganz einfach. Du weißt ja, daß ich in China geboren wurde... und auch die größere Hälfte meines bisherigen Lebens dort verbracht habe. Aber Ziyóu ist in Hongkong geboren... und dort sind mehr Kinder erlaubt. Abgesehen davon," sie sah ihn ernst an "hat mein Vater sehr viel Geld. Und wie du weißt, kann Geld oft Berge versetzen, nicht wahr?" Hōtáru war verlegen. "Ich wollte dir nicht zu nahe treten." "Keine Sorge. Das ist kein Geheimnis oder so. Es war nur seltsam, vom Leben eines Einzelkindes bei meinen Großeltern plötzlich in das Leben der zweiten Tochter bei meinen Eltern zu wechseln. Ich habe meine kleine Schwester erst gesehen, als sie zwei Jahre alt war. Und sie schien immer besser nach Lantau zu passen als ich. Ehrlich gesagt" sie lächelte verlegen; "neben ihr und meinen Eltern komme ich mir oft wie ein Idiot vor... so richtig ungebildet und so. Als wäre das einzige, das ich könnte, Feldarbeit oder so. Ich passe wohl eher auf einen Bauernhof, was?" Ein wehmütiges Lächeln glitt über ihre Züge. "Meiner Meinung nach bist du sehr gebildet und hübsch, Yún. Ehrlich, ich finde, du... du bist einfach jemand mit Charakter. Keine Modepuppe oder so. Du versuchst nicht, nur durch dein Aussehen jemand zu sein, sondern du schaffst es, schön zu sein und eine eigene Meinung zu haben und eine Persönlichkeit zu sein - ehrlich, du müßtest die Mädchen in meiner Klasse sehen. Da gibt es eine in dem Jahrgang unter mir, die ist echt nur ein Püppchen.

Zuckersüßes Lächeln, wallendes braunes Haar, und eine absolut hohle Birne. Ehrlich, wenn ich mit der verlobt sein müßte, ich glaube, ich würde mir die Kugel geben, echt."

Hōtáru hatte mit Feuereifer geredet und sich in der Hitze des Gefechts halb über den Tisch gebeugt. "Du mußt deine Qualitäten auch anerkennen! Du darfst dir von niemanden einreden lassen, du wärst weniger wert! Denn du bist so viel mehr wert als sie." Er sah sie mit einem traurigen Blick an und Yún konnte seine Augen feucht glänzen sehen. Sie bemühte sich, irgend etwas Ironisches zu sagen, um keine kitschige Stimmung aufkommen zu lassen, aber ihre Stimme gehorchte ihr nicht. "Ich, ähm, ich finde es nett, das du das sagst... ich meine, es ist nur so schwer... daran zu glauben..." Ihre Augen wurden ebenfalls feucht.

Glücklicherweise platzte in diesem Augenblick Ziyóu durch die Tür. "Hey, halloo! Sichóu! Onkel! Da seid ihr ja! Mir ist auch kalt, ich will was trinken!" Der gefährliche Moment der beiderseitigen Schwäche war vorüber. "Ziyóu, Goldstückchen, du kannst gerne was haben, wenn du es selbst bezahlst." Ziyóu öffnete schon den Mund, um einen lauten Protestschrei loszulassen, da bemerkte sie das amüsierte Zwinkern ihrer Schwester. "Schwester Sichóu, du bist sehr ungezogen. Dafür sitze ich heute bei Onkel Hōtáru." Strahlend plazierte sie sich neben den Verlobten ihrer Schwester. "Weißt du was, Onkel, wenn du genug von ihr hast, dann heiratest du eben mich. Und dann gehen wir auch jedes Mal in ein Restaurant, ja?"

Yún mußte so sehr lachen, daß ihr beinahe die Teekanne aus der Hand gefallen wäre, und Hōtáru wurde puterrot. "Sieh an, Hōtáru, da hast du ja schon zwei Fische am Haken. Ich wußte ja gar nicht, das da eine kleine Konkurrenz am Tisch sitzt. Aber du kannst leider nur eine von uns beiden haben, also wähle gut!" Ziyóu seufzte enttäuscht. "Da nimmt er sicher dich, du bist schon größer und darfst am Abend länger weg bleiben." Traurig wandte sie sich Hōtáru zu. "Und in die Disco darf ich auch nicht, und bei einer Party muß ich schon um acht zu Hause sein. Also bist du mit Sichóu wirklich besser dran." Hōtáru lachte. "Aber du kannst meinen kleinen Bruder haben. Wenn du so tust, als wärst du ein Computer, ist er garantiert begeistert von dir."

Ziyóu wurde rot und drehte und wand sich verlegen. "Aber so normale Jungs mag ich gar nicht. Die sind nicht so klug wie du, Onkel." Ihre Gesichtsfarbe näherte sich bedrohlich einem tiefen Dunkelviolett, als sich beide ansahen und zu lachen anfingen.

"Nein, sei nicht böse, Ziyóu-chan. Später gefällt dir der Bruder von Hōtáru vielleicht. Aber du hast ja noch so viel Zeit..." Yún gab ihrer Schwester einen zärtlichen Knuff in die Wange und drehte sich zu Hōtáru. "Sollen wir gehen? Ich glaube, Ziyóu muß langsam nach Hause. Mama wird schon warten."

Er brachte sie noch zu Wohnungstüre und hielt sie am Ärmel zurück. "Ähm, es ist jetzt ja schon der 20. Dezember... in vier Tagen ist Weihnachten... und meine Eltern müssen eine Weihnachtsparty in der Firma vorbereiten, also sind sie übermorgen nicht da... Ich wollte dich fragen, ob du zu mir kommen willst... wir könnten uns ein Video ansehen oder so..."

"Ja, warum nicht? Wenn ich dann keinen störe, ist das schön. Wir werden schon etwas finden, was wir tun können. Ist dein kleiner Bruder auch da?"

"Vermutlich. Aber er ist sowieso mit seinen Spielen beschäftigt, also glaube ich nicht, daß er dich bemerken wird. Aber am 23. kommt Watarí zurück. Wir könnten alle zusammen zu einer Weihnachtsparty gehen, dann würdet ihr euch auch besser kennenlernen." Für sich dachte er noch mehr. "Wie gut, daß sie nicht weiß, was Watarí über sie denkt... für ihn ist die Verlobung nur eine Ausrede, damit ich mehr von ihr verlangen kann... sein letztes Mail... aber ich werde ihm sagen, wie es wirklich ist.... er wird es schon verstehen."

"Ja, das wäre nett. Ich bin schon sehr gespannt auf deinen Freund." Yún lächelte; daß sich hinter diesem Lächeln allerdings die bange Sorge verbarg, ob Watarí sich über sie lustig machen würde oder nicht, konnte er nicht sehen.

Er verabschiedete sich und ging. "Dann bis übermorgen. Ich hoffe, deine Eltern erlauben es auch!" "Keine Sorge. Du bist mein Verlobter." Sie schenkten sich noch ein letztes Lächeln und gingen; sie ins erleuchtete Haus, Hōtáru auf die dunkle Straße. Es schneite schon heftig. "Watarí wird sie mögen. Sie ist ein Engel, und er ist mein bester Freund, da wird es schon keine Schwierigkeiten geben." Er schlug den Mantelkragen hoch und eilte heimwärts.

Zwei Tage später kam Yún vor der Villa seiner Eltern an und klingelte. Der Butler öffnete. "Guten Tag, Miß Haiyáng. Mister Suigín erwartet sie bereits." Im selben Augenblick eilte Hōtáru auf die Türe zu. "Yún, da bist du ja. Pünktlich wie immer." Er drehte sich dem Butler zu und nickte. "Ist schon gut, vielen Dank." Dann zog er sie am Arm hinter sich her. "Es ist so schön, daß du da bist! Ich war schon den ganzen Tag richtig aufgeregt, ich hoffe, es geht nichts schief!" Sie riß die Augen weit und überrumpelt auf. "Hōtáru, du bist ja direkt aufgedreht!" Sie lachte. "Freust du dich sosehr auf mich?" "Keine Frage!" Er umfaßte ihre Taille und wirbelte sie in der Luft herum. "Meine Eltern sind nicht da. Also keine unzufriedenen Gesichter. Und ich habe Kitsuné mit einem neuen Spiel herumlaufen sehen. Also keine Ausfälle von dem Bengel zu erwarten." Sie lächelte ihn zärtlich an. "Und wenn du auch noch zufrieden bist, ist der Tag perfekt, was? Meine Eltern waren auch nicht so extrem dagegen. Das muß wohl an den Geschäften liegen."

"Wann mußt du Zuhause sein?" "Ach, weißt du, ich dachte mir, der 10 - Uhr Bus wäre der beste. Dann ist es nicht zu spät." "Soll ich dich begleiten?" "Ach, das wäre doch so ein großer Umweg für dich. Wir sehen uns dann lieber bei der Party- wenn dein Freund wieder da ist."

"Yún, es macht mir nichts aus, dich zu begleiten, im Gegenteil." Sie lachte und legte ihre Hand auf seine Wange. "Komm schon, Hōtáru, mach dir keine Sorgen um mich. Länger als eine halbe Stunde fährt der Bus nicht." Hōtáru lachte ebenfalls, schien aber nicht ganz so überzeugt zu sein. "Naja, vielleicht hast du recht. Ich sollte wegen Kitsuné hierbleiben, es ist zwar der Butler da, aber in seinem Zimmer kann er sich Wasser heiß machen, und wenn er wieder mal in ein Spiel vertieft ist... du weißt ja..." "Was sollen wir machen? Hast du einen Plan?" 

Er wurde rot. "Nein, nichts Großartiges ich habe ein paar Videos ausgeliehen. Naja... ich hoffe, du wirst dich nicht langweilen..." "Nein, sicher nicht. Du mußt mir von Watarí erzählen... und von deiner Schule. Von deinem Club." "Willst du das wirklich alles wissen? Ist aber nur langweiliger Kram, ehrlich." "Trotzdem. Durch den Hauslehrer habe ich schon fast vergessen, wie es in einer richtigen Schule zugeht." Während sie langsam die Treppe zu seinem Zimmer nach oben stiegen, blinzelte sie ihn neckisch von der Seite an. "Dieser Káshira, den wir im "La Vague" getroffen haben... ist das ein Freund von dir?" "Nein, wenn ich ehrlich sein soll, ich mag ihn nicht sonderlich. Er ist so... so.... na, widerlich eben." Er rümpfte die Nase leicht. "Er ist ein Angeber, wie er im Buche steht. Macht immer die gefährlichsten Sachen, und steht dann wie der strahlende Held im Mittelpunkt. Und seine Klappe ist unvorstellbar riesig."

Nachdenklich nickte sie leicht. "Ja, zwischen Mut und Dummheit ist der Weg nur schmal. Zwischen Haß und Liebe auch. Weißt du, ich glaube, es ist viel leichter, jemanden aus tiefstem Herzen zu hassen, oder ihn über alle Maßen zu lieben, als die Gefühle zu relativieren."

Hōtáru starrte sie an. "Worauf willst du hinaus?" "Ach, auf nichts Bestimmtes, glaube ich. Ich meine nur, es ist leichter, auf jemanden aus tiefstem Inneren eifersüchtig zu sein, und den Gegner für alle eigenen Fehler verantwortlich zu machen, als seine eigene Unzulänglichkeit einzusehen und sich dem Besseren unterzuordnen. "Ich würde mich einem Typen wie Káshira niemals unterordnen! Eher geht die Welt unter!" brauste Hōtáru auf.

"Wenn man ewig die Klappe hält und sich immer auf den Kopf treten läßt, kann man sich nicht mehr weiterentwickeln, und wer weiß, ob man am Ende nicht der "Bessere" wäre? Wenn man nicht kämpft, erreicht man eben nichts, sondern bleibt ewig im Sand liegen." "Da hast du recht." Verblüfft beobachtete Hōtáru das schelmische Glitzern ihrer Augen. "Dann darfst du auch niemals zu kämpfen aufhören. Für nichts und niemanden."

Sie hatten sein Zimmer erreicht und traten ein. "Du hast da wirklich schon eine Kleinwohnung. Mein Zimmer ist dagegen wirklich nur drittklassig." "Naja, Vater wußte anscheinend nicht, wie er die ganze Villa nutzen sollte... und da kamen eben so Spinnereien heraus... das Haus hat so viele Bäder, daß wir uns eigentlich fast für jeden Wochentag ein eigenes aussuchen könnten. Und wozu ich in dem Zimmer eine Kochnische brauche, habe ich auch noch nicht so ganz verstanden." Beide fingen an zu lachen und schienen dadurch Kitsuné aufgeschreckt zu haben. Mit verschleierten Augen trat er aus seinem Zimmer zu ihnen. "Hallo, ihr seid schon da. Konnte euch nicht hören. Was tut ihr heute noch? Mein Computer fühlt sich überhitzt an."

"Kein Wunder" entgegnete Hōtáru trocken. "Du könntest ihn heiraten... Für immer und ewig vereint mit Modell irgendwas... bis das die Tastatur und der Joystick den Geist aufgeben... dann nehm ich mir die nächste Frau... oh, nein, den nächsten Computer..." "Das ist nicht lustig, Bruder. Abgesehen davon ist Aya das neueste Modell..." "Du gibst deinem Computer schon NAMEN? So weit ists schon..." "Ich glaube, das ist bei allen Kids gerade in, was, Kitsuné?" Y[SP1] ún versuchte freundlich zu sein und Hōtáru zu beruhigen. "Ja, abgesehen davon ist das kürzer." Der kleine Junge mit dem nahezu orangenfarbenen Haar nickte wieder abwesend und drehte sich um. "Jetzt dürfte es wieder gehen." Ohne ein weiteres Wort eilte er zu seiner Zimmertür, die sich mit einem lauten Knall schloß.

"Ich muß mich für meinen Bruder direkt entschuldigen." Hōtáru war sehr verlegen geworden.

"Das macht doch nichts. Eigentlich finde ich deinen Bruder sehr angenehm... er hängt nicht ständig an dir wie eine Klette." "Ja, das ist der einzige Vorteil, den er hat."

In seinem Zimmer beschlossen sie zuerst etwas Musik zu hören und sich dann ein paar von den Videos anzusehen. "Ich möchte alles über Watarí wissen. Du mußt mir erzählen, wie er so ist... seit wann ist er schon dein bester Freund?" Yún hatte sich auf sein Bett gelegt und hörte der Musik zu. Hōtáru setzte sich neben sie und stützte seine Arme auf. "Watarí und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten. Aber so richtig befreundet sind wir erst seit der Unterstufe. Vorher fand ich ihn ziemlich langweilig." "Warum hast du dich eigentlich mit ihm angefreundet? Hat er sich plötzlich verändert?" Sie fing seinen Blick ein, der nicht sehr glücklich wirkte. "Soll ich ehrlich sein? In der Unterstufe brauchten wir eigentlich beide einen Freund, mit dem man gesehen werden konnte. Eine Clique eben. Und dann blieben wir eben befreundet... bis heute. Er ist wirklich nett, ehrlich... er ist nicht gemein oder so." Hōtáru seufzte nahezu unhörbar. "Er hat nur manchmal seltsame Ansichten."

"Hat er mal etwas über mich gesagt? Geschrieben, meine ich?" "Ach, nichts besonderes, ich habe ihm noch nicht viel von dir erzählt. Ich wollte, daß er dich richtig kennen lernt... so wie du bist, und ich keinen Blödsinn erzähle... ich meine, du weißt schon... aber er weiß von der Verlobung und so." Und wieder kam ihm ein Teil der Nachricht in den Sinn... "Sehr gut, die Sache mit der Verlobung, ehrlich. Dann kannst du ja mit gutem Gewissen alles von ihr verlangen, und wenn sie dir nicht mehr gefällt, löst du das Ganze einfach auf... ist eine tolle Taktik, das versuche ich das nächste Mal auch..." Nein, das konnte er ihr unmöglich erzählen. Es wäre ihm selbst peinlich gewesen, einen Freund zu haben, der so dachte... obwohl er mit seiner Meinung in das selbe Horn blies wie der Großteil der Leute. Hōtáru sah sich selbst nicht als Heiligen an, der versuchte, die Moral aufrecht zu erhalten, es wäre ihm bei Yún aber nie eingefallen, sie zu etwas zu drängen. "Warum eigentlich nicht? Vermutlich, weil sie nicht so ist wie der Rest der Mädchen, die ich kenne... es klingt zwar abgedroschen, aber sie ist anders... völlig anders." "Du siehst nachdenklich aus, Hōtáru. Bist du müde? Bin ich nicht die passende Gesellschaft?"

Sie bemühte sich, das alles scherzhaft klingen zu lassen, konnte einen besorgten Ausdruck in den Augen aber nicht unterdrücken. Er umarmte sie schnell und gab ihr einen Kuß. "Du sollst dir keine Sorgen machen. Mir fehlt so gut wie nie etwas. Ich war nur nicht bei der Sache, entschuldige." Yún kuschelte sich tiefer in seine Arme und blieb so sitzen. "Es ist irgendwie kalt, findest du nicht?" Nicht erwähnenswert, daß das Zimmer sehr gut beheizt war. "Ja, du hast völlig recht. Abgesehen davon wird einem bei diesem Streifen echt kalt." Man konnte einen palmengesäumten Strand erkennen.

Sie hielten drei Filme so durch, obwohl ihnen langsam unangenehm heiß wurde. Aus Zartgefühl beschloß aber keiner von beiden, etwas zu sagen. Inzwischen war es schon halb zehn, was Yún mit leichtem Schrecken bemerkte. Nach einem schnellen Blick auf ihre Uhr löste sie sich von ihm und stand auf. "Schade, den letzten Film können wir vergessen. Aber wenn ich jetzt nicht gehe, ist der Bus weg." Er stand ebenfalls auf und begleitete sie in die Halle, wo er ihr in den Mantel half. Kitsuné vergnügte sich offensichtlich in seinem Zimmer, sonst war niemand zu hören oder zu sehen. "Ich hoffe, du kommst gut nach Hause. Ich würde dich wirklich gerne begleiten." "Nein, ist schon gut. Ehrlich, nicht notwendig, ich bin ja gleich da. Aber es vorzuschlagen, ist nett, danke." Sie lächelte ihn dankbar an und trat vor die Türe.

Nachdem er sie zum letzten Mal geküßt hatte, verschwand sie in der Dunkelheit.

Hōtáru trat langsam in die Halle zurück und schloß die Tür. Eigentlich hatte er keine Lust mehr, in sein Zimmer zurückzugehen, also blieb er im Wohnzimmer sitzen und nahm ein Buch in die Hand.

Yún eilte inzwischen zur Busstation, bei der schon ein paar Leute warteten. Nach ein paar Minuten fuhr der Bus ein und jeder drängte durch die Einstiege auf leere Plätze. Sie erwischte einen hinter einer alten Frau und starrte aus dem Fenster. Es begann gerade wieder zu schneien, und die Schneeflocken sahen im Lichtkegel der Straßenlaternen wunderschön aus.

Der Bus erwachte mit einem Ruck zum Leben und fuhr an. In ihre eigenen Gedanken versunken achtete Yún nicht sonderlich auf die Straße. Erst als sie durch ein hartes Bremsmanöver im Sitz nach vorne geschleudert wurde, erwachte ihre Aufmerksamkeit.

"Was zum..." Aber weiter kam sie nicht mehr, da die Fensterscheibe explosionsartig nach innen zerbarst und sich ein langes, messerscharfes Stück davon in ihre Schläfe bohrte. Sie hatte keine Zeit mehr zu schreien oder auch nur Erstaunen zu fühlen, als sie in eine Welt fiel, in der weder Schmerz noch Angst existierten.

Hōtáru erwachte durch das dumpfe Murmeln des Fernsehers, den er unbewußt angestellt haben mußte. Vermutlich kurz, bevor er eingenickt war. Schlaftrunken hob er ein Augenlid und erkannte unscharfe Konturen von etwas, das aussah wie ein Haufen wahllos umhergeworfener Blechteile. "... ein schwerer Unfall passiert. Genauere Daten sind im Moment nicht verfügbar, man rechnet aber mit ungefähr 10 Toten und mehr als 50 Verletzten. Nach Augenzeugenberichten prallten die Pkws zuerst auf den nachfolgenden Bus, verkeilten sich ineinander und schlitterten auf die Nebenfahrbahn, wo der entgegenkommende Bus nicht mehr bremsen konnte und ebenfalls in den Unfall verwickelt wurde. Die Rettungswagen sind bereits an der Unfallstelle und bergen die Verunglückten."

Die weiteren Nachrichten waren für Hōtáru nicht interessant. Er streckte sich in seinem Sessel und stand auf. "Wie lange ich wohl schon geschlafen habe? Nur eine halbe Stunde... das geht ja noch." Auf dem Weg in sein Zimmer hörte er ein lautes Zischen. "Kitsuné! Dein Wasser kocht!" Als er in das Zimmer seines Bruders trat, schlief dieser tief und fest am Schreibtisch sitzend, die Hand um eine Spielverpackung geklammert. Hōtáru schaltete alle Geräte ab und hob ihn aus dem Sessel. "Schlafen im Sitzen ist schlecht für deinen Rücken." Kitsuné hörte ihn nicht, also legte ihn Hōtáru auf sein Bett und ließ ihn weiterschlafen.

In seinem Zimmer klingelte das Telefon. Als er abhob, hörte er eine unbekannte Stimme. "Wer ist da?" "Ich bin Ziyóu." Ihre Stimme klang erschreckend rauh und unwirklich, als hätte sie starke Halsschmerzen.

"Du mußt sofort in das Krankenhaus;" sie nannte die Adresse schnell, "hast du die Nachrichten gesehen? Den Busunfall?" "Ja, aber was..." "Das war der 10-Uhr Bus. Und Yún ist verletzt, du mußt schnell hin...Mama und Bàba sind auf dem Weg dorthin, sie haben gesagt, du sollst kommen..." Weiter kam sie nicht; ihre Stimme ging in verzweifeltem Schluchzen unter, und sie legte auf.

Als Hōtáru den Hörer langsam sinken ließ, fühlte er sich, als hätte sich eine kalte Hand um sein Herz gelegt, und irgend etwas schien aus seinem Magen entkommen zu wollen. Aber er mußte sich zusammenreißen, vielleicht würde alles nur halb so schlimm sein... nur eine kleine Verletzung, nicht der Rede wert... Er rief sich ein Taxi und steckte alle seine Kreditkarten ein.

In letzter Minute fiel ihm noch ein, wo er zu finden sein würde, falls seine Eltern früher als er kämen... was vermutlich der Fall sein würde.

Auf dem Weg ins Krankenhaus fiel er in einen seltsamen Zustand. Er fühlte sich plötzlich, als ob der Körper Hōtáru auf dem Weg ins Krankenhaus wäre, der Geist Hōtáru aber irgendwo oberhalb schwebte... völlig losgelöst. Er bezahlte den Fahrer, der ihn verwundert anstarrte, aber kein Wort sagte. Nachdem er irgendwie durch die Tür getaumelt war, lief er den Haiyángs in die Arme, die ihn durch irgendwelche Gänge hinter sich herzogen. "Seit wann sind sie schon hier?" murmelte er leise.

Frau Haiyáng antwortete gar nicht, sondern blickte nur starr vor sich hin, ihr Mann wirkte abwesend, als er sich zu Hōtáru drehte. "Wir sind auch gerade erst angekommen und wollten auf dich warten. Sie... sie liegt auf der Intensivstation, aber wir dürfen sie sehen." Er wandte sein Gesicht ab. "Die Ärzte haben keine Hoffnung mehr..."

In einem Gang hielten sie an, Hōtáru konnte im ersten Moment nicht erkennen, warum. Dann sah er einen Mann um die 40, in einen weißen Mantel gehüllt, auf die kleine Gruppe zukommen. "Ehepaar Haiyáng, und sie sind..." mit gerunzelter Stirn starrte er auf Hōtáru. "Er ist ein Familienmitglied, bitte lassen sie ihn hier." "Natürlich, wenn sie darauf bestehen..." Der Mann, den Hōtáru inzwischen als Arzt identifiziert hatte, (er fühlte sich, als ob sein Kopf mit Watte gefüllt wäre, seine Gedanken irrten unkonzentriert umher) blickte mitleidig auf ihn.

"Es tut mir leid, ihnen das sagen zu müssen. Aber ihre Tochter..." Er schritt vor ihnen her zu einem Raum, der neben einer kleinen weißen Tür eine große Glasscheibe besaß, die es ihnen ermöglichte, ins Innere zu sehen. Darin befanden sich vier Betten, die von einer Unmenge von Instrumenten umringt waren. In den Betten befanden sich weiße Gestalten, die mit den Geräten durch eine Masse von Schläuchen verbunden waren.

"Die dritte rechts, das ist ihre Tochter." Hōtáru konnte außer den Bandagen, die den gesamten Kopf verhüllten, nur noch beide Arme erkennen, die auf der Bettdecke lagen. Es waren sehr hübsche, schmale Arme. Aber Yún hätte er in diesem gesichtslosen Ding niemals erkannt. Für den Bruchteil einer Sekunde hoffte er, das hier wäre nur ein schlechter Scherz, und dieses Etwas wäre nur eine Puppe, und Yún würde hinter ihm auftauchen und ihn auslachen, weil er auf so einen billigen Trick hereingefallen war. Die nächsten Worte des Arztes zerstörten seine Hoffnungen brutal und unwiederbringlich. "Ein spitzes Stück des Fensterglases muß sich direkt in ihre Schläfe gebohrt haben. Die einzige Beruhigung, falls es für sie eine ist, ist die sichere Tatsache, daß sie keinerlei Schmerzen mehr gespürt haben kann. Der Tod erfolgte sofort." "Ja, was für eine unglaubliche Beruhigung." murmelte Hōtáru unhörbar. "Das Herz schlug und schlägt allerdings noch. Da sie bei uns als Organspenderin registriert ist, wollten wir noch ihre Einwilligung... bitte, halten sie uns nicht für roh, aber ihre Tochter könnte durch ihren Tod eine Menge Menschenleben retten... dann wäre das alles nicht so.. nun ja, sinnlos."

Er blickte Hōtáru gerade in die Augen. "Bei einem Hirntod ist nichts mehr zu machen. Die Organe funktionieren zwar noch, aber..." "Natürlich geben wir unsere Einwilligung, Doktor. Es ist klar, das bei einem Hirntod nichts mehr zu machen ist. Meine Tochter hatte den lobenswerten Entschluß, anderen Menschen zu helfen, und da stehen wir natürlich nicht im Wege."

Die Stimme ihres Vaters klang gefaßt und kühl, als würde er nur über den Abschluß eines Geschäftes verhandeln. "Leiten sie bitte die notwendigen Schritte ein." Was er sonst noch mit dem Arzt besprach, blieb Hōtáru verborgen, denn er war näher an die Trennscheibe getreten und starrte auf die kleine weiße Gestalt. Nichts an ihr wirkte auch nur annähernd vertraut, sie hätte einem Lehrbuch entsprungen sein können. Er fühlte nichts- weder Trauer noch Schock. Er war völlig ausgeleert und im Inneren eiskalt. "Das muß der gnädige Schock sein... sie sagen doch immer, daß der Schock alles erträglich macht... aber das kann nicht Yún sein... ich müßte sie doch erkennen, und das hier ist mir fremd.... Abgesehen davon brauche ich sie so dringend... sie kann einfach nicht tot sein... was ist das überhaupt für ein Wort... tot... was heißt das schon... wer weiß, vielleicht.... ist das die Falsche.... vielleicht.... ist sie noch am Leben..." Tausende von Möglichkeiten rasten durch seinen Kopf, eine unwahrscheinlicher als die andere. Natürlich war das hier Yún. Sie hatten sie an ihrem unverwechselbaren "genetischen Fingerabdruck" erkannt... kein Zweifel möglich.

Der Arzt verabschiedete sich offensichtlich von ihnen und verbeugte sich auch in Richtung Hōtáru, der ihn, ohne zu wissen was eigentlich los war, imitierte und ebenfalls höflich grüßte.

Dann standen sie alleine vor der Scheibe, hinter der die leblose Hülle des Menschen lag, der ihm alles bedeutet hatte. Benommen blickte er auf, als er plötzlich eine scharfe, schrille Stimme hörte.

"Du! Du bist an allem schuld!" Frau Haiyáng starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an und wies mit ihrem Finger anklagend auf ihn.

"Wenn nicht du, wer dann? Du bist derjenige, der schuld ist an unserem Unglück. Wegen dir ist mein kleines Mädchen jetzt hier... wegen dir ist sie tot. Du hättest ihr genausogut ein Messer in ihr Herz rammen können! Und in unsere ebenfalls, denn du hast mein Kind umgebracht, vergiß das niemals! Das werde ich dir niemals verzeihen, du sollst an deiner Schuld ersticken, das schwöre ich dir! Oh, wären wir nur in Hongkong geblieben, dann wäre die Welt jetzt noch in Ordnung. Und hätten wir nur niemals unsere Einwilligung in diese verfluchte Verlobung gegeben! Du... du herzloser Bastard..." Ihre haßerfüllte Stimme erstickte und sie starrte ihn nur noch mit ohnmächtiger Wut an. "Das bringt jetzt nichts mehr. Für Schuldzuweisungen ist es zu spät. Komm, wir gehen jetzt." Auch von Herrn Haiyáng traf ihn ein eiskalter Blick, der ihm genau zeigte, wen dieser für schuldig hielt. Er nahm den Arm seiner Frau und führte sie den Gang wieder zurück, weg von der seelenlosen Hülle hinter der Glasscheibe.

Hōtáru blieb für Sekunden völlig regungslos stehen. Ein einziger Gedanke hatte sich in sein Gehirn direkt eingefressen. "Du bist schuld, sie haben alle beide recht. Du hast sie auf dem Gewissen. Du bist derjenige, der an allem schuld ist... nur du allein..."

Langsam folgte er dem Ehepaar bis zum Ausgang und blieb außerhalb des Gebäudes stehen. Er bemerkte weder, daß die Schneeflocken auf ihn niederrieselten und seinen Mantel durchnäßten, noch, das ein kalter, scharfer Wind wehte, der die Nässe langsam gefrieren ließ.

Hinter ihm drängte eine Familie durch das Tor, allen voran zwei Kinder, die ihn unsanft in den Rücken stießen und zur Seite bugsierten. Abseits blieb er wieder stehen ohne sich zu rühren. Er hätte nicht sagen können, wie spät es war oder wie lange er in der Kälte wartete. Worauf er eigentlich wartete, war ihm unklar, aber er hatte das Gefühl, das ihm irgendwer helfen müßte... ihn retten müßte.

Nach einiger Zeit, als er noch immer am selben Fleck stand, begann er sich langsam in Bewegung zu setzen und in Richtung Zuhause zu wandern. Es war ihm nicht klar, das er nicht einmal den Weg kannte. Er ging einfach drauflos, vage in die Richtung, aus der er mit dem Taxi gekommen war.

Noch immer fühlte er sich nicht mit seinem Körper verbunden. Den Schmerz in seinem Knöchel, als er heftig umgeknickt war, fühlte er nicht einmal richtig. Er wußte auch gar nicht, warum er sich so seltsam fühlte... was der eigentliche Grund war. Yún?

Aber er dachte ja nicht einmal an sie... es war, als wäre die Rubrik "Yún" in seinem Hirn in ein dunkles, weit entferntes Fach eingesperrt worden, und er konnte und wollte den Schlüssel dazu nicht finden.

"Hey, kannst du nicht aufpassen? Was soll das? Hast wohl keine Augen im Kopf, was?"

Eine wütende Stimme vor ihm veranlaßte Hōtáru dazu, den Kopf zu heben. Vor sich erkannte er die Silhouette eines Jungen, der ungefähr in seinem Alter sein mußte. Er murmelte irgend etwas Sinnloses, um den anderen zu beruhigen. Obwohl ihm das eigentlich egal war, so wie alles.

Der Junge stutzte und nahm ihn genauer in Augenschein. "Hey, Suigín, bist du das? Wo treibst du dich in der Nacht eigentlich herum? Weißt du eigentlich, wie spät es ist?" Als Hōtáru ihn nur verwirrt anstarrte, klang seine Stimme besorgter. "Wie bist du denn heute drauf? Hast du irgendwas genommen? Du bist ja ziemlich weit weg von dem Haus, in dem du wohnst, oder?" "Keine Ahnung" murmelt Hōtáru schwach. Er hatte den Jungen erkannt, es war Káshira. "Ich konnte den Weg nicht mehr finden."

Plötzlich fühlte er sich sehr müde und setzte sich auf die steinernen Stufen eines Einganges. "Du gehst so komisch, Hōtáru, fehlt dir was?" Káshira ging nicht weiter. "Was ist mit deinem Fuß los?" Er kniete sich neben ihn und drückte leicht auf seinen Knöchel. "Tut das weh?" Hōtáru konnte nichts mehr spüren, außer einem heftigen Stechen in seinem Kopf und einer Art riesigen Kloß im Hals. "Nein, nein, ist alles in Ordnung. Es geht schon, bitte...." Er wollte noch etwas sagen, konnte aber kein Wort mehr aus seinem Hals pressen, der wie zusammengeschnürt wirkte. Er konnte kaum noch richtig atmen. Die Welt vor ihm löste sich in einen Wirbel aus Farben auf. "Hōtáru, was hast du? Sag doch irgendwas!" Káshira schüttelte ihn an der Schulter und drückte seine Hand. "Du hast ja gar keine Handschuhe an, und das bei der Kälte... bist du verrückt? Die sind ja schon halb erfroren..."

Er streift kurz entschlossen seine eigenen Handschuhe ab und bemühte sich, sie Hōtáru über die Finger zu ziehen, der sich gar nicht mehr rührte, sondern nur noch starr in die Luft blickte.

Dann zog er ihn auf die Füße. "Willst du zu mir nach Hause mitkommen? Du kannst bei mir übernachten, das macht mir nichts aus." Hōtáru bemühte sich klar zu denken und schüttelte den Kopf. "Das ist nett von dir.... aber meine Eltern warten schon, und sie... kannst du mir sagen, wo der richtige Weg ist?"

"Ich bringe dich hin. Aber ich hoffe, du schaffst das mit dem Fuß." "Er tut nicht weh." Kopfschüttelnd nahm Káshira seinen Arm und zog ihn mit sich.

Sie wanderten schweigend durch die verlassenen Straßen, bis Hōtáru noch einmal mit dem selben Fuß einknickte und unerwartet ein scharfer Schmerz durch das gesamte Bein schoß. "Au!" Ihm wurde übel. Káshira zwang ihn, sich hinzusetzen und lockerte seinen Stiefel. Als er sich aufrichtete und ihn ansah, war sein Gesicht sehr blaß. "Das ist schon nicht mehr blau, sondern schon fast schwarz. Mit dem Knöchel hättest du keinen Meter gehen dürfen. Wenn der gebrochen ist oder so..." "Ist doch egal. Wen interessiert das jetzt? Bitte, ich muß jetzt nach Hause, und wir sind gleich da." Káshira wollte etwas sagen, aber als er die durchdringenden grünen Augen auf sich gerichtet sah, die aus einem unglaublich weißen Gesicht leuchteten, überlegte er es sich anders und schwieg. "Komm, wir machen Huckepack, und ich trage dich." "Ich bin zu schwer." "Wie du selber sagst, wir sind gleich da. Entweder das, oder ich rufe die Rettung an." Hōtáru war zu müde, um zu diskutieren. "Mach doch, was du willst."

Káshira schaffte es irgendwie, ihn auf seinen Rücken zu kriegen und schwankend loszugehen. "Du mußt dich gut festhalten, wenn du runterfällst, kannst du dir den Hals brechen."

Hōtáru schlang seine Arme um seinen Hals und lehnte seine Wange gegen Káshiras Kopf. "Du schaffst es nie, mich bis nach Hause zu tragen. Vorher brichst du zusammen." "Das werden wir schon sehen" gab Káshira schwer atmend zurück. "Sonst lasse ich dich einfach fallen."

Hōtáru gab ihm darauf keine Antwort, sondern hielt sich noch stärker fest. Dann schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß Káshira eine Erklärung brauchen würde, warum er mitten in der Nacht wie ein Idiot durch die Straßen taumelte. "Ähm, weißt du, Káshira, du wunderst dich vermutlich, warum ich heute... also, ich hab wohl zuviel getrunken...  naja, ich bin...."

"Du bist völlig nüchtern", unterbrach ihn Káshira kühl. "Aber du brauchst es mir nicht zu sagen, falls du sonst etwas genommen hast... das ist mir egal." Diese Erklärung war für Hōtáru genausogut wie jede andere. Sollte Káshira doch glauben, was er wollte. Was kümmerte ihn das? "Ja... ja..." flüsterte er schwach und vergrub sein Gesicht im Kragen von Káshiras Mantel. Dieser bemerkte die zwei Tränen nicht, die sich ihren Weg aus Hōtárus starren Augen bahnten und in seinem Hemd versickerten.

"Okay, wir sind da." Er ließ Hōtáru von seinem Rücken gleiten und lehnte ihn gegen die Wand. "Nimm es mir nicht übel, aber ich muß jetzt auch nach Hause. Ich klingle noch für dich, da wird schon wer öffnen, oder?" "Klar." "Und noch was," er drehte Hōtárus Gesicht zu sich. "Du solltest von dem Zeug in Zukunft lieber die Finger lassen. Ich glaube nicht, das es dir sonderlich gut tut." "Aber die Trips sind erhellend," gab Hōtáru bitter lächelnd zurück.

Káshira wandte sich ab und drückte auf die Klingel; ohne ein weiteres Wort verschwand er eilig in der Nacht.

Der Butler öffnete, und half ihm vorsichtig in die Halle; seine Eltern stürzten sich mit einem Schrei auf ihn und überschütteten ihn mit Vorwürfen. "... solche Sorgen gemacht..... Wo warst du?... im Krankenhaus gewesen... Wenn du das je wieder tust...."

Hōtáru ließ alles schweigend über sich ergehen. Seine Mutter bemerkte nach einiger Zeit, daß er nur auf einem Fuß zu stehen versuchte. "Zeig dein Bein her."

Danach wurde er auf sein Zimmer getragen und der Butler half ihm, sich umzuziehen. "Der Doktor wird gleich da sein."

Als auch sein Knöchel (nein, nicht gebrochen, aber schwer verstaucht... hast du noch Fußball gespielt, oder was, Junge) endlich bandagiert und versorgt war, blieb sein Vater noch kurz im Zimmer, während seine Mutter mit dem Doktor sprach. "Das mit deiner Verlobten tut uns leid" sagte er unsicher; aber Hōtáru tat, als wäre er schon eingeschlafen.


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