4. Kapitel
Pollux (Polu-deukhV)
In dieser Nacht befand sich Hōtáru in einem Zustand schrecklicher Betäubung; er konnte nicht richtig denken, aber auch nicht einschlafen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er regungslos in die Dunkelheit. Morgen würde sicher alles wieder gut sein. Er erinnerte sich an die Zeit, als er noch klein war. Jedesmal, wenn er eins seiner Spielsachen kaputt gemacht hatte, war es wie durch Zauberhand wieder repariert worden. Es gab zwar strenge Worte von seinen Eltern, aber zu guter Letzt war alles wieder in Ordnung gekommen. Er mußte nur daran glauben. Es würde morgen alles wieder gut sein; er mußte nur das Morgenrot abwarten. Wie ein Mantra wiederholte er es ständig, während er regungslos in seinem Bett lag und der verletzte Knöchel unangenehm pochte. Das Morgenrot, wenn die ersten Strahlen der Sonne... wenn die Sterne blasser werden würden... die Sonne würde alles heilen. Es konnte nicht so schrecklich sein; was in der Nacht geschehen war, mußte ein Traum gewesen sein. Nur ein böser Traum. Morgen würde er sie wiedersehen; wer hätte so grausam sein können, ihn alleine zurückzulassen? "Morgen... Morgenrot" flüsterte er in sein Kissen und fühlte sein Herz zu Eis erstarren, denn tief im Inneren hörte er eine Stimme, die ihm etwas anderes mitteilte.
"Wie fühlt man sich so als Mörder?" fragten ihn hunderte bösartige Dämonen hinter seiner Stirn. "Bist du stolz auf dich? Du hättest sie beschützen müssen... du hättest sie niemals mit diesem Bus fahren lassen dürfen. Du allein trägst alle Verantwortung, du nutzloser Trottel.
Du hättest sterben sollen, nicht sie... auf einen wie dich kann die Welt leicht verzichten, aber auf sie... sie war wertvoll, Hōtáru... jeder andere ist wertvoller als du, du Verlierer."
"Sei still, laß mich in Ruhe" flüsterte er gepeinigt in die Nacht, die ihm keinen Trost schenken konnte. Die Dunkelheit schien ihn zu ersticken.
"Auch Káshira ist mehr wert als du... er ist ein guter Mensch, und du? Hättest du ihm denn geholfen, wenn die Rollen vertauscht wären? Nein. Du hättest ihn stehenlassen... nur auf dich selbst geachtet. Warum hast du überlebt? Um dich sollte man nicht trauern, Hōtáru, man sollte dich wie einen Hund begraben und ein Freudenfest feiern..." Das Hohngelächter der Dämonen schrillte in seinen Ohren. Er klammerte seine Hände in sein Kopfkissen und stöhnte.
"Ihr habt recht... " Sein Knöchel begann immer schlimmer zu schmerzen und er bildete sich ein, das Pochen direkt zu hören... als würde etwas versuchen, aus der Geschwulst auszubrechen.
Eiskalter Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Erleichterung durch Tränen fand er nicht; seine Augen waren trocken wie noch nie, und sein Kiefer fühlte sich an, als würde er brechen.
Nach Stunden, die sich endlos dehnten und immer wieder neue Dämonen beschworen, die ihm die Wahrheit boshaft in die Ohren flüsterten, bis sie summten, entdeckte er durch einen Spalt im Vorhang die verblassenden Sterne. "Morgenrot." Er war erstaunt, wie fremd seine Stimme klang. Für eine Sekunde fühlte er Hoffnung.
Je weiter aber das Morgengrauen voranschritt, desto weniger war davon übrig; und als er auf der Straße unter sich die ersten Menschen sprechen hörte, zerbrach das Trugbild und schnitt grauenhafte Wunden in seine Seele. Mit bitterer Stimme sprach er aus, was er nicht hören wollte. "Yún ist tot, wie kann es sein... was hat sie getan?" "Und was habe ich getan?" setzte er im Gedanken fort. "Wie soll ich ohne sie leben? Wie soll ich den Tag überleben? Was soll ich nur machen?"
Seine Eltern schienen beschlossen zu haben, ihn nicht zu stören, also verbrachte er einen einsamen Morgen in seinem Bett. Es schneite nicht mehr; die Wipfel der Bäume, die er von seinem Fenster aus sehen konnte, waren in Schnee gehüllt und glitzerten wie Diamanten. Es wäre ein wunderschöner Anblick gewesen, wenn er in der Lage gewesen wäre, so etwas überhaupt zu bemerken.
Kurz vor Mittag besuchte ihn der Arzt und betrachtete seinen Knöchel unter Kopfschütteln.
"An dem wirst du noch einige Tage zu beißen haben. Zwei Wochen kein Sport."
Hōtáru nickte uninteressiert und legte sich hin. "Das macht mir nichts aus." Nachdem der Knöchel versorgt war, verschwand der Doktor leise und ließ ihn mit seinen Gedanken zurück.
Nachdem er eine Weile regungslos an die Decke gestarrt hatte, konnte er plötzlich von draußen die Stimmen seiner Eltern hören.
"Was willst du ihm denn sagen... er hört dir ja doch nicht zu. Überhaupt soll er jetzt schlafen."
"Na, irgendwas müssen wir wohl sagen. Er tut mir ja wirklich leid, obwohl ich froh bin, daß es ein Ende hat. Ich meine, was hätte er mit dieser chinesischen..." "Psst, er könnte dich hören..."
"Und die Weihnachtsparty können wir wohl auch vergessen...." "Ach was, heute kommt doch sein Freund zurück. Der kann sich besser um ihn kümmern als wir... in dieser Sache...."
"Glaubst du, das er bald darüber hinweg kommt?" "Ich bitte dich, er ist noch jung... in zwei Monaten hat er das alles schon vergessen." Schritte näherten sich seiner Tür, und er bemühte sich, den Schlafenden zu spielen. Die Tür wurde leise geöffnet. "Hōtáru, Liebling? Bist du wach? Mama und Papa sind hier, falls du uns brauchst." Hōtáru rührte sich nicht. Unentschlossen blieben sie vor seinem Bett stehen, dann drehten sie sich um und die Tür wurde wieder leise geschlossen. "Der Arzt hat auch gesagt, daß viel Schlaf nur gut tut... " Die Stimmen verklangen. Hōtáru öffnete seine Augen weit und mußte plötzlich sehr bitter und kalt auflachen. Ja, natürlich. Er würde bald vergessen. Alles, was er tat, war ja so unbeständig und dumm. Er konnte sich keine richtigen Freunde aussuchen, und, ach ja, er hatte es gewagt, sich die falsche Tochter auszusuchen. Er hätte ja mehrere Töchter für Verlobungszwecke zur Auswahl gehabt.
Noch immer konnte er nicht weinen, und er fühlte sich auch nicht danach. In ihm war alles ausgetrocknet und wie leergefegt. Wenigstens mußte er heute nicht aufstehen.
Irgendwann öffnete sich die Tür wieder, und jemand trat ein. "Hōtáru? Bist du wach?" Zögernd trat Watarí an sein Bett. "Bin gerade erst angekommen, und hab gehört, du bist krank... kam gleich her..." Er brach ab. "Yún ist tot. Das weißt du wohl schon." Hōtáru hatte sich umgedreht und starrte seinen Freund durchdringend an. "Äh, ja, aber komm schon, das wird schon wieder. Ich meine, es gibt so viele Mädchen auf der Welt, und da findest du schon eine, die noch viel besser zu dir paßt." Voll Abscheu starrte Hōtáru auf ihn. Noch vor einer Sekunde hatte er das Bedürfnis gehabt, ihn zu umarmen und sich an seiner Schulter auszuweinen. Jetzt hätte er jeglichen physischen Kontakt nicht ertragen. "So, meinst du? Was ist, soll ich vielleicht gleich aus dem Bett springen, und gehen wir auf Jagd, ja? Tun wir so, als hätte sie nie existiert?"
Watarí schien über diesen Ausbruch verstört zu sein. "So war das nicht gemeint, ehrlich..."
Aber Hōtáru hatte sich bereits wieder zur Wand gedreht und antwortete nicht mehr. Nach einer Weile stand er auf und blieb an der Tür noch kurz stehen. "Ich komme dich später wieder besuchen... wenn es dir besser geht." Damit verschwand sein Freund endgültig.
Kitsuné ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken. Erst am nächsten schlich er kurz herein und nickte seinem Bruder leicht zu. "Tut mir leid, daß du krank bist. Ach ja, Káshira hat nach dir gefragt. Hab ihm gesagt, daß dein Knöchel kaputt ist." "Danke, Kitsuné. Mehr brauchst du den anderen auch nicht zu erzählen, okay?" "Klar, wenn du meinst."
Das schöne an Kitsuné war, daß er niemals Fragen stellte, weil ihn solche Dinge nicht im mindesten interessierten.
Die nächste Woche verbrachte Hōtáru in einer äußerst depressiven Gemütslage. Er war zu nichts anderem fähig, als in seinem Bett zu liegen und aus dem Fenster zu starren. Keiner war in der Lage, ihn aufzuheitern. Drei Tage nach dem Unfall drückte sich Ziyóu ins Zimmer. Sie sah sehr blaß und angegriffen aus, und ihre Augenlider waren stark gerötet. "Hō-san, wie geht es dir?" flüsterte sie leise. Er drehte sich zu ihr und versuchte zu lächeln, aber seine Gesichtsmuskeln spielten nicht mit. "Ganz gut, danke." "Du bist ein Lügner, Onkel." Ihre Stimme klang sehr heiser.
"Wirst du zum Begräbnis kommen?" "Deine Eltern werden mich nicht sehen wollen." Er seufzte. "Ich kann es ihnen nicht verübeln." Ziyóu starrte ihn für einen Moment wortlos an. "Du glaubst doch nicht, daß du schuld bist, oder?" Er zog es vor, nichts zu sagen, was sie instinktiv auf die richtige Fährte brachte. "Onkel Hōtáru, wenn du das glaubst, liegst du falsch. Du weißt genau, daß Sichóu.... das sie...." ihr schossen Tränen in die Augen, und sie hörte auf zu sprechen. "Wirst du etwas für sie in die Zeitung schreiben? Einen... einen Nachruf?"
Hōtáru schloß für einen Moment die Augen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Natürlich, einen Nachruf mußte sie haben... mußten auch seine Eltern schreiben. "Werden das deine Eltern erlauben? Werden sie nicht wütend sein?" Mit Schrecken erinnerte er sich an die Nacht, in der ihre Mutter ihn beschuldigt hatte. Nein, daran durfte er jetzt nicht denken. Nur nicht daran, denn seinen Schuldgefühle brachten ihn jetzt schon fast um.
"Nein, ich glaube, dagegen haben sie nichts. Wenn du zur Beerdigung und zur Totenfeier gehst, dann versuche eben, ihnen nicht unter die Augen zu kommen. Sie ist übermorgen." Ziyóu erhob sich. "Es wäre sehr schön, wenn du kommst. Dann fällt vielleicht der Abschied leichter."
"Meinst du wirklich?" Er lächelte sehr bitter. "Ich bin mir nicht sicher, ob es so leicht ist."
"Nein, aber eine Hoffnung ist es wert." Ohne ein weiteres Wort schritt das kleine Mädchen aus der Tür.
Kurze Zeit nach ihrem Weggang kamen seine Eltern durch die Tür. "Ähm... die Kleine hat uns gesagt, das wir noch den Nachruf brauchen... willst du einen schreiben, oder sollen wir das gleich miterledigen?" "Nein, macht euch keine Mühe. Ich fange gleich an." "Gut, wir schreiben auch etwas..." sein Vater wandte sich zu seiner Mutter. "Hast du nicht so ein Buch, in dem sowas drinsteht?" Ohne weiter auf ihn zu achten, standen sie auf und verließen das Zimmer. Vor der Tür diskutierten sie weiter. "Also ehrlich, sowas Blödes... an den Nachruf hab ich nicht gedacht... was sollen wir da bloß schreiben?" "Ach, irgend so ein Spruch tuts auch. Irgendwas Kurzes, das reicht schon." Sein Vater kicherte. "Papier ist geduldig." Ihre Schritte entfernten sich langsam aus dem Korridor.
Hōtáru seufzte leicht auf. Seine Eltern hatten noch immer nicht bemerkt, das die Tür zu seinem Zimmer keineswegs schalldicht war, wie sie immer zu denken schienen. Aber er hatte ja schon vorher gewußt, das sie Yún niemals sonderlich gemocht hatten. Trotzdem tat es weh, daß sie nicht einmal drei Tage nach ihrem Tod schon wieder lästerten.
Er stand aus dem Bett auf und setzte sich zu seinem Schreibtisch. Was sollte er schreiben? Etwas, das sie charakterisieren sollte? Oder was er jetzt empfand? Es dauerte über zwei Stunden, bis er sich zu ein paar Sätzen durchgerungen hatte. "Wenn die Sonne erlischt, erstarrt die Erde zu Eis. Die Welt um uns wird ohne Dich kalt und unwirtlich werden; es wird nie wieder jemand wie Du auf dieser Welt erscheinen, um uns Liebe zu schenken."
Kopfschüttelnd las er es durch. "Nein, so geht das nicht." Er zerriß das Blatt und begann ein Neues. Über drei Stunden verbrachte er so, und der Boden um ihn herum füllte sich mit Papierfetzen. Schließlich hielt er ein Letztes in der Hand. "Meine Liebste... niemals mehr wird jemand von solcher Vollkommenheit für uns zu finden sein. Wenn die Sonne erlischt, erstarrt die Erde zu Eis, und das Leben wird qualvoll und einsam. In ewiger Erinnerung, Hōtáru."
Es drückte aus, was er empfand, obwohl die meisten es wohl für viel zu theatralisch halten würden... aber sein Herz fühlte sich wirklich wie ein Eisblock an, und eigentlich war ihm egal, was sonst jemand dachte. Yún würde es verstanden haben... Yún... bei der Erinnerung an sie pochte sein Herz schmerzhaft, aber noch immer konnte er nicht weinen. Vielleicht würde er nie mehr weinen können, denn der Schock saß zu tief, als das er mit ein paar lächerlichen Tränen ausgewaschen werden könnte.
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn auffahren. "Hōtáru, hast du die Annonce fertig, ja? Papa und ich sind schon bereit!" Hōtáru antwortete nicht. Sie spielten gerade ihre "Wir sorgen für unseren kleinen Sohn"- Nummer und behandelten ihn, als ob er gerade erst fünf Jahre alt wäre.
Wie erwartet traten sie auch bald ohne Aufforderung ein und eilten geradewegs zu ihm. "Laß mal sehen!" Während sie lasen, breitete sich auf ihren Gesichtern ein Ausdruck von Abscheu aus. "Ähm... Hōtáru, meinst du nicht auch, daß du... na, ein bißchen weniger wie so ein Kitschautor klingen könntest? Warum schreibst du nicht einfach... "In Liebe Hōtáru", das würde doch reichen, oder?" "Nein." Er starrte sie kalt an. "Es ist nicht eure Verlobte, und nicht euer Text. Wenigstens mache nur ich mich lächerlich, oder?" Sein Vater wollte etwas erwidern, seine Mutter hielt ihn aber zurück. "Aber Hōtáru, Schätzchen, das sollte doch nur ein kleiner Vorschlag sein. Aber wenn es dir so besser gefällt..." "Ja." gab er kurz und bündig zurück.
Er händigte ihnen das Blatt aus. "Aber Hōtáru, komm schon. Soo schlimm... also, ich meine..."
"Ich bin müde, ich möchte gerne schlafen." Ruckartig erhob er sich aus seinem Stuhl und legte sich hin. "Hōtáru, du schläfst zuviel. Ich fange an, mir Sorgen zu machen. Und dein Knöchel ist auch noch sehr geschwollen." Seine Mutter setzte sich an den Bettrand. "Hör mir mal zu, Hōtáru. Dieses Mädchen ist es nicht wert, daß du dich ihretwegen kaputt machst. Du mußt wieder aufstehen, und neue Freunde kennenlernen... ich weiß, es ist noch nicht so lange her. Aber dein Vater und ich..." "Wir haben uns beraten," fiel dieser ins Wort "und uns entschieden, daß du mit auf die Silvesterparty im Büro kommst." Hōtáru starrte sie ungläubig an. "Das kann nicht euer Ernst sein." "Und ob das unser Ernst ist. Es geht nicht, daß du in diesem Bett verrottest. Am 31. möchte ich dich mit freundlichem Gesichtsausdruck im Wagen sehen."
Immer noch ungläubig, stieß Hōtáru ein kurzes Lachen aus. "Wißt ihr, Vater, Mutter," seine Stimme wurde hart "wenigstens eine kurze Zeit, um um sie zu trauern, werdet ihr mir ja wohl geben können. Ich weiß, euch ist es egal, aber..." "Darum geht es jetzt nicht" warf seine Mutter ein. "Du hast die Wahl - entweder die Party, und ein freundliches Gesicht, oder ein Psychiater. Ich weiß, was du jetzt sagen willst," fuhr sie mit erhobener Stimme fort, als er den Mund öffnete. "aber so kann es nicht mehr weitergehen. So wie du dich benimmst, das ist sehr ungesund für dich." Ihre Stimme wurde schmeichelnd. "Sieh mal, wir wollen doch nur dein Bestes." "So wie immer" murmelte er müde und vergrub den Kopf in den Kissen. "Du kannst es dir überlegen, Hōtáru. Vielleicht wäre der Psychiater keine schlechte Idee."
Nachdem er nichts mehr antwortete, verließen sie das Zimmer. Durch die Tür drang wieder einmal ihr dumpfes Gemurmel. "Ich habe es dir gleich gesagt. Diese Haiyáng war pures Gift für ihn. Jetzt wird alles wieder besser, wenn er darüber hinweg ist. "Zeit zu trauern", pah, eine dramatische Ader hat er leider. Dabei hat er sie garantiert bald restlos vergessen." "Ich will aber nicht, das er bei einem Seelenklemptner landet. Diesen Burschen ist nicht zu trauen. Wer weiß, vielleicht bekommt er dann wirklich einen Schaden... die ersten Anzeichen sind ja schon da... " "Ach was." Die Stimme seiner Mutter klang ärgerlich. "Er hat eben schlecht gewählt. Aber ich bitte dich..." ihre Stimmen verklangen.
Kalter Zorn stieg langsam in ihm hoch. Warum glaubten sie ihm nie etwas? Und warum redeten sie hinter seinem Rücken so widerliches Zeug über ihn? War er denn wirklich so ein Idiot? Aber der Zorn hielt nicht lange an; bald wurde er von der Kälte seines Herzens eingefroren. Mit geschlossenen Lidern blieb er wieder regungslos liegen, bis er in unruhigen Schlaf fiel. Nachdem er mehrere Male aus grauenhaften Träumen, in denen er Yún, die über einem bodenlosen Abgrund schwebte, und ihn um Hilfe rief, nicht retten konnte, weil ihre Handgelenke aus seinen Fingern rutschten, aufgeschreckt war, beschloß er, wieder einmal den Sonnenaufgang abzuwarten. Er schlief nicht halb so viel, wie seine Eltern glaubten. Meistens lag er in der Nacht wach, denn der Sternenhimmel hatte etwas Tröstliches an sich, im Gegensatz zur Sonne, die seinen Verlust unbarmherzig in die Helligkeit zog.
Bei den ersten Anzeichen von Morgenrot schlich er leise in die Küche, in der ein Medizinschränkchen stand, und stahl ein paar Schlaftabletten. Er hatte keine Lust, die Sonne zu sehen... und er wollte nicht an das Begräbnis denken. Das kam noch früh genug.
Durch die Tabletten gelang es ihm zum ersten Mal seit drei Tagen, traumlos zu schlafen. Ein erholsamer Schlaf war es zwar keiner; am Abend fühlte er sich wie zerschlagen, aber er hatte einen weiteren Tag über die Runden gebracht.
Und nach einer weiteren Nacht, in der er hauptsächlich wach lag und auf die Geräusche draußen lauschte, war es da. Es. Ein weiterer schrecklicher Moment.
Sein Vater brachte ihn zu dem kleinen Tempel, in dem er sie verlieren würde. Er würde Yún nie mehr sehen oder mit ihr sprechen. Hōtáru entzündete ein kleines Räucherstäbchen und steckte es zu den anderen. Er hielt sich weit hinten, erstaunt darüber, wie viele gekommen waren; es mußte sich um ihre Verwandten aus China handeln. Außer ihm waren nur noch zwei weitere Jugendliche da, ein Junge und ein Mädchen, die sich aber allen Anschein nach entsetzlich zu langweilen schienen. Vor dem Altar knieten Ziyóu und ihre Eltern, in weiße, kimonoähnliche Kleider gehüllt. Ein Mönch ratterte unentwegt chinesische Totengebete herunter.
Auf dem Altar stand ein Bild von Yún; darunter ein kleiner, kugelförmiger Behälter mit einem Deckel. Nach einigen Sekunden realisierte Hōtáru, daß es sich dabei um ihre Urne handeln mußte. Ihn überkam ein heftiger Würgreiz, und er mußte sich eine Hand vor den Mund pressen, um seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. Obwohl nicht viel herausgekommen wäre; er hatte seit Tagen kaum etwas gegessen.
Der Schmerz in seinem Knöchel wurde von Minute zu Minute heftiger, trotzdem blieb er stehen und wartete. Worauf, war ihm selber nicht klar. Plötzlich trat eine alte Frau neben ihn, die ihn leicht an der Schulter berührte und ihm ein Wort ins Ohr flüsterte. Er hatte es nicht verstanden; sie wiederholte es und blickte ihn fragend an. "Hunyue". "Ich verstehe nicht..."
Die alte Frau schüttelte den Kopf und deutete auf ihn und das Bild. "Ob ich mit ihr verlobt... ja, aber warum..." Die Frau lächelte wehmütig und deutete auf sich. "Nainai". "Sie sind ihre Großmutter" er starrte sie erschrocken an. Sie sagte noch irgend etwas in dem "Lánhua" vorkam. "Yún... Lánhua...mao?" Er kam sich selten dämlich vor, aber das einzige Wort außer "Oma" und "Opa" das er auf chinesisch kannte, war "mao", also "Katze". Und auch nur deshalb, da Yún es einmal erwähnt hatte. Jetzt tat es ihm leid, daß er nicht mehr gelernt hatte; aber vielleicht hätte er nur noch mehr bittere Vorwürfe bekommen.
Aber die alte Frau sah nicht wütend oder verbittert aus; sie schüttelte traurig ihren Kopf und sagte noch etwas zu ihm. "Beiaide." Er hatte wieder keine Ahnung, was sie meinen könnte, aber mehr sagte sie nicht, sondern streichelte seine Schulter kurz und drückte ihm etwas in die Hand. "Lánhua Zhong." Nach diesen Worten verschwand sie in der Menge und Hōtáru starrte auf den Gegenstand, den er bekommen hatte. Es war eine kleine Glocke, wie sie Katzen manchmal um den Hals tragen. Sie war an einer silbernen Kette befestigt, die man offensichtlich zu drei Schlingen zusammengelegt hatte. Ihr Katzenhalsband? Das Band der Katze, die Yún so sehr geliebt hatte? Blicklos starrte er für einige Sekunden darauf, bis ihn plötzlich von hinten jemand an der Schulter packte und herumdrehte. Es war sein Vater, der sich nicht sonderlich wohl zu fühlen schien. "Komm jetzt" flüsterte er leise. "Du siehst schrecklich aus... als würdest du gleich zusammenbrechen. Jetzt kannst du nichts mehr tun... ist schon alles vorbei."
Hastig steckte Hōtáru die Kette in seine Tasche und ließ sich von seinem Vater zum Auto ziehen. Sein Knöchel tat jetzt entsetzlich weh, und eigentlich wünschte er sich nur noch in sein Bett zurück. Sein Vater sah wütend aus. "Für diesen Schwachsinn mußt du herkommen... verstehst kein Wort, und die Verwandten sind alle nicht gut auf dich zu sprechen... aber bitte, der Herr hat seinen Willen bekommen. Und jetzt will ich eine Antwort." Er sah ihn herausfordernd an.
"Psychiater oder Party. Du hast die Wahl." Hōtáru schwieg und starrte aus dem Fenster. "Hast du mich nicht gehört? Ich will die Antwort jetzt sofort. Wenigstens bist du aus dem Bett gekommen, ist ja schon mal ein Anfang. Also?" "Party" murmelte Hotáru leise. "Was?" "Ich sagte, Party. Bist du jetzt zufrieden?" Sein Vater wirkte zuerst etwas mißtrauisch, dann fing er an zu grinsen. "Das ist mein Junge. Ich wußte ja, daß du keinen von diesen Quacksalbern brauchst. Da hat deine Mutter wieder einmal überreagiert." Er lachte herzhaft. "Und da sag noch einer, ich würde meinen Jungen nicht kennen." Hōtáru zog es vor, nicht darauf zu antworten, da er befürchtete, etwas Unfreundliches zu sagen- und mehr Streit hätte er im Moment nicht ertragen.
"Watarídori kannst du auch mitnehmen. Überhaupt war der Arme ganz verstört... kaum angekommen, und du warst so unfreundlich. Hast ihn nicht einmal richtig begrüßt. Das kannst du auch gleich aus der Welt schaffen. Gleich morgen." "Warum?" Hōtáru, der aus dem Fenster gestarrt hatte, drehte sich ruckartig zu seinem Vater. "Na, du brauchst etwas für die Party, nicht? Und deshalb kaufst du morgen mit Watarí einen Smoking und meinetwegen noch anderes Zeug.... was ihr eben sonst so kauft." "Ich habe keine Lust einzukaufen, Papa. Ehrlich." Aber schon bei dem Anblick der gerunzelten Stirn und den zusammengezogenen Augenbrauen war ihm klar, das es besser wäre, den braven Sohn zu mimen. "Hōtáru, es wird dir gut tun. Wir wollen alle nur..." "... das Beste für mich, ich weiß." Hōtáru lehnte sich seufzend zurück. "Gut, das es jeder weiß, und erinnert mich immer daran, ich könnte es ja direkt vergessen." Sein Vater tat, als hätte er nichts gehört. "Morgen überweise ich dir was auf deine Karten."
Er grinste. "Damit du nicht knausern mußt, nur das Beste für meinen Sohn, das weißt du ja." Hōtáru schüttelte nur stumm den Kopf, aber sein Vater übersah auch dies.
Zuhause angekommen, wartete der Arzt schon auf ihn und wickelte dicke Bandagen um sein Bein. "Ihr Vater ist der Meinung, Zerstreuung wäre das wirksamste Mittel gegen aufkeimende Depressionen. Und da wir das nicht wollen, stimme ich zu, obwohl ich Ihnen rate, morgen nicht allzuviel zu gehen... bemühen Sie sich, viel zu sitzen. Aber Ihr Knöchel meldet sich schon von selber, wenn er genug hat." Hōtáru lachte nicht einmal ansatzweise; vielleicht war das der Grund für die etwas unsanfte Spritze in die Geschwulst. Obwohl es ekelhaft brannte, zuckte er nicht mit der Wimper. In Zukunft würde er nicht mehr so verweichlicht sein und bei jedem Stich wie ein Baby heulen. Es gab schlimmere Dinge. Viel schlimmere Dinge, wegen denen man nicht einmal eine Weile in Ruhe gelassen wurde. Was zählte da sowas schon?
Wieder schlich er sich in die Küche, nachdem das Haus ruhig geworden war. Er wäre zwar lieber wach geblieben, und hätte den funkelnden Himmel betrachtet; gerade heute waren unzählige Sterne zu erkennen, aber wenn er morgen mit Watarí einkaufen mußte... er hatte absolut keine Lust dazu, aber er wollte weder Streit mit seinem Vater noch zu einem Psychiater. Er wollte keinem von seinen Gefühlen erzählen. Niemandem. Und schon gar nicht einem Kerl, der dafür bezahlt wurde, ihm zuzuhören und sich in Wirklichkeit nur wünschte, wo anders zu sein. Nein, so tief würde er niemals sinken.
Nachdem er die Pillen geschluckt hatte, fühlte er seinen Körper schwerer werden. Trotzdem wußte er, daß dieser Schlaf seinen Körper nicht wirklich entspannte; er würde wieder nachts schlafen und tagsüber das normale Leben wiederaufnehmen müssen. Wie immer man "normal" jetzt definieren mußte, jetzt, da sich alles geändert hatte.
Und natürlich würde er wieder in die Schule gehen müssen. Die Gedanken daran hatte er an die letzte Stelle gesetzt. Er würde sich wie der normale Hōtáru Suigín verhalten müssen. Keinem durfte etwas auffallen. Denn er wollte nicht, das irgend jemand von Yún erfuhr. Das geheuchelte Mitleid wollte er nicht. Er wollte überhaupt kein Mitleid mehr; er wollte sich einfach nur in seinem Bett verkriechen und tagsüber schlafen. Er wollte nur noch die Nacht sehen; sie wirkte beruhigend und tröstlich.
Die Schlaftabletten hatten auch den Effekt, das er am nächsten Morgen gründlich verschlief und Watarí schon vor der Türe stand, als er gerade mal aus dem Bett kroch. Müde und lustlos begann er sich anzuziehen. Watarí setzte sich inzwischen auf einen Stuhl um zu warten, und entdeckte ein Foto von Yún, ein Schnappschuß, den ihre kleine Schwester vor zwei Wochen gemacht hatte. Sie stand mit Hōtáru unter einem Baum am Rande der Eisbahn und blickte schräg über die Kamera hinweg; er selbst hatte gerade den Arm um sie gelegt und betrachtete etwas in der selben Richtung. Yún hatte mit Ziyóu ziemlich geschimpft, da sie es haßte, fotografiert zu werden. Trotz- und alledem sah sie sehr hübsch aus. "Hey, das ist sie, oder? Das ist... " "Gib das her, das ist alter Plunder." Hōtáru war mit offenem Hemd hinter ihm aufgetaucht und nahm ihm das Foto so heftig aus der Hand, das es zwischen seinen Fingern durch hinter den Tisch flatterte, wo es im Moment unerreichbar lag. "Ist sowieso egal. Ja, das ist sie, aber hättest du die Güte, das sonst keinem zu erzählen? Ich habe keine große Lust, der Pausenklatsch zu werden." Watarí starrte ihn verwirrt an. "Wie meinst du das?" "Wie ich es sage" schnappte Hōtáru gereizt. "Du erzählst einfach absolut keinem, das ich jemals verlobt war, und die Sache hat sich."
"Na gut, wenn du meinst..."fing Watarí verwirrt an, aber Hōtáru beugte sich heftig über ihn und starrte ihm direkt in die Augen. "Ich will, das du es mir versprichst. Bitte. Es darf einfach keiner wissen, okay? Wirst du es mir versprechen?" "Ja, bei allen Ehrenwörtern." Watarí war leicht gereizt. "Was ist, vertraust du mir nicht mehr?" Hōtáru schüttelte den Kopf, obwohl er etwas anderes dachte. "Natürlich vertraue ich dir. Es ist nur... ich... bin so.... müde, weißt du?"
Watarí nahm ihn zum ersten Mal genauer in Augenschein. "Du bist ja richtig abgemagert, und das in den paar Tagen" meinte er erschrocken. "Und viel blasser. Ehrlich, du ähnelst schon einem Geist. Nein, keine Sorge, ich werde es keinem erzählen, zufrieden?"
"Danke" murmelte Hōtáru leise und begann sich fertig anzuziehen. "Wenn du willst, können wir jetzt gehen, ich bin fertig."
Während sie durch die Straßen wanderten, mußte Hōtáru über sein neues Verhältnis zu Watarí nachdenken. So wie sich alles andere geändert hatte, war auch in ihrer Freundschaft nichts mehr wie zuvor. Wenn man überhaupt noch von Freundschaft reden konnte. Aber er brauchte jemanden, der wenigstens ein bißchen zu ihm hielt. Natürlich konnte man niemandem 100% vertrauen... aber ein kleines bißchen war besser als gar nichts. Und in der Schule würde es nicht leicht werden, das konnte er jetzt schon vorhersagen. Seit Watarí unbedacht über Yún gesprochen hatte, sah ihn Hōtáru mit anderen Augen. Nicht sehr freundlichen Augen.
"Wie geht es mit dem Knöchel? Sollen wir uns hinsetzen?" Ein kleines Teehaus in der Nähe wirkte einladend. "Ja, warum nicht."
Watarí wirkte etwas bedrückt. "Hōtáru, ich weiß zwar nicht genau, warum du auf mich böse bist, aber was immer ich gesagt habe, tut mir sehr leid... das weißt du doch, oder?" Seine braunen Hundeaugen schienen ihn anzuflehen. "Ich bin nicht wütend auf dich, Watarí. Ich bin nur müde." "Du bist ständig müde. Das kann doch nicht normal sein." "Im Moment ist es auch kein normales Leben für mich." "Ja, aber ich meine...." "Ist schon gut, Watarí, ehrlich, du sollst dir keine Sorgen um mich machen. Es geht schon, so wie immer." Es sah so aus, als wollte Watarí darauf etwas erwidern, ließ es dann aber bleiben. Er senkte den Kopf und bemühte sich, die Kälte in den Augen seines Freundes zu ignorieren. Für ihn war die Situation unverständlich; er hatte Yún nie gesehen und nicht gekannt, und auch die Gefühle seines Freundes nicht voll verstanden. Abgesehen davon war er ein bißchen eifersüchtig auf sie. Bis jetzt war er der einzige Freund gewesen, dem Hōtáru vertraut hatte. Dann war sie gekommen, und eine größere Rivalin geworden, als er gedacht hätte. Und jetzt war sie tot, und Hōtáru ähnelte schon selbst einer Leiche. Seine unbedachten Worte taten ihm ein bißchen leid, obwohl er Yún in seinem tiefsten Inneren in Grund und Boden verdammte. Sie hatte ihm seinen besten Freund gestohlen; und ein großer Teil von ihm schien mit ihr begraben worden zu sein.
Als er ihn lustlos in seinem Tee rühren sah, brach es aus ihm heraus. "Wenn du so weitermachst, kannst du dir auch gleich deine Urne bestellen. Dann können wir uns sofort ein Prospekt bestellen, in dem die schönsten Särge abgebildet sind, damit du schon weißt, welchen du nehmen wirst." Überrascht über die heftigen Worte, die er von Watarí nicht erwartet hätte, hob Hōtáru den Kopf und starrte ihn an. "Es war mir klar, daß mein Vater nichts von meinen Gefühlen hält. Aber das auch du mir nicht einmal kurze Zeit gibst, um das alles wenigstens ein bißchen zu verdauen, ist nicht sehr nett, findest du nicht auch? Sie ist gerade mal eine Woche tot, und schon erwartet ihr alle, daß ich munter und fröhlich in der Gegend herumspringe und mir eine Neue suche." Seine grünen Augen wurden zu schmalen Schlitzen. "Ich hätte eigentlich gedacht, das du es wenigstens zu verstehen versuchst, wenn schon sonst keiner." Ohne auf weitere Einwände Watarís zu achten, bezahlte er und stand auf. "Los, wir müssen noch einiges besorgen, oder nicht? Wie nett, daß mein Vater jetzt so einen niedlichen Laufburschen wie dich bekommen hat. Willst du ihm nicht gleich die Stiefel lecken, Watarí? Oder sein..." seine Stimme wurde hart und boshaft "... persönlicher Assistent werden?" Dann könntest du Tag und Nacht um ihn herumscharwenzeln und seine Befehle ausführen. Ja, Meister. Aber natürlich, ich brauche ja nicht selbst zu denken, das tut ihr ja schon für mich."
"Du weißt, daß das nicht wahr ist" flüsterte Watarí, plötzlich mit Tränen in den Augen. "Ich mache mir nur Sorgen um dich, und nicht das, was dein Vater sagt." "Ach nein?" gab Hōtáru schnippisch zurück und trat auf die Straße. "Es wirkt aber ziemlich so, wenn du mich fragst." "Du brauchst nicht so gemein zu sein. Ich wollte dir nur helfen." "Auf deine Hilfe kann ich gut verzichten. Du weißt nämlich nicht im mindesten, wie es mir geht oder was mir etwas bedeutet. Ich glaube, Watarí, du hast ein falsches Bild von mir." Watarí fühlte sich schrecklich elend und fühlte einen Kloß im Hals. "Es tut mir leid. Bitte, können wir nicht aufhören zu streiten?" "Wenn du willst... " schnaubte Hōtáru halb wütend, halb gelangweilt und sprach daraufhin fast kein Wort mehr. In unangenehmen Schweigen beendeten sie ihre Einkäufe und setzten sich wieder einmal in ein Teehaus. Watarí startete einen letzten Versuch.
"Ehrlich, Hōtáru, ich wollte nur, das du auf andere Gedanken kommst. Ich wollte dich nicht beleidigen." "Ist schon gut, vergiß es einfach. Warum solltest du anders sein als der Rest?"
Darauf wußte Watarí nichts mehr zu sagen. Er brachte seinen Freund nach Hause und drückte dem Butler die Einkäufe in die Hand. Hōtáru wollte eigentlich gleich ins Haus gehen, fühlte sich aber am Ärmel zurückgehalten. "Was ist denn noch?" Watarí war sehr blaß und wirkte ängstlich. "Bist du noch mein Freund, Hōtáru?" "Ja, klar" antwortete dieser kurz und drehte sich wieder in Richtung Eingang. "Wir sehen uns dann zu Silvester, ja?" "Ja, klar" antwortete Hōtáru wieder kurz und befreite seinen Mantel. "Tut mir leid, Watarí. Du konntest es ja nicht wissen." Nach einem leichten Nicken verschwand er endgültig und schloß die Tür hinter sich. Watarí stand wie ein begossener Pudel auf der Treppe und wirkte noch immer besorgt. "Wenigstens bleibt er mein Freund." Aber er würde wohl nie wieder der Alte sein.
Am Tag der Silvesterfeier fühlte sich Hōtáru gräßlich und wollte zuerst gar nicht aufstehen, bis ihm die Drohung seiner Eltern einfiel. Wenn er zu dieser blöden Party nicht kam, stand garantiert morgen ein Psychiater auf der Matte, der ihm tausend Komplexe andichten würde. Darauf konnte er gerne verzichten. Die meiste Zeit verbrachte er im Bett, bis er sich um sechs Uhr abend aufraffen und fertigmachen mußte. Um acht würde die Feier losgehen, und er mußte halbwegs passabel aufkreuzen. Fragen nach seiner Gesundheit waren ihm schön langsam zuwider. Nach einem langen Bad betrachtete er sich erstmals ausführlich im Spiegel und bemerkte leicht erschrocken, daß seine Haut direkt durchsichtig aussah. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten, und so sehr er sich auch anstrengte, er konnte kein Lächeln zustande bringen, das auch nur halbwegs natürlich ausgesehen hätte. "Dann eben nicht." Eilig schlüpfte er in den Smoking und zwang seine Haare in eine Frisur, die seine Eltern nicht gleich wieder aufregen würde. Normalerweise trug er sie in einem kurzen Zopf, wobei die Stirnfransen über sein Gesicht hingen.
Das provozierte seinen Vater aber meistens zu einem entrüsteten Aufseufzen, also ließ er sie lieber glatt herunterhängen, wobei er sich ziemlich idiotisch und ausgesprochen widerwärtig vorkam. "Meine Zukunft ist der Zirkus, da können sie mich in die Kuriositätenshow einbauen." Der Smoking saß ziemlich locker; er schien wirklich etwas abgenommen zu haben. Im Geschäft hatte er nur seine alten Maße angegeben und nicht richtig probiert. Aber trotzdem schien er in den letzten drei Tagen Gewicht verloren zu haben... kam vielleicht daher, daß er fast nichts gegessen hatte und ständig mit Brechreiz zu kämpfen hatte. "Es wird Zeit, daß sich das normalisiert... die Schule fängt wieder an, und da muß ich hin." Sein Gesicht wurde düster. "Und ich darf sie alle wiedersehen... wie schön..." Plötzlich fielen ihm die Handschuhe ein, die immer noch auf seinem Schreibtisch lagen. "Die gehören ja gar nicht mir... " Er erinnerte sich an die Person, die ihn nach Hause getragen hatte. "Dann müssen sie von Káshira sein... muß sie ihm zurückgeben." Nachdenklich starrte er vor sich hin. "Ich würde zu gerne wissen, warum er mir geholfen hat."
"Hōtáru, bist du fertig? Kommst du jetzt?" Seine Mutter eilte die Treppen hinauf, um ihn in Augenschein zu nehmen. "Den Gürtel mußt du fester ziehen. Du hast wohl eine Größe zu viel genommen." "Ja, vermutlich." "Das der Verkäufer das nicht gemerkt hat... na, auf die ist auch kein Verlaß mehr. Die Haare sehen besser aus, obwohl..." sie blickte ihm fest in die Augen, "Hōtáru, soll ich dir ein paar Zentimeter abschneiden lassen... das ließe sich..." "Nein."
Sie erstarrte eine Sekunde bei dem ungewohnt entschlossenen Ton, dann zuckte sie die Achseln und brachte ein Lächeln zustande. "Na schön, wenn du meinst."
Den ganzen Weg zu seinem Büro ermahnte ihn sein Vater. "Wenn du ein hübsches Mädchen siehst, kannst du ruhig lächeln, das macht einen guten Eindruck... und halte dich gerade... so blaß siehst du aus... naja, ich hoffe, das fällt nicht so auf." Hōtáru antwortete darauf nicht mehr, sondern betrachtete den Schnee auf den Straßen.
Die Party war für ihn die Hölle. Lachende, fröhliche Leute, und dann schleppte sein Vater noch aus dem Nichts ein braunhaariges Püppchen für ihn an. Dieses Püppchen. Tsutsumí. Vorname Kiíchigo, eine Klasse unter ihm. Eine hohlköpfige Person, die ihn endlos mit ihrer Vorliebe für Kleider und Schmuck vollquatschte. Unter einem fadenscheinigen Vorwand, den sie ohne zu fragen akzeptierte (meinem Hund geht es nicht gut, ich fahre schnell mal nach Hause und sehe nach ihm) verabschiedete er sich und ging. Sein Vater zischte ihm zwar noch etwas Wütendes zu, er aber antwortete nur mehr "Ich war hier, das reicht mir jetzt" und nahm sich ein Taxi nach Hause, wo er sich wie immer sofort schlafen legte.
