5. Kapitel
Melpomene (melpomenh)
Seit Silvester waren bereits zwei Monate vergangen. Hōtáru besuchte die Schule wieder in schöner Regelmäßigkeit, von einigen Problemen in seinen Clubs abgesehen. Er lag immer noch ganze Nächte wach und betrachtete regungslos den Himmel, dafür verschlief er recht oft. Eigentlich verbrachte er die meiste Freizeit schlafend. Seine Eltern hatten dies stillschweigend akzeptiert; da er sonst keine Schwierigkeiten machte, ließen sie ihn gewähren.
Von Ziyóu hatte er seit der Beerdigung nichts mehr gehört. Sie hatte ihm zwar noch einen kurzen Brief geschrieben, aber er war dermaßen nichtssagend, das er ahnen konnte, daß ihre Eltern gegen weiteren Kontakt zu ihm eingestellt waren. Im Grunde war ihm das egal; er hatte aufgehört, für irgend etwas Gefühle zu empfinden. Es gab nichts mehr, das ihn tiefer berühren würde.
Der Schnee begann bereits zu tauen, und die Kinder liebten es, wegen der schon recht warmen Luft draußen zu spielen, ohne sich größere Sorgen um ihre Finger oder Ohren machen zu müssen. Eine kleine Gestalt mit orangefarbenen Haaren stand mißmutig am Rand und schaute den Spielern zu. Plötzlich erscholl hinter ihm eine Stimme. "Hey, Kitsuné! KITSUNÉ!" Der kleine Junge drehte sich eilig um. "Wo ist dein Bruder, Kitsuné?" Zwei Mädchen und drei Jungen kamen auf ihn zu. "Spielst du nicht mit?" fragte ihn der Größte mit den hellbraunen Haaren. Kitsuné schniefte ärgerlich und starrte die Fünf an. "Mama hat mich gezwungen, zu denen herunterzukommen und auf die frische Luft zu gehen. Dabei wollte ich noch weiterspielen." Er kannte sie aus dem Yachtclub. Es handelte sich um Tókui, Kamomé, Sachou, Moko und Káshira. Sie waren ungefähr im gleichen Alter wie sein Bruder. "Hōtáru ist nicht da. Keine Ahnung, wo er steckt. Er wollte in den Park gehen, glaube ich." "Was ist denn in letzter Zeit mit ihm los? Er benimmt sich schrecklich. Nicht mehr zum Aushalten!" Tókui schüttelte ärgerlich den Kopf. Seit ein paar Wochen konnte man mit ihm kein normales Wort mehr reden. Er antwortete entweder unfreundlich oder überhaupt nicht. "Hōtáru hatte einen verstauchten Fuß. Aber sonst? Keine Ahnung, was ihm fehlt. Gar nichts, wahrscheinlich." Sein Bruder zuckte die Achseln.
Káshira dagegen erinnerte sich, wie er Hōtáru getroffen hatte, und er trotz seiner Verletzung immer weiter gegangen war. "Du, Kitsuné, hör mal, also, dein Bruder... was macht er denn so? Ich meine, hat er irgendwelche Freunde, mit denen er abends weg geht oder so?"
Kitsuné starrte ihn groß an und fing an zu lachen. "Mein werter Bruder verbringt die halben Tage im Bett und schläft. Du kannst ja mal klingeln. Vielleicht ist er ja schon wieder Zuhause."
Káshira drehte sich zu den anderen um und blickte sie erwartungsvoll an. "Was ist, gehen wir? Dann könnten wir ihn auch fragen, was eigentlich mit ihm los ist." Die Fünf sahen sich an und zuckten die Schultern. "Warum nicht?"
Vor der stattlichen Villa der Suigíns blieben sie stehen und klingelten. Der Butler öffnete und teilte ihnen mit, daß sich Hōtáru auf seinem Zimmer befand. "Sie können gleich hinaufgehen, aber ich befürchte, daß Mr. Hōtáru schlafen wird. Er hat mir ja befohlen, ihn nicht zu stören, aber ich bin mir sicher, das bezog sich nicht auf seine Freunde."
Langsam stiegen sie die Treppe aufwärts und blieben vor seiner Zimmertür stehen. "Hōtáru, können wir reinkommen?" Von drinnen kam keine Antwort, also stieß Káshira die Tür auf und trat ein. Das Zimmer war ordentlich aufgeräumt und wirkte sehr unpersönlich, es hingen nur ein paar japanische und chinesische Drucke neben einem langen Kataná an den Wänden. Der Schreibtisch war bis auf einen teuren Laptop leer. Es war nicht das Zimmer eines Teenagers; das hier wirkte eher wie ein Büro. Abgesehen davon war es im streng japanischen Stil eingerichtet. Hōtáru lag auf einem Futón und schlief offensichtlich tief und fest. Er trug ein traditionelles japanisches Männergewand.
"Ähm... vielleicht sollten wir später wiederkommen. Ist wohl keine günstige Zeit jetzt." "Blödsinn, Moko, wir wecken ihn einfach auf. Du hast doch gehört, was sein Bruder gesagt hat... er schläft sowieso den halben Tag. Also schaden ihm ein paar Minuten weniger auch nicht." Tókui war fest entschlossen. Sie und Hōtáru hatten in der letzten Zeit ziemlich oft gestritten, und sie wollte endlich wissen, warum er sich so benahm. "Ich glaube, ihm ist das Geld zu hoch in den Kopf gestiegen."
Inzwischen wurde Káshiras Aufmerksamkeit von einem silbrigen Blinken abgelenkt. Er setzte sich neben Hōtáru, der noch immer fest schlief, auf den Futón und betrachtete die Ursache des Glitzerns genauer. Es handelte sich um eine schmale Silberkette, die aus dem Ausschnitt seines Oberteils gerutscht war. An ihrem Ende hing eine kleine Glocke aus Kupfer, in die jemand ein paar chinesische Zeichen geritzt hatte. Káshira nahm den kleinen Gegenstand in die Hand, um ihn genauer zu betrachten, mußte dabei aber an der Kette gezogen haben, denn Hōtáru wachte ruckartig auf und faßte nach seiner Hand. "Laß das in Ruhe." "Ah, endlich bist du wach." "Wer hat euch hier heraufgelassen?" Hōtáru war rot geworden und setzte sich auf.
"Trägst du sowas immer, wenn du Zuhause bist?" fragte Káshira mit leicht anzüglichem Blick auf ihn. "Was geht dich das an?" schnappte dieser beleidigt und stand auf. "Wenn es dir nicht paßt, kannst du ja wieder gehen." Káshira lachte darauf nur und grinste. "Schade, dabei wollte ich nur sagen, wie gut es dir steht, was meinst du, Tókui?"
"Können wir uns setzen, Suigín?" Kamomé sprach mit ihrer üblichen kühlen Stimme. Sie schaute sich mißbilligend im Zimmer um, sagte aber nichts. "Sicher, wenn ihr wollt..." Hōtáru wirkte nicht übermäßig begeistert. "Warum seid ihr hier? Abgesehen davon geht man nicht einfach in fremder Leute Zimmer, wie es einem gerade paßt." "Aber wir haben doch geklopft" erwiderte Sachou leicht verstört. Er haßte Auseinandersetzungen. "Und "fremd" sind wir doch auch nicht, oder, Hōtáru?" Moko grinste. Er war rund und gemütlich, ihn regte so schnell nichts auf. "Was wollt ihr von mir?" Hōtáru wurde ungeduldig. Er wollte schlafen, und hatte keine Lust auf den Streit, der garantiert folgen würde, folgen mußte. Schon seit Wochen vertrug er sich mit keinem mehr, außer Watarí, und obwohl er sich manchmal wünschte, das ändern zu können, konnte er einfach nicht freundlich sein. "Ich bin müde, ihr geht mir auf die Nerven. Können wir das nicht in der Schule besprechen? So wichtig wird es schon nicht sein."
"Und ob es wichtig ist, Hōtáru." Tókui sprach ungewohnt ernst. "In letzter Zeit benimmst du dich nicht nur unerträglich schlecht, sondern du kommst auch immer zu spät zu unseren Treffen. Der Yachtclub kann nun mal nicht so einfach auf den Navigator verzichten." "Meinetwegen kann jemand anderes den Posten haben. Ist mir egal, ehrlich. Ihr könnt mich meinetwegen auch gleich ausschließen, wenn ihr wollt." Hōtáru zuckte die Schultern und nahm das Kataná von der Wand herunter, um es abzustauben. "Wer redet denn von ausschließen. Aber du solltest deine Aufgabe im Club einfach ernster nehmen und..." "Du brauchst mir keine Vorhaltungen zu machen, Sachou. Kümmere dich lieber um deinen eigenen Posten." Hōtáru war vor lauter Wut puterrot geworden und stellte sich drohend vor ihn hin. "Du gehst mir mit deinen Hundeaugen sowieso schon die längste Zeit auf die Nerven." "Das reicht jetzt, Hōtáru. Du brauchst Sachou nicht so anzuschreien, er spricht lediglich aus, was wir alle denken." Tókui war aufgestanden und stellte sich neben ihn. "Sachou ist immerhin unser Teamleiter, wenn wir mal auf Seefahrt sind. Wir müssen eben alle zusammenhalten, und, um ehrlich zu sein, wir haben wirklich schon über Ausschluß nachgedacht. Aber..." "In Anbetracht der Spenden deines Vaters haben wir uns dagegen entschieden." Kamomé rückte ihre viereckige Brille zurecht und setzte sich noch ein wenig gerader hin. "Mein Vater liebt das Meer. Um die Spenden braucht ihr euch wirklich keine Sorgen zu machen. Ich habe keine Lust, in einem Team nur wegen meinem Vater geduldet zu werden. Sucht euch jemand anderen, jemanden, der besser zu euch paßt."
Hōtáru starrte sie kalt und verächtlich an. Mit dem Schwert in der Hand wirkte er plötzlich wie ein Samurái, der dieser schlechten Welt entsagt und in den Tod geht.
Káshira lachte plötzlich laut auf und eilte neben Hōtáru. "Hey, in deiner Familie gab es doch sicher mal Samurái , oder? Du hast so die typische Haltung!" Er parodierte einen Krieger, der mit erhobenem Haupt in den Sonnenuntergang tritt. "Hör auf damit" zischte Hōtáru wütend.
"Ach, komm schon, du verstehst wohl überhaupt keinen Spaß. Woher hast du das überhaupt? Hat dir das dein Vater gekauft?" "Nein" antwortete er widerstrebend. "Das ist von meinem Ur-Urgroßvater. Aus der Meiji- Ära. Aber das Schwert ist viel älter, aus der Edo-Zeit, glaube ich." "Cool." Káshira war beeindruckt. Ja, natürlich, Suigín stammte ja aus einer alten Adelsfamilie... obwohl der Name Suigín... "Wie war der Name deines... Ur-Urgroßvaters noch mal?" "Takayoshi. Warum fragst du?" "Weil du nicht so heißt... das wundert mich. Warum habt ihr so einen alten Namen nicht behalten?" "Weil mein Großvater den Namen seiner Frau annahm." Hōtáru war leicht errötet. "Was interessieren dich alte Familiengeschichten?" "Das Schwert ist toll. Ist das da das einzige, das dein... also..." "Mein Ur-Urgroßvater." "Ja, also, gibt's da nicht immer zwei Schwerter? Oder..." "Das Waki-zashi ging verloren. Aber mein Urgroßvater hatte es angeblich noch." Hōtáru zuckte die Achseln. "Vermutlich irgendwann bei einem Saufgelage verspielt oder so. Das wäre der Familie durchaus zuzutrauen." "Dein Vater muß ein gutes Herz haben, das er dir so ein teures Prunkstück schenkt. Meiner hätte viel zuviel Angst, daß ich es verliere oder verschenke." "Mein Großvater hat es mir hinterlassen. Dem ersten Sohn der Familie..." Er machte eine wegwerfende Bewegung. "Das Schwert kommt angeblich von Yoshimitsu- das wäre dann mein Ur- ur- ur- Urgroßvater. So um 1800. Angeblich hat noch irgendein Ahne seinen Namen ändern lassen. Aber so genau blicke ich da nicht durch." Káshira starrte bewundernd auf das Kataná in seinen Händen. Hōtáru paßte dieses Schwert... er hätte ohne gröbere Probleme 200 Jahre in die Vergangenheit versetzt werden können, ohne daß es aufgefallen wäre. "Hey, eine Zeitreise wäre bei dir wohl kein Problem."
"Ähm... also, wenn ihr zwei fertig seid mit eurer Fachsimpelei, könnten wir dann auf den eigentlichen Grund unseres Besuches zurückkommen?" Moko wirkte leicht verwirrt. Er hatte keine Ahnung von Familiengeschichte oder Schwertern.
Hōtáru hängte das Kataná auf seinen Platz zurück und setzte sich wieder auf den Futón. "Viel zu reden gibt's da nicht mehr" murmelte er und ließ sich rückwärts fallen. Er war jetzt so müde, daß er einfach keine Rücksicht mehr auf die anderen nehmen wollte. Wenn er eingeschlafen war, würden sie schon gehen. "Hōtáru, du bleibst unser Navigator, und bist in Zukunft pünktlich. Ende der Diskussion." Káshira beugte sich energisch zu ihm. "Geht ihr schon mal vor, ja? Suigín und ich haben noch was Wichtiges zu besprechen." Ohne viel zu fragen verließen die anderen den Raum und stiegen die Treppe in die Halle hinunter. Man konnte zwar nicht verstehen, was sie sagten, aber ihre Stimmen waren gedämpft zu hören. Káshira wartete, bis sie außer Hörweite waren, dann packte er beide Handgelenke Hōtárus und funkelte ihn wütend an. "Wie kannst du nur so unverantwortlich sein, du hast einen kleinen Bruder." "Was meinst du?" Hōtáru war sekundenlang verwirrt. "Stell dich nicht dümmer, als du sowieso schon bist. Zwei Tage vor Weihnachten warst du immerhin so groggy, daß du nicht einmal gespürt hast, daß dein Knöchel verstaucht war. Und du bist ständig müde, und siehst ehrlich gesagt grauenhaft aus. Was immer es ist, was du da nimmst, es bringt dich wirklich langsam um, wenn du nicht aufpaßt." "Ich nehme nichts" erwiderte Hōtáru ärgerlich und versuchte sich aus dem Griff zu befreien. "Laß endlich los, hörst du? Überhaupt- was geht dich meine Familie an? Um meine Gesundheit brauchst du dich nicht zu sorgen." "Das tue ich auch nicht" antwortete Káshira kühl. "Es ist Kitsuné, der mir leid tut. Es ist eine Schande, wie du dich benimmst." "Wie schön, daß du dich um meinen Bruder sorgst. Überhaupt sorgt sich jeder um jeden, nicht wahr? Und wie toll, das anscheinend wirklich jeder ganz genau weiß, was mir fehlt, und was ich tue, und wer ich bin, und so weiter!" Mit einer heftigen Kraftanstrengung befreite sich Hōtáru aus seinem Griff und warf ihn auf den Boden. "Du hast keine Ahnung, was mit mir los ist absolut keine Ahnung. Aber Mister Supercool mischt sich natürlich heldenhaft ein, was? Verschwinde, und rette jemand anderen... wenn du das kannst... viel Glück.... aber verschwinde endlich... und hör auf, so zu tun, als würde es auch nur irgend jemanden interessieren, wenn ich sterbe... nicht einmal meinen eigenen Bruder... und meine Eltern wären auch nur wütend, weil sie eine Party versäumen könnten... HAU ENDLICH AB!" Káshira war so überrumpelt von dieser Welle aus Haß und Wut, die auf ihn niederschwappte, daß er sich schweigend umdrehte und ging.
Schwer atmend legte sich Hōtáru wieder hin und schloß die Augen. Er mußte vorsichtiger sein... seine Gefühle im Zaum halten. So ein Ausbruch durfte einfach nicht mehr vorkommen.
Er dachte an Yún, lenkte seine Gedanken aber sofort in eine andere Richtung. Bald nach der Neujahrsfeier hatte er beschlossen, einen endgültigen Schlußstrich zu ziehen und sie zu vergessen. Yún würde nie wieder kommen; also war es besser, alles zu vernichten, das an sie erinnern könnte. Es gab kein einziges Foto mehr von ihr; keinen Brief oder ähnliches. Es war nun wirklich so, als hätte es sie im Leben Hōtáru Suigíns nie gegeben, wenn... ja, wenn es da nicht diese kleine silberne Kette gegeben hätte, mit dem Glöckchen am Ende, in das die fünfjährige Yún den Namen ihrer Katze in vermutlich tagelanger genauer Arbeit eingeritzt hatte. Er hatte es nicht geschafft, auch das fortzuwerfen. Alles andere, nur das nicht.
Und er wußte nicht, daß sein Bruder Kitsuné die Fotografie gefunden hatte, die ihm hinter den Schreibtisch gefallen war. Kitsuné war keineswegs herzlos; er wußte sehr genau, was mit seinem Bruder los war. Nur setzte er in seinem Leben andere Prioritäten; trotzdem hatte er das Bild aufgehoben. Warum, wußte er selbst nicht so genau. Er fand es einfach richtiger, etwas zur Erinnerung zu behalten.. damit man sie nicht ganz vergaß.
In der Schule ging es immer weiter bergab. Bald gab es keinen mehr, der sich freiwillig mit ihm unterhalten hätte. Er war boshaft und chronisch unfreundlich; im Marineclub hatten sie sich damit abgefunden, daß er nur sporadisch erschien. Das brachte ihm zwar Ärger mit den Lehrern ein, aber viel konnten auch sie nicht tun. Er mußte nur innerhalb der vorgeschriebenen Punkteanzahl bleiben, dann war alles in Ordnung.
Aus seinem geliebten Volleyballclub war er ausgetreten; er konnte sich auf diese Sportart nicht mehr konzentrieren. Jedesmal, wenn er zu spielen versuchte, mußte er an Yún denken; da er das mit allen Mitteln vermeiden wollte, kehrte er seiner liebsten Sportart den Rücken und schrieb sich im Handballclub ein, dessen Kapitän mit dem des Volleyballclubs tödlich verfeindet war.
Dort feierte er bald große Erfolge, er war ein rücksichtsloser und daher doppelt so guter Spieler, der sich selbst nicht schonte. Als die Kaikyō-Schule gegen das Sakyū-Internat spielte, setzten sich seine Marineclub- Kameraden in die vordersten Reihen, um das Spiel genau verfolgen zu können.
"Suigín, daß du uns ja nicht enttäuscht. Diese Sakyū- Schwächlinge müssen wir heute ganz einfach schlagen." Der Kapitän war im Umkleideraum hinter Hōtáru aufgetaucht und schlug ihm hart auf den Rücken. "Gut, das wir einen Spieler wie dich bekommen haben. Jemanden, der sich was traut und nicht vor jedem Ball davonläuft. Hachí, dieser Trottel, hat dich ja nie richtig spielen lassen." Er lachte und ging weiter, um auch den Rest seiner Truppe mit seinen zweifelhaften Scherzen aufzumuntern.
Hōtáru verzog keine Miene, sondern schlüpfte in sein Dress und stellte sich abwartend hin, ohne auch nur ein Wort zu sagen. In einer Ecke tuschelten zwei Mitspieler über ihn. "Sieh mal... wie eingebildet er ist. Glaubt wohl auch, er hat jegliches Talent für sich allein gepachtet! Ich glaube ja, wir hätten ihn nicht nehmen sollen... soo gut ist er nämlich gar nicht." "Weißt du eigentlich, warum er aus dem Volleyballclub gegangen ist? Angeblich haben sie ihn rausgeschmissen, weil er..." "Ruhe jetzt. Das Spiel fängt gleich an" hörte man die Stimme des Kapitäns. "Konzentriert euch und macht eurer Schule keine Schande."
Die elf Spieler eilten auf das Feld; beide Schulen begrüßten sich kurz, dann begaben sich alle auf ihre Plätze.
Zu Beginn war das Spiel noch etwas langsam, da sich die Mannschaften erst aufwärmen mußten. Nach dieser Phase ging es ziemlich hart weiter. Beide Parteien schenkten sich nichts; sie spielten hart innerhalb der Regelbegrenzung, was nach sich zog, daß schon innerhalb der ersten zehn Minuten zwei Spieler verletzt wurden. Bis zur ersten Halbzeit konnte die Kaikyō- Schule ein Tor erzielen. Trotzdem war das Sakyū- Internat besser als erwartet. "Suigín, von dir erwarte ich vollen Einsatz, klar? Meinetwegen brich dir den Hals, aber du mußt mehr Tore schießen, verstanden? Und du, Inágo" er wandte sich an den Tormann. "Den letzten Ball hast du nur mit viel Glück gehalten, reiß dich in Zukunft zusammen. Eine Schande, wenn wir jetzt verlieren würden."
Inágo nickte verlegen, während Hōtáru nicht einmal antwortete. Das erwartete aber auch keiner von ihm. Spielte er gut, war alles in Ordnung und sie ließen ihn in Frieden. Wenn nicht, dann regten sie sich schon früh genug auf.
Tókui betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn. "Da ist ja unser Rekordverschläfer. Ein Wunder, daß er es mal pünktlich zu dem Spiel geschafft hat." "In letzter Zeit hat er schon ziemlich viele Eintragungen bekommen" ergänzte Kamomé kühl. "Im Club läßt er sich auch kaum mehr blicken. Hey, Kitsuné, weißt du wirklich nicht, was mit deinem Bruder los ist?" Moko drehte sich fragend um. Der kleine Junge schüttelte aber nur mürrisch den Kopf und stützte seinen Kopf gelangweilt auf. "Warum interessiert ihr euch in letzter Zeit so für ihn? Ist doch echt egal, ob er kommt oder nicht." "Es geht ihm eben nicht so gut. Das müßt ihr verstehen." Watarí versuchte schwach, seinen besten Freund zu verteidigen. "Was fehlt ihm schon? Wohlstandsverdorbenheit? Nur weil sein Vater in Geld schwimmt, braucht er uns nicht so von oben herab zu behandeln. Das geht ja schon eine ziemliche Weile so." Tókui ließ nicht locker. Wenn sie etwas haßte, dann waren das eingebildete Schnösel, die sich für besser hielten als alle anderen.
"Aber reich zu sein, ist doch nicht schlecht. Dann kann man sich Kleider und Schmuck kaufen, so oft man will. Und man kann einen tollen Kerl mit einem riesigen Haus und einem teuren Auto und so heiraten. So einen richtigen Prinzen." Kiíchigos Augen wurden vor lauter Schwärmerei feucht. "Und dann ist in dem Haus noch ein Swimmingpool, und viele Dienstboten und..." "Hast dein Leben wohl schon durchgeplant, was?" fragte Haná gespannt. "Ich will auch so ein tolles Leben führen. Mit vielen tollen Männern und so." "Aber Haná! Man heiratet doch nur einen Mann!" "Na und?" gab sie trotzig zurück und schmollte.
Inzwischen begann die zweite Halbzeit. Das Spiel wurde jetzt von Beginn an brutal geführt. Zwei Sakyū- Schüler hielten sich immer in Hōtárus Nähe auf und bemühten sich, ihn außer Gefecht zu setzen. Er konnte zwar noch ein Tor erzielen, indem er sich zwischen den beiden hindurchwand; als er den Ball aber das nächste Mal in die Finger bekam, und schießen wollte, bekam er einen so heftigen Stoß in die Rippen, das er nach Atem ringend zu Boden fiel. Der Schiedsrichter schien es nicht bemerkt zu haben, denn das Spiel wurde normal weitergeführt. Der Rippenstoß war aber nur der Auftakt: anscheinend hatten die Internatsschüler die Nase voll und beschlossen, ihn endgültig aus dem Rennen zu werfen. Einer von ihnen zielte absichtlich schlecht und traf Hōtáru, der sich gerade erst richtig aufgerappelt hatte, hart im Gesicht, was ihn wieder zu Boden warf. Gleichzeitig prallte ein anderer seitlich gegen ihn und brachte ihm ein ziemlich aufgeschürftes Knie und einen angeschlagenen Ellbogen ein. Der Schiedsrichter pfiff ab, die Angreifer bekamen aber nur eine Verwarnung, während Hōtáru ausgewechselt werden mußte. Aus seinem Mundwinkel rieselte ein dünner Faden Blut, er mußte sich in die Zunge oder Wange gebissen haben, und seine linke Gesichtshälfte brannte wie Feuer. Die Schmerzen in Knie und Ellbogen ignorierte er, so gut es ging.
Der Sanitäter versorgte seine Verletzungen schnell. Inzwischen hatte der Kapitän ein Time-out beantragt und eilte zu ihm. "Suigín, du mußt weiterspielen. Deine Wehwehchen kannst du Zuhause pflegen, aber das hier ist ein Spiel, klar? Also stell dich nicht so an und komm endlich!
Dein Ersatzmann bringts nicht." Hōtáru nickte. "Okay." Ohne auf die Einwände des Sanitäters zu achten, kehrte er auf das Feld zurück.
Der Kapitän des Volleyballclubs hatte sich inzwischen zu Káshira und den anderen gesellt. "Und, wie findet ihr das Spiel?" "Wußte gar nicht, daß Suigín zu Handball gewechselt hat." Das war zwar eine glatte Lüge von Káshira, aber er wollte Hachí etwas ausquetschen. "Ja, Suigín hat sich im Jänner ausgetragen... sagte, er packt es einfach nicht mehr. Hat aber keine echten Gründe angegeben oder so. Konnte ihn aber nicht zurückhalten; wie denn auch."
"Aber irgendeinen Grund muß er doch gehabt haben. Na los, ist doch kein Geheimnis, Hachí."
"Nein, ehrlich, ich kann dir nicht mehr sagen, außer, daß es mir verdammt leid tut, einen wie ihn verloren zu haben. Aus ihm hätte noch was werden können. Bei uns hätte er alle Chancen und Möglichkeiten gehabt. Sieh dir das doch mal an" er beugte sich leicht vor. "Kíngyo verheizt ihn. Ich hätte einen Spieler, der so verletzt ist, nicht so leichtfertig wieder auf den Platz geschickt. Das schadet ihm doch nur."
"Sieht nicht so aus, als würde Suigín das überhaupt spüren. Er spielt weiter wie normal." "Ja, aber er schont seinen linken Knöchel. Schon seit Weihnachten."
Káshira betrachtete Hōtáru eine Weile angespannt und drehte sich dann wieder zu ihm. "Hey, Hachí.... du weißt doch über deine Spieler immer Bescheid, oder? Und über Sport und ... naja, Drogen und so Zeug." "Ja, klar" erwiderte Hachí achtlos. "Was willst du denn wissen?"
"Durch welche Drogen spürt man keine Schmerzen mehr? Kannst du mir das sagen?"
"Also, ich denke, das trifft auf so ziemlich alle zu. Irgendwelche besonderen Symptome?" "Ähm... na, ich weiß nicht recht... geistige Abwesenheit?" Hachí fing an zu lachen. "Sorry, aber ich fürchte, das trifft auf jede Droge zu." "Nein, ich meine eher... also, wenn da so ein Typ ist, und der fühlt keine Schmerzen, und wirkt total abwesend... ich meine, bei X-tasy und Co. wird man ja eher aufgeputscht, oder? Aber was ist, wenn einer total down ist?" "Also" begann Hachí und brach abrupt und ratlos ab. "Na, ich denke... also, das ist schwer zu sagen... naja, hmm... da gibt es so viele Möglichkeiten, weißt du? Aber eine Art Opiat, schätze ich mal. Warum, kennst du jemanden, der sowas nimmt?" Er warf Káshira einen scharfen Blick zu. "Ähm... nein, so war das nicht gemeint. Ich wollte es nur wissen." "Hey, wenn du jemanden kennst, dann mußt du es melden. Ich meine, du könntest damit sein Leben retten, nicht? Und das wäre wichtig." "Ja, klar doch. Aber ich kenne keinen." Káshira wandte sich wieder dem Geschehen auf dem Feld zu. Aber er konnte dem Spiel nicht folgen; denn in seinem Kopf entstand plötzlich Hōtáru, der ihn wütend anschrie. "Mr. Supercool mischt sich wieder mal ein... wen kümmert es schon, wenn ich sterbe... Rette jemand anderen..."
"Du bist ein Trottel, Hōtáru. Und ich werde es nicht zulassen, das du so weitermachst" sagte Káshira leise zu sich. "Hast du was gesagt?" meldete sich Sachou von oben. "Nein, äh... gar nichts!" antwortete Káshira peinlich berührt.
Auf dem Spielfeld ging es inzwischen hoch her. Die letzten Minuten der zweiten Halbzeit waren angebrochen, und es stand 5 : 5 für Kaikyō. Hōtáru mußte ziemliche Schmerzen haben, zeigte das aber nicht im geringsten. Er schien fest entschlossen zu sein, seinen Körper bis aufs Letzte zu fordern. Der Verband am Knie war schon rot gefärbt, und er fühlte seinen Knöchel grausam pochen. Trotzdem gab er nicht auf. Gerade hatte er den Ball in die Hände bekommen und versuchte, ihn abzugeben; seine zwei Gegenspieler, die ihn immer noch umkreisten, hatten aber offensichtlich beschlossen, ihm endgültig den Rest zu geben. In dem Bruchteil einer Sekunde, als der Schiedsrichter nicht genügend Aufmerksamkeit zeigte, trat ihm der eine brutal auf seinen ohnehin schon lädierten Knöchel. Hōtáru knickte lautlos zusammen, aber keiner schien das Foul bemerkt zu haben. Während er fiel, umklammerte er den Ball noch fester, obwohl ihm vor lauter Schmerz übel war und seine Gegner versuchten, ihn aus seiner Hand zu reißen. Nur noch zwei Minuten zu spielen, und er lag auf dem Boden und wünschte sich in sein Zimmer zurück. Aus weiter Ferne hörte er Kíngyo schreien
"Gib ihn ab! GIB ENDLICH AB!" Aber er gab den Ball nicht ab, sondern schaffte es irgendwie, seinen Oberkörper aus dem Dreck zu heben und mit voller Wucht in das gegnerische Tor zu schießen. Sekundenlang herrschte verblüffte Stille, dann setzte der Jubel ein.
Die Spieler aus Sakyū verließen grummelnd und unzufrieden das Feld, ohne auch nur daran zu denken, Hōtáru aufzuhelfen. Dasselbe taten seine Teamkollegen; sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig hochleben zu lassen, als auf ihren verletzten Spieler zu achten.
Ohne eine Miene zu verziehen stemmte er sich schließlich von selber hoch und verließ ebenfalls das Feld, ohne am Jubel seiner Mitspieler teilzunehmen. Der Schmerz in seinem Knöchel hatte inzwischen solche Dimensionen angenommen, daß er sich zu einem sofortigen Arztbesuch entschloß, da sich die Stelle auch wieder dunkelblau gefärbt hatte und sich in der Mitte eine Art Knoten gebildet zu haben schien.
Inzwischen drängten sich alle Übrigen ebenfalls in den Umkleideraum. "Gut gespielt, Suigín" grinste der Kapitän. "Warum bist du nicht auch draußen geblieben?" Aber er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern drehte sich zu den Restlichen und fing an, mit seinen früheren Erfolgen zu prahlen. Hōtáru beteiligte sich (wie immer) an keinem einzigen Gespräch, sondern verließ als erster den Raum.
Sein Knie und der Ellbogen brannten, durch sein Kiefer schoß immer noch hie und da eine Schmerzwelle, aber das war alles harmlos, im Gegensatz zum Knöchel. Als er beim Arzt angekommen war, war er unendlich dankbar, schon nach kurzer Wartezeit an die Reihe zu kommen.
Nachdem der Doktor seinen Knöchel genau untersucht hatte, schüttelte er sorgenvoll den Kopf und brummte unverständlich vor sich hin. Dann blickte er auf. "Die linke Seite hat aber heute das schlimmste Los gezogen, was? Rechts ist ja nur der Ellbogen ein bißchen angeschlagen. Aber das ist nicht so schlimm; in spätestens drei Tagen ist das wieder in Ordnung. Das selbe gilt für das Knie und die linke Gesichtshälfte. Wird zwar ein bißchen blau sein, aber das geht rasch vorbei. Aber der Knöchel, Junge..." Er schüttelte sorgenvoll den Kopf und seufzte tief auf. "Da hat sich eine Verhärtung gebildet, die man vermutlich nur operativ entfernen kann. Das sollten wir bald machen. Und eins sollte dir klar sein, auch wenn es sehr hart klingt, aber...
also, falls du vorhattest, Profisportler zu werden..." er sah ihm direkt in die Augen "dieser Traum wird sich vermutlich leider nicht mehr erfüllen lassen. Du kannst zwar in deinem Club spielen, aber Dauerbelastungen sind nicht mehr drin. Und übertreib es beim Spielen nicht. "
"Das macht mir nichts aus. Ich wollte kein Profi werden." "Ist ja auch besser so" tat der Arzt erleichtert. "Besser den Geist trainieren, was? Das soll nicht heißen, das du keinen Sport treiben sollst. Wie gesagt, in deinem Club trainieren, in Maßen natürlich, ist okay. Aber du darfst deinen Knöchel einfach nicht mehr zu stark belasten."
Der Arzt schlug ihm ein paar Termine vor, an denen er die Operation durchführen lassen konnte. Die Praxis war gleich an ein Sanatorium angeschlossen, was Hōtáru und seinen Eltern die lästige Suche nach Chirurgen und anderem ersparte. Abgesehen davon war es kein Wunder, daß er so bevorzugt und in Ruhe behandelt wurde; zu diesem Arzt kamen nur Patienten, denen es zwar an Gesundheit, aber garantiert nicht an Geld mangelte.
Er entschied sich für den ersten Termin; der Eingriff würde gleich in zwei Tagen unter örtlicher Betäubung vorgenommen werden. Das ersparte ihm den Ärger langer Wartezeiten. Der Doktor warnte ihn allerdings noch. "Eine Narbe, Herr Suigín, die wird allerdings bleiben, und zwar keine allzukleine. So an die drei Zentimeter wird sie sicher lang sein. Es klingt zwar nach einem leichten Eingriff, aber..." "So eine Narbe macht mir nichts aus." "Sie kann ja kosmetisch entfernt werden...." "Nein, ich denke, Narben sind nützliche Erinnerungen."
Der Arzt schwieg verwirrt und versuchte zu lächeln. "Dann sehen wir uns also in zwei Tagen. Die Bestätigung deiner Eltern..." "Bekommen Sie noch, keine Sorge."
Hōtáru verabschiedete sich eilig und strebte heimwärts. Er war jetzt so müde, daß er ohne Probleme auf der Straße hätte einschlafen können. Zuhause warf er sich in seine Hakamá und versuchte zu schlafen, schaffte es diesmal aber nicht. Zu viele Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum. Er hatte sich einmal gewünscht, ein Profi zu werden. Natürlich, das wollten alle Kinder. Aber Hachí hatte immer behauptet, er könnte ein Volleyball-As werden. Und er war gut gewesen. Aber seit Yún... nein, seit Silvester konnte er nicht mehr spielen. Warum, wußte er nicht, aber es ging nicht mehr. Er hatte alles verloren, das ihm jemals wichtig gewesen war. Alles. Er hatte weder richtige Freunde, noch ein Hobby, das ihm Spaß gemacht hätte, oder Menschen, die ihn auch nur zu verstehen versucht hätten. Keiner machte sich die Mühe... " "Wozu auch?" flüsterte eine boshafte Stimme in sein Ohr. "Warum sollte sich jemand dein Geflenne anhören? Die Menschen wollen keine winselnden Hunde wie dich." Hōtáru versuchte nicht, die Stimme zu überhören, da er wußte, das sie die Wahrheit sprach. Was hatte er denn schon getan, um die Aufmerksamkeit von jemandem zu verdienen? Er hatte noch nie etwas Besonderes gemacht... er war einfach nichts und niemand. Verschwand in der Masse.
"Wie lange willst du dich noch selbst bemitleiden?" flüsterte die Stimme wieder. "Wenn du kein so erbärmlicher Schwächling wärst, würdest du dich selbst aus dem Sumpf ziehen. Aber wenn es dir besser gefällt, auf irgendwen zu warten, der ja doch nicht kommt... dann Fröhliches Ertrinken!" Hōtáru stand plötzlich ruckartig auf und kramte ein Stofftier hervor, das wie ein blaues Pichu aussah. Auf dem Weg zurück ins Bett streifte sein Blick ein Paar Handschuhe, die immer noch auf seinem Schreibtisch lagen. Kurz bevor er einschlief, dachte er noch an Káshira.
