6. Kapitel
Morpheus (MorjeuV)
Seine Eltern sagten nicht viel zu seiner Verletzung. Ihnen war es ganz recht, daß ihr Sohn in Zukunft etwas kürzer treten mußte, da ihnen Kitsuné von dem Spiel erzählt und sie sein verletztes Gesicht gesehen hatten. Hōtáru war es ohnehin egal, es schien ihm sogar richtig zu sein, daß es so gekommen war. Er hatte keine Erfolge mehr verdient.
Der Kapitän seines Clubs dagegen schäumte und benahm sich, als ob er seinen Knöchel absichtlich verletzt hätte. "Suigín, vielen Dank! Hast du dir mal überlegt, was wir jetzt machen sollen? Wir brauchen jemanden wie dich, klar? Und das nächste Spiel ist in einem Monat! Wie sollen wir jetzt einen anderen so trainieren, daß er genauso gut ist wie du? Abgesehen davon bist du für die Mannschaft ziemlich unnütz. Zweite Reserve; stell dich schon mal darauf ein."
Als zweite Reserve würde er nicht viel mehr zu tun haben, als den Boden zu schrubben und die Halle aufzuräumen. Ob das mit seinem Knie funktionieren würde, das immer noch schmerzte, war allerdings fraglich.
Die Operation verlief schnell und schmerzlos. Sein Vater hatte sich bereitwillig erklärt, seinen armen Sohnemann selbst abzuholen. Verdächtig. Später dachte Hōtáru, das er es hätte wissen müssen.
"Hōtáru, also, jetzt ist ja schon der Frühling da... so schönes, mildes Wetter..." Er lachte gekünstelt und drehte sich seinem Sohn zu. "Was meinst du?" Hōtáru schnaubte nur verächtlich und schwieg. Sein Bein war dick bandagiert und pochte leise. Offensichtlich ließ die Betäubung langsam nach. "Nächstes Wochenende geht die ganze Familie essen. Du kommst doch mit, Hōtáru, weißt du, wir treffen uns nämlich noch mit einem Geschäftsfreund..." "Nein, danke, ich verzichte gerne" entgegnete Hōtáru kühl. "Mehr deiner Geschäftspartner möchte ich nicht kennenlernen." "Sei kein Sturkopf, Hōtáru. Es wird dir gefallen, ganz sicher!" Sein Vater sah einer Katze ähnlich, die gerade den Milchtopf umgeworfen hatte. "Bitte, Hōtáru, tu mir den Gefallen. Dafür" er blinzelte listig "mußt du auch beim nächsten Familientreffen im Sommer nicht dabei sein. Das wäre doch ein Angebot, oder?"
Hōtáru überlegte nur kurz. Entweder ein Abend mit irgendwelchen Geschäftsfreunden, bei dem er sich mit etwas Glück bald verdrücken konnte, oder zwei Horrortage mit seiner Familie und den schrecklichen Verwandten. "Also gut, nächste Woche, wann fahren wir?" "Braver Junge!" strahlte sein Vater zufrieden. "Sie werden dir gefallen, der Abend wird ein voller Erfolg!"
Hōtáru bezweifelte das zwar stark, beschloß aber zu schweigen. Auf Streit hatte er jetzt wirklich keine Lust, und wenn es seine Eltern glücklich machte - bitte.
"Weißt du Hōtáru, es wird Zeit für dich, wieder Spaß zu haben. Mit deinen Freunden auf Parties zu gehen, Mädchen kennenzulernen... all das, was man eben so macht, wenn man jung ist."
"Welche schlechte Serie hast du wieder gesehen?" fragte Hōtáru voll Abscheu. "Bitte, du kannst Kitsuné solchen Blödsinn erzählen, aber mich kannst du damit in Frieden lassen, vielen Dank."
"Aber Hōtáru! Du benimmst dich in letzter Zeit immer seltsamer. Abgesehen davon, daß du viel zu viel schläfst – Kitsuné hat mir erzählt, daß du dich in der Schule schlecht benimmst, und dich keiner mehr leiden kann. Und ich will, das mein Sohn Freunde und Spaß am Leben hat!"
"Wozu? Um vor deinen Mitarbeitern damit anzugeben?" fragte Hōtáru mit ätzendem Spott. "Tut mir wirklich leid, Vater, daß ich dich enttäuschen muß. Aber wer weiß; ihr könntet noch schnell ein Kind adoptieren, vielleicht erfüllt das eure Erwartungen besser. Und mich und Kitsuné steckst du einfach in ein Heim für schwer Erziehbare, und die Sache hat sich. Oder?"
Sein Vater schien etwas erwidern zu wollen, winkte dann aber müde ab und sprach während der restlichen Fahrt kein Wort mehr.
Er wirkte anders als sonst; müde und grau, viel älter und sorgenvoller. Aber Hōtáru hatte keine Lust mehr, sich zu entschuldigen oder die Sache richtig auszudiskutieren. "Wir haben schon viel zu viel sinnlos geredet" dachte er bitter.
Das Wochenende nahte. Wieder einmal mußte er sich in einen Anzug zwängen und vor den Geschäftsfreunden seiner Eltern den braven Sohn mimen.
"Hōtáru! Bist du fertig?" Kitsuné stapfte in sein Zimmer. Er trug eine eigenartige Kombination- ein hellblaues Jackett und karierte Hosen. "Kitsuné, du hast keinen Geschmack." Kopfschüttelnd packte er seinen Bruder am Ellbogen und suchte ihm etwas Passenderes heraus. "Kitsuné, wie soll es mit dir enden, wenn du nie auf dich achtest?" "Tu ich doch" gab er achselzuckend zurück. "Mama und Papa machen sich eher Sorgen um dich. Ich hab gehört, daß sie etwas haben, das dich garantiert aufheitern wird." "Hast du auch zufällig gehört, was das ist?" fragte Hōtáru angespannt. Mein Gott, wenn seine Eltern schon wieder einen ihrer seltsamen Einfälle hatten... dann konnte er nur beten, daß dieses Essen schnell vorüberging.
Auf der Fahrt zum Restaurant wagte er eine vorsichtige Frage. "Was habt ihr denn für heute geplant? Warum sollten wir überhaupt mitkommen? Ich meine, eure Geschäftspartner haben doch kein Interesse an uns. Wozu also der ganze Aufwand?"
"Ach, Hōtáru, wir dachten einfach, es würde euch gefallen, mit uns Essen zu gehen. Und... naja, es könnte sein, das jemand von Interesse für dich dabei ist, Schätzchen, haha" flötete seine Mutter mit unschuldigem Gesichtsausdruck.
Hōtáru schüttelte sich vor Abscheu. "Bitte, bei allem... aber deine Kosenamen... könntest du das nicht lassen? Es ist widerwärtig, und ich kann dann nichts mehr essen."
"Ich bin deine dich liebende Mutter, Hōtáru- Schatz" gab sie beleidigt zurück. "Aber bitte, wenn du darauf bestehst..." "Ja, vielen Dank." Hōtáru kümmerte es nicht, daß seine Mutter die Beleidigte spielte. Sie würde ohnehin bald damit aufhören. Und hoffentlich würden sie und sein Vater bald mit ihrem "Wir sorgen für unser kleines Söhnchen"- Spiel bald aufhören. Es raubte ihm seine letzten Nerven.
"Soo, wir sind da" ließ sein Vater leicht nervös hören. "Hōtáru, du benimmst dich sehr höflich, und du, Kitsuné," er stockte einen Moment. "Mach dasselbe wie immer."
Es war das "La Vague", in dem er mit Yún gewesen war. Aber an sie durfte er jetzt nicht denken. An einem langen Tisch wurden sie bereits erwartet. Ein Ehepaar mit einer etwa 16- jährigen Tochter erhob sich und begrüßte sie. Die Tochter kam ihm vage bekannt vor, er konnte sich allerdings nicht mehr genau daran erinnern. Aber das war...
"Das ist mein Sohn Hōtáru, Mr. Tsutsumí, aber sie kennen ihn ja schon." Abrupt wurden seine Gedankengänge unterbrochen. Glücklicherweise schien er die korrekten Gesten automatisch vollführt zu haben, da ihn alle huldvoll anlächelten.
"Und meine Tochter Kiíchigo kennt den jungen Herrn ja auch schon." Hōtáru hob erschrocken den Blick; schon wieder hatte er nicht zugehört. Aber wenigstens wußte er jetzt wieder, woher er das Mädchen kannte. Sie war die Braunhaarige, die ihm sein Vater zu Silvester vorgestellt hatte und er auch aus dem Marineclub und der Schule kannte. Deshalb also hatten sie ihn mitgeschleppt. Er durfte wieder mal den Alleinunterhalter einer verwöhnten Göre spielen. Unhörbar seufzend fügte er sich in sein Schicksal und ließ ihre Unterhaltung, die recht einseitig geführt wurde, und sich hauptsächlich um Schmuck und Kleider drehte, apathisch über sich ergehen.
So richtig wach wurde er erst, als sich sein Vater plötzlich feierlich zu ihm beugte und seltsam verschwörerisch lächelte. Hōtáru wurde unruhig.
"Hōtáru, wir haben eine große Überraschung für dich. Du und die bezaubernde Kiíchigo" er grinste sie beide an "scheint auf einer Wellenlänge zu liegen, wie wir schon zu Silvester feststellen konnten." Mr. Tsutsumí nickte bestätigend und lächelte Hōtáru ebenfalls zu.
"Und da ihr euch beide so wundervoll versteht, haben wir uns" die beiden Ehepaare strahlten sich verständnisinnig an "dazu entschlossen, ein bißchen nachzuhelfen und Amor zu spielen."
Mrs. Tsutsumí hatte plötzlich ein verräterisches Glitzern in den Augen. Ihre Stimme klang leicht belegt. "Mein lieber Hōtáru, du und meine kleine Tochter sind ab heute" sie jubelte beinahe "Verlobt! Um eure Liebe zu festigen! Schon seit ein paar Monaten betrachtet ihr euch scheu aus der Ferne. Und da euch der Mut zu fehlen scheint, es uns mitzuteilen, stellen wir es hiermit klar und deutlich fest." Auch seine Mutter weinte. "Ach, ich bin so glücklich."
Hōtáru war wie vor den Kopf geschlagen. Kiíchigo? Das konnte nur ein sehr übler Scherz sein. Er hatte mit diesem Hohlköpfchen gerade mal an die drei Stunden geredet. Wobei sich sein Anteil auf geschätzte zehn Worte erstreckte. Nein, das mußte ein... ein dummer, böser Scherz sein. Langsam hob er den Blick zu seinem Vater; aber als er dessen glücklichen Gesichtsausdruck sah, wurde ihm schockartig bewußt, das er in einer sehr geschickt angelegten Falle gelandet war. Er war wie ein Idiot hineingetappt. Natürlich, Yún war ihnen ja nicht gut genug gewesen. Aber Miß Tsutsumí war da ja etwas anderes. Was konnte er tun? Wie konnte er sich noch retten; ihr entkommen, dem Unheil entfliehen? Die ernüchternde Wahrheit zeigte ihm, das es hier keinen Ausweg mehr gab. Er mußte die Zähne sehr fest zusammenbeißen und gute Miene zu äußerst bösem Spiel machen.
"Ähm... seid ihr euch... also, seit wann seit ihr auf diesen Gedanken.... also, warum heute?" murmelte Hōtáru schwach. Es hörte ihm aber ohnehin keiner zu; alle beglückwünschten sich und lachten. Kiíchigo lächelte ebenso hübsch und brav mit.
"Kiíchigo, wessen Idee war das? Wir kennen uns doch kaum." Er wollte wenigstens einen Sündenbock haben, wenn schon diese Verlobung nicht mehr zu ändern war. "Na, deine und meine Eltern hatten diese Idee. Warum? Wen interessiert das schon?" Sie maß ihn mit einem abschätzigen Blick. "Geld hast du ja, und du siehst einigermaßen passabel aus. Und ich" sie grinste kokett "bin ja wohl auch besser als die anderen Mädchen, oder?"
Hōtáru dachte für eine Sekunde, sich verhört zu haben. "Dein Selbstbewußtsein ist auf jeden Fall nicht zu klein." "Oh, Danke sehr!" Kiíchigo strahlte und nickte begeistert. "Komplimente kannst du jedenfalls machen." "Na, ihr Turteltäubchen? Plant ihr schon die Hochzeitsreise?" Mr. Tsutsumí neigte sich zu ihnen. "Ist doch ein Riesenglück, meine kleine Tochter zu bekommen, oder? Ein echter Sonnenschein! Mit so einer hübschen Frau an deiner Seite wird dir alle Welt aus der Hand fressen!" "Wenn sie nur nicht hineinbeißt." dachte Hōtáru ärgerlich. Er fühlte langsam eine kalte, unbeherrschte Wut in sich aufsteigen. Dachten sie denn alle, sie könnten mit ihm machen, was sie wollten, über ihn bestimmen, wie es ihnen gerade in den Kram paßte? Oh nein. Das würde er nicht zulassen. Er war gerade im Begriff, den Mund zu öffnen und etwas zu sagen, da hörte er plötzlich die Stimme seines Vaters. "Nun ja, Hōtáru hat ja auch schon ein paar Fehltritte hinter sich. Aber er ist ja noch jung, und diese unerfreulichen Probleme lösten sich alle von selbst. Aber..."
Das weitere hörte er nicht mehr. Er hatte es immer für eine dumme Redensart gehalten; aber plötzlich fühlte es sich an, als hätte jemand ein kleines, scharfes Messer mitten in sein Herz gebohrt und jede Energie aus seinem Körper gesaugt. Er fühlte sich nur noch müde und zum ersten Mal kurz davor, in Tränen auszubrechen. Aber dieses Gefühl verging schnell. Es ist sinnlos zu weinen, wenn einen keiner trösten will. Wenn auf Tränen nur Unverständnis trifft, vergrößert sich der Schmerz um ein Vielfaches.
Statt dessen mußte er lächeln und so tun, als wäre er unglaublich begeistert, mit jemandem verlobt zu sein, dessen Hirn nicht mehr enthielt als den neuesten Mode- und Schmuckkatalog.
Als sie nach Hause fuhren, mußte Hōtáru eine Frage stellen. "Warum Kiíchigo? Konntet ihr keine andere finden? Sie wird noch mal" er stockte kurz "eine sehr teure Ehefrau, habt ihr das nicht bedacht?"
"Ach was, Hōtáru." Seine Mutter hatte sich umgedreht und lächelte ihn an. "Du wirst genug Geld haben, um ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Abgesehen davon hat auch sie recht viel Geld."
"Na toll" meinte Hōtáru trocken. "Wen kriegt Kitsuné? Ihr müßt vorsorgen. Ich könnte morgen sterben, da braucht ihr schnell einen Nachfolger, der natürlich auch verlobt sein muß. Also.. da gibt es ja einige Kandidatinnen, oder?"
"Sei nicht kindisch, Hōtáru." Das Lächeln seiner Mutter flackerte nervös. "Kitsuné braucht keine Verlobte im Moment. Aber du! Du brauchst jemanden, der dich aufheitert. Und dafür ist Kiíchigo genau die Richtige!"
"Mutter" schnitt ihr Hōtáru heftig das Wort ab. "Bist du dir sicher, daß du von mir sprichst? Das du mich kennst? Ich bin dein Sohn, und nicht irgendein Wunschkind, daß ihr euch so zusammengeträumt habt. Warum hörst du nie auf das, was ich sage und will?"
"So spricht man nicht mit seiner Mutter, Hōtáru." warf sein Vater abrupt ein. "Ständig versuchen wir, dir alles recht zu machen, aber nein, der gnädige Herr hat ja an allem etwas auszusetzen."
Hōtáru starrte ihn einige Sekunden sprachlos an. "Was... was sagst du da?" Er lachte bitter auf. "Ihr habt doch nicht die geringste Ahnung davon, was ich will. Wen und ob ich überhaupt heiraten will! Ich habe keine Lust, jemals zu heiraten, okay?"
"Aber Hōtáru." Seine Mutter lachte schon wieder. "Du hast nur kalte Füße, das ist alles! Natürlich wirst du Kiíchigo heiraten, und du wirst uns noch dankbar sein, das wir so ein hübsches Mädchen für dich aufgetrieben haben."
"Kiíchigo ist wenigstens eine passende Partie für dich. Nicht so wie diese Chinesin.... da wäre sowieso nichts rechtes daraus geworden... das ist dir jetzt wohl endlich klar. Du brauchst eine anständige Frau. Wir haben dir mehr als genug Zeit gegeben, sie zu vergessen. Und ich hoffe" er sah seinen Sohn streng an "das du sie auch vergessen hast. Einer kindischen Jugendliebe nachzuhängen ist lächerlich, Hōtáru."
Hōtáru war im ersten Moment wie vor den Kopf geschlagen. Was hätte er erwidern sollen? Das er es zwar versucht hatte, aber Yún keineswegs vergessen hatte? Immer noch spukte die Erinnerung an sie in seinem Kopf herum. Wie hätte es einen Ersatz für sie geben sollen? Und dann noch diese schreckliche Kiíchigo! Warum taten ihm seine Eltern nur so etwas an. Haßten sie ihn denn so sehr?
Von diesem Zeitpunkt an beschloß er endgültig, seine Gefühle einzufrieren und in seinem tiefsten Inneren zu verstauen. Alles, was er tat und jemals getan hatte, war offensichtlich falsch und lächerlich. Die anderen würden sich nicht ändern; er mußte sich anpassen, sonst würde er unweigerlich verlieren. Und er wollte nur noch in Frieden leben. Wenigstens mit seinen Eltern. Er konnte nicht mehr freundlich sein; in der Schule würde er nur noch unbeliebter werden, das war ihm klar. Er würde keine echten Freunde finden; vielleicht deshalb, weil es keine echten Freunde gab. Am Ende wurde man ja doch nur verraten und verkauft.
Es war offensichtlich auch falsch, Gefühle zu zeigen. Jedenfalls Gefühle wie Trauer. Und anscheinend gab es Menschen, um die man nicht trauern sollte.
Kitsuné gähnte und reckte sich; dabei stieß er unabsichtlich gegen Hōtáru, der ruckartig bemerkte, daß er die Fingernägel seiner rechten Hand brutal in den Handballen gepreßt hatte, ohne es zu spüren. Die halbmondförmigen Schnitte bluteten leicht, und langsam kam ein scheußlich stechender Schmerz. Hōtáru starrte die kleinen Wunden gedankenverloren an. Sein Großvater hatte ihm oft von den Samurái erzählt. Von dem strengen Ehrenkodex; von der Art zu leben und einem Herrn zu dienen. Von Ehre. Sein Ur- ur- ur- Urgroßvater Yoshimitsu hätte wegen solcher Kleinigkeiten nicht geflennt. Er hätte alles vergessen und nur einer Sache gedient, die wichtiger als alle andere war. Aber welche Sache war wichtig? Wegen welcher Dinge sollte er sich selbst aufgeben?
In seinem Kopf drehte sich alles. Er selbst war wertlos; also brauchte er etwas, dem er dienen konnte. Einen Menschen, eine Sache.
"Wir sind da, Hōtáru. In die Halle fährt der Wagen nicht."
Langsam stieg er aus dem Auto und wanderte, noch immer in Gedanken verstrickt, in sein Zimmer, wo er sich schon automatisch umzog und ins Bett legte. Die Hakamá war angenehm weich und schmiegte sich um seine Beine, während er langsam in den Schlaf driftete.
Das schönste an diesem Dämmerzustand war die Tatsache, daß er zu keinen Gefühlen fähig war. Er lag einfach nur da und wartete auf den Schlaf. Vielleicht war dies das Beste; keine Gefühle mehr, die ihn aufhielten und sein Leben noch mehr verdarben. Kein falscher Stolz mehr. Kein Aufbegehren gegen die anderen, die glaubten, ihn besser zu kennen als er selbst.
Es würde ein harter Weg werden. Aber in dieser Nacht beschloß Hōtáru, sein Leben, das wertlos war, wertlos sein mußte, in die Dienste einer besseren, wertvolleren Sache zu stellen. Er wußte nicht genau, welche; das würde er schon noch sehen. Aber er mußte aufhören, sich und seine Gefühle zu wichtig zu nehmen. Er würde seinen Eltern nicht mehr widersprechen, sondern brav Kiíchigos Verlobten spielen. Und er würde versuchen, seine Gefühle zu ersticken und einzudämmen.
Er mußte sehr lange geschlafen haben; als er die Augen aufschlug, war es schon Mittag, und nach einigen angenehmen Sekunden fiel ihm siedendheiß ein, daß er wieder einmal ein Treffen des Clubs versäumt hatte. Sie hatten beschlossen, sich am Samstag zu treffen und in den Hafen zu gehen, um mehr über die verschiedenen Schiffstypen zu erfahren. Na, auch egal. Im Marineclub hatte er vermutlich ohnehin soviel Punkteabzug, daß sie ihn bald aus dem Team werfen würden.
Vor seiner Tür hörte er Schritte, dann klopfte jemand. "Hōtáru, bist du wach?" Es war Kitsuné. Hōtáru hatte wirklich keine Lust, ihn zu sehen, also drehte er sich einfach um und stellte sich schlafend. Er würde schon von selbst gehen.
Aber es war nicht nur sein Bruder, der da vor der Tür stand. Eine zweite Person trat ebenfalls ins Zimmer. "Danke, Kitsuné, ich warte eben, bis er aufwacht. Egal, wie lange es dauert." Káshira. Was wollte der Kerl bloß schon wieder hier?
Stur stellte er sich weiterhin schlafend und hörte, wie der ungebetene Gast Platz auf einem Zabúton nahm. Sowas Ungehobeltes. Konnte er denn nicht sehen, daß er schlief?
Aber Káshira hielt es nicht lange auf dem Sitzkissen. Nach einer Weile stand er auf und stellte sich vor das Samuráischwert. "Weißt du was? Einer meiner Vorfahren war ein Ninja. Angeblich jedenfalls. Komisch, was?"
"Trottel," dachte Hōtáru, "ich schlafe. Warum spricht er trotzdem mit mir?"
"Warum tust du das nur, Hōtáru? Du hast doch keinen Grund dazu."
"Was meint er?" dachte Hōtáru verwirrt. "Warum nervt er mich in letzter Zeit mit irgendwelchen blöden Verdächtigungen? Er soll mich in Ruhe lassen."
Káshira setzte sich neben Hōtáru auf den Futón und legte die Hand auf seine Schulter. "Hōtáru, wach doch auf, ja? Es kann nicht gut sein, wenn du so viel schläfst."
Jetzt war der richtige Zeitpunkt, um der Sache auf den Grund zu gehen. "Was willst du bloß von mir?" Seine grünen Augen bohrten sich in ein Paar Dunkelblauer. "Warum interessierst du dich in letzter Zeit für das, was ich tue? Ich kann dir sowas von egal sein, okay? Kümmere dich um Sachen, die wirklich wichtig sind!"
"Aber du bist wichtig, Hōtáru! Okay, ich wei" Káshira wurde leicht verlegen "wir sind nicht die engsten Freunde, aber trotzdem... ich weiß jetzt ziemlich sicher, was du nimmst!" Er strahlte. "S.E.L.E.N.E, stimmts?"
S.E.L.E.N.E war ein synthetisch hergestelltes, heroinähnliches Opiat. Ebenso wie Heroin rief es einen Zustand größter Gleichgültigkeit und Schmerzunempfindlichkeit hervor, allerdings ohne Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit, Übelkeit oder Fieber. Es war auch nicht halb so stark wie Heroin oder Opium, sondern eine "schwache" Designerdroge. Dennoch war die Rate der Abhängigen hoch, und das Mittel höchst gefährlich.
Hōtáru erstarrte für eine Sekunde. Darauf hatte also alles abgezielt. Káshira hielt ihn für einen Gelegenheitsjunkie, der zwei Tage vor Weihnachten im Drogenrausch seinen Knöchel verletzt hatte und bei dem Handballspiel durch die schmerzhemmende Wirkung nichts gefühlt hatte.
"Du bist auf dem Holzweg, Káshira." "Was ist es dann? C.H.A.R.O.N?"
Auch diese Droge basierte auf den gleichen Grundstoffen wie S.E.L.E.N.E. Eine ganze Menge neuer synthetischer Drogen hatten diese Abkürzungen, die an griechische Götternamen erinnerten.
"Káshira, wie oft soll ich es dir noch sagen, bis du es mir glaubst? Ich brauche keine Drogen, um mich schlecht zu fühlen, das kann ich schon von selbst."
"Du weißt wohl gar nicht, daß sich Watarí und dein Bruder riesige Sorgen um dich machen, oder? Und dein Verhalten von Weihnachten könntest du mir auch gerne erklären. Du warst total weggetreten - richtig beängstigend, ich dachte, du würdest sterben." "Wäre besser gewesen." "Hör auf, sowas Dummes zu sagen." "Was ist so dumm daran?"
Káshira stockte einen Moment. "Du hast eine Familie, der du wichtig bist, du Trottel. Hast du das vergessen? Es gibt offensichtlich keine andere Erklärung für dein Benehmen. Watarí war wirklich besorgt- er sagt, du schläfst nur noch und kümmerst dich um nichts mehr richtig. Er hat Angst, daß eure Freundschaft zerbricht."
"Wenn Watarí so besorgt ist, wo ist er dann jetzt? Wozu bist du hier- wir kennen uns kaum, du hast recht. Und als Freunde kann man uns nicht wirklich bezeichnen, oder?" Hōtáru hatte keine Lust, höflich zu sein. "Kannst du Watarí ausrichten, daß er sich meinetwegen einen anderen Freund suchen soll... einen, um den er sich keine Sorgen machen muß? Abgesehen davon braucht sich überhaupt niemand um mich zu sorgen- darauf kann ich echt verzichten, okay? Weißt du, was dein Problem ist, Káshira? Du versuchst immer, heldenhaft zu sein, damit dich dann alle anderen anhimmeln und sagen: Toll, Káshira, gut gemacht! Du bist ja immer soo nett und hilfst allen!" Bei den letzten Worten war seine Stimme immer härter geworden. Die Grenze war erreicht. Noch ein falsches Wort, und er würde explodieren.
"Weißt du was, Hōtáru? Eigentlich ist es mir persönlich sowieso egal, was du tust oder nicht tust. Es ist nur so, das Chūjitsu Kitsuné ein wenig ausgefragt hat- und mir dann erzählt hat, das sich die beiden große Sorgen um dich machen. Und Watarí möchte dich nicht fragen, weil du immer so überaus freundlich antwortest."
"Das ist trotzdem kein Grund, warum du mich ständig störst. Okay, ich weiß, ich hätte heute zu diesem blöden Treffen kommen sollen. Sorry, hab verschlafen. Ich schätze, ihr werdet mich sowieso bald rauswerfen, also wo liegt das Problem?"
Káshira lächelte plötzlich grimmig. "Das hättest du wohl gerne- das wir dich rausschmeißen und du nichts mehr zu tun hast. Nein, keine Sorge. Du wirst im Club bleiben- und du wirst lernen, pünktlicher zu sein. Überhaupt jetzt, wo du doch dort eine Verlobte hast."
Hōtáru fuhr auf. "Woher weißt du... was meinst du..." "Natürlich hat uns Kiíchigo alles brühwarm erzählt. Du kannst eben nichts geheimhalten." Káshira lachte. "Abgesehen davon warne ich dich, weiterhin irgendwas Illegales zu tun... ich hasse kaum etwas mehr als Drogenabhängige... und ich würde dich sofort melden, wenn du irgendwen sonst da reinziehst. Okay? Wenn du nicht pünktlicher wirst-" er grinste "dann hole ich dich in Zukunft persönlich ab, klar?"
Ohne eine Erwiderung von ihm abzuwarten, drehte er sich um und verließ den Raum, einen sprachlosen Hōtáru zurücklassend. Was bildete der Kerl sich eigentlich ein? Warum drohte er ihm mit sowas? Ob er selbst schon mal was geschluckt hatte?
Hōtáru hatte wirklich noch nie in seinem Leben Drogen genommen- nicht einmal probiert. Damit gehörte er zu einer Minderheit unter den Jugendlichen. Da er nicht besonders viele Freunde hatte, gab es keine Gruppe, wegen der er es hätte tun müssen. Und von selbst spürte er kein Verlangen danach.
Aus irgendeinem Grund ärgerte es ihn, das Káshira so etwas von ihm dachte. Er wollte nicht schlecht vor ihm dastehen. Warum, wußte er nicht genau; aber gleichzeitig fürchtete er, einen Feind dazugewonnen zu haben. Denn er wollte Káshira keinesfalls von Yún erzählen- er würde die ganze Sache nicht verstehen, und Hōtáru hatte sie vergessen. Ausradiert. Das wollte er jedenfalls denken.
Ein alter Spruch sagt, daß ein Mensch zweimal sterben kann- das erste Mal körperlich. Das zweite Mal, wenn er von denen, die ihn lieben, vergessen wird.
Nachdem Káshira gegangen war, blieb Hōtáru liegen und begann über sich selbst nachzudenken. Ihm war klar, daß die Art, wie er sich benahm, im Grunde eine sehr selbstzerstörerische war- das Handballmatch hatte das deutlich gezeigt. Aber er wollte es nicht ändern. Es war, als würde er eine Strafe abbüßen- die Strafe für den Tod der einzigen Person, die ihm etwas bedeutet hatte. Seine Eltern und sein Bruder verstanden ihn nicht- ebensowenig wie er sie. Ihre und seine Probleme und Träume ähnelten sich nicht. Bei Yún war das etwas anderes gewesen.
Er hatte mit niemandem über sie sprechen oder um sie trauern dürfen- keiner wollte etwas über dieses Thema hören. Selbst Watarí, sein einziger Freund, konnte ihn nicht verstehen. Aber vielleicht, so dachte er bitter, lag das nur daran, das selbst sein einziger Freund kein richtiger war.
Jetzt allerdings wollte er über dieses Thema nicht mehr sprechen. Es war zu spät- schon seit langer Zeit zu spät. Er hatte offensichtlich einen Fehler gemacht, indem er eine Person gefunden hatte, der er vollkommen vertraute. Vielleicht durfte es sowas nicht geben. Vielleicht gehörte es zum Leben jedes Menschen dazu, mißtrauisch bleiben zu müssen.
