7. Kapitel
Phylaca (julakh)
Eine Woche nach dieser unseligen Verlobung hatten sich seine Eltern schon wieder etwas Neues einfallen lassen, um ihren Sohn aus seiner Lethargie zu reißen. Der 6. März, sein Geburtstag, sollte dazu dienen, die Verlobung mit Kiíchigo Tsutsumí publik zu machen. Ein riesiges Fest stand an.
"Bitte, tut mir das nicht an. Keine große Feier, okay? BITTE, Vater." Hōtáru bettelte um sein Leben. Er konnte das nicht- mit dieser Puppe an seiner Seite einen Tag unter Leuten, die er allesamt nicht mochte. Er wollte Ruhe und Frieden.
Aber wie immer kam er damit nicht durch. Und da er sich geschworen hatte, seinen Eltern nicht mehr zu widersprechen, mußte er auch diese Feier durchstehen.
Die halbe Schule mußte eingeladen worden sein- jedenfalls alle seine Klassenkameraden. Darunter auch sein Marineclub.
Das Wetter war schon sehr warm und freundlich, richtig ungewohnt für diese Jahreszeit. Das Fest sollte in einem großen, glasüberdachten Restaurant stattfinden, das hart an das Meer grenzte. Es hätte sehr schön sein können- so dachte Hōtáru- wenn keine Menschen außer ihm hier gewesen wären. Der peinlichste Moment war der Augenblick der Bekanntgabe seiner Verlobung. Kiíchigo trug ein wundervolles Kleid aus hellblauer Seide mit zartgrünen Spitzen, und sah ausgesprochen schön aus. Kein Wunder; für ihre Frisur allein mußte sie an die zwei Stunden gebraucht haben.
Ihre Mutter weinte vor lauter Glück, ebenso wie seine, und ihre beiden Väter mußten vor lauter Rührung tief durchatmen, als die beiden von allen beglückwünscht wurden. Hōtáru fühlte sich wie eine Maus im Angesicht der Katze. Kiíchigo dagegen schien den Trubel zu genießen und badete in den neiderfüllten Kommentaren ihrer Freundinnen. Hōtáru schnappte einige Wortfetzen auf. "... Hast ja echt Glück gehabt mit dem. Reich, hübsch.... bin richtig neidisch. Jetzt schon verlobt.... also, mein Verlobter ist süßer... gibst du ihn mir, Kiíchigo? Ich schwärme schon seit langem.... so viel Geld.... bist ein Glückspilz, Kiíchigo...."
Auch die Bemerkungen der männlichen Seite konnten sich sehen lassen. "Hey, Suigín- wie bist gerade du an so ein Goldstück gekommen.... jetzt bin ich schon so lange ihr Nachbar, aber mich sieht sie nicht an.... Komm schon, du weißt, das so ein Engel nichts für einen wie dich ist, zu mir würde sie besser passen...."
"Was ist, Hōtáru, schenkst du sie mir?" hörte er plötzlich eine Stimme dicht neben seinem rechten Ohr. Durch den warmen Luftzug erschreckt, zuckte er zusammen und drehte sich um. Sein maskenhaft starres Lächeln fiel von ihm ab und er fühlte einen Kloß im Hals stecken. "Du kannst sie gerne haben, Káshira, ich will sie nicht." "So redet man aber nicht über seine zukünftige Braut, Hōtáru." Káshira grinste boshaft. "Obwohl ich den anderen zustimme- zu dir paßt sie auf keinen Fall."
"Dann nimm du sie doch. Obwohl sie sich ja offensichtlich für mich entschieden hat." "Ja, für dein Geld." Hōtáru wurde rot und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. "Das nimmst du zurück, hörst du? Von jemandem wie dir, der sich vermutlich die Hälfte seiner Freundinnen erkauft hat, brauche ich mir das ja nicht wirklich sagen zu lassen!"
"Aber Hō-chan, wer wird denn gleich so heftig reagieren? Man könnte meinen, ich hätte recht." Seine Stimme triefte vor Spott. Káshira amüsierte sich anscheinend köstlich.
Hōtáru wollte etwas entgegnen, wurde aber von Kiíchigo abgelenkt, die ihn am Ärmel gepackt hatte und seine Aufmerksamkeit erzwang. "Was willst du, Kiíchigo?" Er betrachtete zum ersten Mal ihr Gesicht wirklich genau.
Sie lächelte zwar herzlich und wirkte niedlich und süß, aber das Lächeln erreichte ihre Augen nicht vollkommen. Tief in ihnen war eine unsägliche Langeweile zu sehen. Offensichtlich wünschte sie ebenso wie er ihre Verlobung zum Teufel.
"Hōtáru, Liebling, du mußt mich jetzt mal küssen, okay?" flüsterte sie leise und lächelnd. Er war im ersten Moment verwirrt. "Warum?"
"Weil alle meine Freundinnen hersehen, du Dummkopf!" Ihre Augen wurden drängend. "Ich bin auch nicht nur zum Spaß hier! Wenn ich denen keine Show biete, wie stehen wir denn dann da? Du willst doch auch, daß diese Verlobung ein Erfolg wird, oder? Abgesehen davon halten dich sonst alle für.... hmm, noch verdrehter als sowieso schon."
Auch Hōtáru lächelte jetzt, ebenso falsch wie sie. "Was meinst du mit "verdreht"? Warum?"
"Weil du schon seit Urzeiten keine Freundin hattest, Hōtáru! Na, ist der Groschen gefallen?"
Anstatt zu antworten, beugte er sich zu ihr und bemühte sich, ihr einen halbwegs echt aussehenden Kuß zu geben. Das Ergebnis war schockierend, jedenfalls für ihn. Genausogut hätte er ein Stück Fleisch küssen können. Es war regelrecht widerlich.
Trotzdem gelang es ihm, seinem Gesicht einen glücklichen Ausdruck zu verleihen, obwohl er sich weit weg wünschte. Am besten in die Wildnis. Am besten ins Jenseits.
"Na also, war doch nicht so schwer. Aber auf der Skala kann ich dir leider nur eine 5 plus geben. Höher kommst du nicht."
"Skala? Was für eine Skala?" Ungeduldig verdrehte Kiíchigo ihre nußbraunen Augen und seufzte. "Hōtáru, du bist eine echte Niete. Die Kußskala natürlich. Ist doch ganz klar, oder?"
Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und schloß sich wieder ihren Freundinnen an, denen sie das ganze anscheinend als tolles Erlebnis schilderte. Sein Vater stellte sich wie zufällig neben ihn und nickte zufrieden. "Na, was habe ich dir versprochen? Eine schöne Frau, und ihr werdet euch wundervoll verstehen. Da mache ich mir keine Sorgen. Bei eurem Zeichen der Zuneigung eben" seine Augen wurden feucht "da mußte deine Mutter direkt ein wenig weinen. Wir haben selten so ein schönes Paar wie euch zwei gesehen."
Gerade noch rechtzeitig erinnerte sich Hōtáru an sein nächtliches Versprechen und schluckte die bissige Entgegnung hinunter, die ihm schon auf der Zunge lag. Statt dessen nickte er nur idiotisch und bahnte sich einen Weg zur Getränkebar. Auf dem Weg dorthin traf er wieder einmal auf Káshira. "Nette Demonstration, das eben. Hast du extra viel geübt, um das heute über die Bühne zu kriegen?" "Ja, drei Tage lang. Warum fragst du, willst du auch einen? Anmeldungen bitte schriftlich." "Ja, warum eigentlich nicht?" Kashira grinste und blieb ruckartig stehen, so daß Hōtáru genau in ihn hineinprallte und dunkelrot wurde. Glücklicherweise bemerkte das keiner. "Kannst du das in Zukunft lassen? Ich hasse deine blöden Scherze!" fauchte Hōtáru peinlich berührt und suchte das Weite. Kamomé stellte sich neben Káshira und zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe. "Was war denn los?" erkundigte sie sich kühl. "Ich liebe nichts mehr, als ihn aus der Fassung zu bringen." Káshira begann zu lachen und grinste Kamomé an. "Was ist, willst du mit mir ein bißchen an die frische Luft gehen?" Sein Lächeln wurde anzüglicher. "Kamomé, du siehst heute wirklich toll aus... ehrlich, das steht dir gut...." "Das kannst du dir sparen, Mr. Macho" entgegnete sie trocken. "Ich bevorzuge Intelligenz." Káshira nahm es ihr nicht übel, sondern lachte wieder und reichte ihr versöhnlich den Arm. "Komm, suchen wir Tókui und Moko, und gehen wir wirklich ein wenig raus. Ich kann so enge Räume nicht leiden."
An das Restaurant war eine große Terrasse angeschlossen, auf der die Vier im Kreis liefen. Bald schloß sich ihnen noch Sachou an. Tókui brach das Schweigen zuerst. "Was haltet ihr davon?" "Wovon?" fragte Moko und wußte im selben Moment, was sie meinte. "Das Fest heute? Na, Kiíchigo und Suigín verloben sich eben." "Eben? Wie meinst du das? Die zwei waren doch noch nie befreundet oder so." "Es ist eben eine Geldsache" schaltete sich Sachou ein. "Die Eltern haben es bestimmt, habe ich gehört."
"Das ist ja... widerwärtig!" Tókui wirkte wütend. "Arme Kiíchigo- mit so einem Trottel!" "Für sie dürfte es ja nicht so schlecht sein. Er ist ja wirklich reich... und ich glaube nicht, daß er sich sonderlich viel um andere Leute kümmert. Sie kann garantiert tun und lassen, was sie will."
"Von Suigín habe ich ja so einiges an Gerüchten gehört, wenn ich ehrlich sein soll."
Sachou wirkte verlegen. "So viel ich gehört habe, hat er noch nie eine richtige Freundin gehabt... also, ihr wißt schon..." "Gerüchten soll man nicht trauen" meldete Kamomé streng. "Was dabei herauskommt, kann einer unkontrollierbaren Lawine von Ereignissen gleichkommen."
"Ja, schon, aber..." "Die Verlobung dürfte ja alle Schwätzer zum Verstummen bringen. Trotzdem-" Moko schüttelte den Kopf. "Glücklich sieht Hōtáru nicht aus... irgendwie tut er mir leid. Ich glaube, wenn er könnte, würde er sich selbst fressen." "Eine komische Vorstellung." Tókui begann schallend zu lachen. "Könnt ihr euch das mal so bildlich vorstellen- er beißt in seine Hand?" "Das ist nicht lustig, Tókui." Kamomé wirkte angewidert. "Also ehrlich, den heutigen Tag hätte ich besser in der Bibliothek verbringen können. Gestern habe ich ein paar interessante Bücher entdeckt..." "Ach, Kamomé, du bist so langweilig. Mit deiner Strebsamkeit machst du uns allen ein richtig schlechtes Gewissen!" beschwerte sich Káshira und gähnte. "Los, kommt, setzen wir uns hinter den Strauch da. Vielleicht erwischen wir jemanden, der aus dem Restaurant kommt, bei einer unrechten Tat."
Die Bank lag nahezu unsichtbar hinter dem Strauch. Wer ins Freie trat, mußte sich wirklich unbeobachtet fühlen.
Sie mußten nicht lange warten. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür und Watarí trat ins Freie, dicht gefolgt von Hōtáru, der nicht sonderlich begeistert wirkte. "Die Aussicht ist mir egal. Komm schon, Watarí, ich möchte endlich nach Hause. Kannst nicht du meinen Vater überreden? Auf dich wird er hören."
"Du weißt genau, daß das nicht geht. Du mußt schon bis zum Ende hier bleiben. Sorry, aber deine Eltern machen das alles hier nur wegen deiner Verlobung."
"Ja, toll. Wegen dieser verdammten Verlobung überschlagen sie sich fast. Aber mein Geburtstag lockt keinen Hund hinter dem Ofen hervor." Watarí wirkte plötzlich unangenehm berührt. "Ach... dein Geburtstag ist..." "Ja, genau, heute, du Blitzdenker. Aber du brauchst dich nicht halbherzig zu entschuldigen- es hat ohnehin keiner daran gedacht. Auch egal. Vielleicht wäre es sowieso besser, wenn es keinen Geburtstag gäbe." "Sag doch sowas nicht. Du weißt doch genau, daß du es nicht so meinst." "Ach nein? Und warum sage ich es dann?" Um seinen Mund hatte sich ein bitterer Zug gebildet. "Aber du glaubst sowieso nie das, was ich sage. Ich kann tun was ich will, es bestimmen ohnehin immer andere über mich. Weil sie ja ganz genau wissen, was ich will und tue und tun soll." Die letzten Worte hatte er regelrecht ausgespuckt. "Warum erklärt ihr mich nicht gleich für Unzurechnungsfähig und schickt mich in ein Irrenhaus? Das wäre doch passend!"
Watarí wurde langsam wütend. "Das stimmt doch alles gar nicht! Keiner spricht dir deine Entscheidungskraft ab! Aber, verdammt noch mal, du benimmst dich, als wärst du hirnto-" Erschrocken brach er ab und starrte in die Augen seines Freundes, die sich plötzlich geweitet hatten. "Hōtáru, es tut mir wirklich leid" brachte er noch lahm hervor, aber es war zu spät. Ohne ihn anzusehen, drehte Hōtáru sich um und lehnte seinen Körper gegen die steinerne Brüstung.
Blicklos starrte er in das unruhige Meer und reagierte nicht auf die zaghaften Versuche Watarís, sich zu entschuldigen. Nach ein paar Versuchen gab dieser auf und kehrte in das Restaurant zurück. Hōtáru blieb weiterhin stehen und starrte die Wellen an. Sie sagten ihm nichts. Sie zeigten ihm immer nur eine kleine weiße Gestalt, die er nicht sehen wollte.
Sachou stieß die anderen an. "Los, kommt, wir gehen wohl besser wieder rein" flüsterte er leise. "Wir sollten ihn nicht stören." Schweigend nickten alle und schlichen durch die Terrassentür ins Innere. Tókui war verlegen.
Sie hatte nicht gewußt, das heute sein Geburtstag war- keiner von ihnen hatte ihm gratuliert, statt dessen hatte sie gemein über ihn geredet. Es tat ihr richtig leid.
Wenn er wiederkam, das nahm sie sich vor, dann wollte sie extra nett zu ihm sein. Die Gelegenheit dazu bekam sie nicht, da Hōtáru es vorzog, auf einer der Bänke Platz zu nehmen und dort regungslos zu verharren, mit der unterbewußten Hoffnung, jemand würde sein Fehlen bemerken und ihn suchen. Diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Eigentlich bemerkte keiner außer Watarí und den Fünfen, das er fehlte. Er hatte seine Schuldigkeit getan, indem er Kiíchigo geküßt und ein wenig mit den Gästen geplaudert hatte. Weiters interessierte er keinen.
Die Feier war zu Ende, und die Gäste begannen langsam, sich zu verabschieden. Mr. Suigín beeilte sich, seinen durchgefrorenen Sohn zu holen und ihn immer dieselben Abschiedsworte stammeln zu lassen. "Vielen Dank, daß sie uns beehrt haben... so eine Freude... ich hoffe, wir begegnen uns bald wieder." Am Ende ging das schon automatisch, und Hōtáru erwachte erst aus seiner Starre, als er sich vor seinem Bruder verbeugen und die Wortfetzten murmeln wollte. Nur noch Watarí war übrig. "Was ist, willst du nicht auch langsam gehen?" Heute hatte er keine Lust mehr, nett zu sein. Nach diesen unbedachten Worten, die seine Gefühle wieder schmerzhaft aufgewühlt hatten, hatte er keine Freundlichkeit verdient. "Bist du mir noch böse, Hōtáru? Ich dachte, das wäre schon aus und vorbei. Ich meine, ich dachte, du würdest gar nicht mehr daran denken." "Du solltest das Denken wirklich jemand anderem überlassen, Watarí. Aber du hast recht, ich denke nicht mehr daran. Und es wäre nett von dir, wenn du den Mund auch weiterhin hältst." "Du hast ja jetzt sowieso Kiíchigo. Da ist alles, was vorher war, sowieso egal." Watarí, der sich seiner Grausamkeit gar nicht bewußt war, wirkte erleichtert. "Ich bin froh, daß du über das alles so gut hinweggekommen bist. Dann können wir wieder von vorne anfangen und alles besser machen, nicht wahr?" Er lachte unbeschwert und übersah absichtlich, wie sich Hōtárus Gesicht verächtlich verzog. Seine kleine Welt, die durch diese unwillkommene Rivalin ins Wanken geraten war, befand sich wieder in Ordnung. Kiíchigo würde immer nur einen Teil von Hōtáru kennenlernen. Sie würde niemals seine Vertraute werden, so wie er es war. Diese Chinesin war eine gefährliche Feindin gewesen. Aber glücklicherweise hatte sie sich wie von selbst ausgeschaltet.
Watarí wollte nicht bewußt grausam oder hinterhältig sein. Er hätte sich sicherlich niemals absichtlich Yún Haiyángs Tod gewünscht. Für ihn hatte sich nur alles perfekt aufgelöst- das eine Jahr, das er im Ausland verbracht hatte, hatte Hōtáru zwar eine Freundin gefunden- aber kurz bevor er nach Hause zurückgekehrt war, war sie tragischerweise ums Leben gekommen. Es war fast zu perfekt. Er hatte Glück gehabt, seinen Freund zu behalten. Watarí erkannte nicht, das er ihn schon längst verloren hatte- und niemals wirklich sein Freund gewesen war. Aber es kommt darauf an, wie man Freund definieren will- jemand, dem man alles anvertrauen kann, oder jemand, mit dem man die Tage über die Runden bringt.
Fröhlich verabschiedete er sich und eilte beschwingt die Straße hinunter. Ja, diesmal würde alles, aber auch wirklich alles besser werden.
Auch Hōtáru und seine Familie verließen das Restaurant. Seine Mutter strahlte ihn an. "Na also. Alles Gute zu deinem Geburtstag übrigens." "Ach, ihr erinnert euch noch daran? Das wundert mich." "Also, hör mal!" sie schüttelte den Kopf. "Reicht denn deine Verlobung nicht als Geschenk?" Ohne seine Antwort abzuwarten, redete sie munter weiter. "Im Sommer verbringen wir alle miteinander zwei Wochen in unserer Strandvilla auf O-shima. Dort könnt ihr euch im Wasser vergnügen und noch besser kennenlernen. Das wird doch toll, was meinst du?"
Wie üblich ignorierte jeder im Wagen seinen entsetzten Gesichtsausdruck. "Seit wann ist denn das geplant? Davon höre ich heute zum ersten Mal!" Sein kleiner Bruder grinste. "Ich weiß es schon längst! Mama und Papa haben das vor ein paar Tagen mit Kiíchigos Eltern ausgemacht. Gut, daß keine Schwester oder so mitgekommen wird! Also mußt nur du dich mit ihr herumplagen!"
Hōtáru gab darauf gar keine Antwort, da er zu verblüfft war, um überhaupt nur den Mund zu öffnen. Na toll. Wieder einmal hatten seine Eltern über ihn hinweg entschieden, ohne ihn auch nur zu fragen- war er denn wirklich so leicht übergehbar?
"Mama, ich fahre nicht mit. Dazu habe ich nicht im geringsten Lust." Seine Stimme klang energisch. Diesmal würde er es ihnen schon zeigen. Diesmal- "Sei doch nicht so schrecklich kindisch, Hōtáru." Sein Vater klang direkt angeekelt, als würden diese ständigen Diskussionen seinen Magen übersäuern. "Du weißt genau, daß du mitfahren und dich ordentlich um deine Verlobte kümmern wirst." "Und deine kleine Einlage heute- daß du dich von den Gästen nicht einmal verabschieden wolltest- was hast du dir dabei gedacht? In den unpassendsten Momenten gehst du nach draußen!" Der Blick, den ihm seine Mutter zuwarf, war alles andere als freundlich. "Immer muß man sich für dich schämen!"
Jeglicher Widerstand war wie weggeblasen. Hōtáru senkte seinen Kopf und verachtete sich selbst. Na toll. Sie hatten nicht einmal bemerkt, daß er über zwei Stunden in der Kälte gesessen war. Aber noch während er das dachte, lachte er sich selbst aus. Soo ein armer Junge. Er mußte schon selbst aufs Töpfchen gehen und seine Nase putzen. Es wurde langsam Zeit, aufzuhören, andere für seine eigenen Fehler verantwortlich zu machen. Von ihrem Standpunkt aus hatten seine Eltern ja auch durchaus recht. Ihr kleiner Sohn hatte endlich eine "richtige Partie" gemacht- nicht so eine dahergelaufene- Diesen Satz konnte er nicht mehr zu Ende denken. Wie eine Art Selbstschutz schweiften seine Gedanken sofort in eine andere Richtung ab.
Später lag er wie immer wach in seinem Bett. Er schaffte es einfach nicht, einzuschlafen, obwohl er am nächsten Tag wieder früh aus den Federn mußte- schließlich war immer noch Schule.
Trotzdem beschloß er nach einer Weile aufzustehen und noch an die frische Luft zu gehen. Schaden würde es nicht. Und das Schuljahr dauerte ja auch nicht mehr allzulange.
Auf dem Weg nach draußen begegnete er zum Glück niemanden. Eine Erklärung dafür zu finden, was er um halb ein Uhr nachts auf den Straßen zu finden hoffte, überstieg seine Kräfte.
Wieder einmal lief er ziellos durch die Straßen... er hätte nicht sagen können, wohin er eigentlich ging. Die Nacht war sehr lau und tröstlich, überspannt von einem seidigen Sternenhimmel. Die Kälte, die noch folgen würde, würde dafür doppelt so hart zu ertragen sein.
Plötzlich bemerkte er vor sich am Straßenrand einen Lichtschein. Eine 24- Stunden lang geöffnete Nudelbude oder etwas ähnliches. Eigentlich hatte er Hunger; warum also sollte er sich nicht etwas gönnen? Es war zwar schon halb zwei, aber das war egal- ohne noch lange darüber nachzudenken, setzte er sich auf einen der Hocker vor der Theke und wartete. Die Bedienung, ein junges, etwas fremdländisch aussehendes Mädchen, erschien bald. Sie sprach mit minimalem Akzent. "Sie wünschen? Wir führen Speisen aus Myanmar, aber wenn sie etwas anderes wollen..." "Nein, vielen Dank, geben sie mir..." Hōtáru hatte keine Ahnung, wie so etwas überhaupt schmeckte. Ohne viel zu zögern wählte er gleich das erste auf der Karte. Es war ohnehin egal.
Irgendwie fühlte er sich bei dieser kleinen Bude sehr heimelig- sie wirkte warm und auf seltsame Art und Weise vertraut...
Das Mädchen stellte ihm einen Teller mit Nudeln in einer stark nach Fisch riechenden Suppe hin. Es roch sehr ungewohnt, und Hōtáru befürchtete das Schlimmste. Nachdem er aber vorsichtig probiert hatte, stellte sich das Essen als sehr gut heraus. "Das ist Moat-hin-kar." Das Mädchen hinter der Theke lächelte plötzlich, als sie seine Vorsicht sah. "Das ist das Nationalgericht schlechthin- Reisnudeln in Fischsuppe. Es riecht zwar etwas eigenartig, schmeckt aber sehr gut." Sie betrachtete ihn genauer. "Es ist ehrlich gesagt nicht üblich, daß jemand wie Sie um diese Zeit hier auftaucht- es sind eher rastlose Seelen, die hier etwas Licht suchen." Hōtáru begann stumm seine Nudeln zu essen und starrte vor sich hin. In ihm wuchs der brennende Wunsch, sein Herz auszuschütten. Aber er konnte es nicht.
Nicht einmal hier, nicht einmal in dieser so vertraut wirkenden Bude. Aber... "Wissen Sie, ich bin auch so wie..." er lachte bitter "ihre rastlosen Suchenden... ich..." Verlegen brach er ab und wurde rot. Wofür würde sie ihn wohl halten? Er hatte Glück, wenn sie nicht die Irrenanstalt anrief.
"Ja, das dachte ich mir schon. Niemand sonst kommt um diese Zeit zu einer Straßenbude, wenn er nicht etwas auf seinem Herzen trägt..." Sie fixierte ihn schärfer. "Haben Sie auch Sorgen? Eine Last auf ihrer Seele?" Plötzlich drehte sie wie ertappt den Kopf zur Seite. "Bitte verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit... ich wollte nicht..." "Das macht doch nichts. Sie haben mich nicht beleidigt... es ist nur... ich darf Sie doch nicht mit meinen lächerlichen Sorgen belästigen..."
Das Mädchen lächelte ihn an. "Natürlich dürfen sie. Mein Name ist Nanda Sein Sanda. Ich komme aus Mandalay...Myanmar...meine Mutter ist von hier. Aber sie lebt sehr nach den Traditionen Myanmars, deshalb die Speisekarte und der Akzent. Bis zu meinem dritten Geburtstag lebte ich in Mandalay; Zuhause spricht meine Mutter niemals Japanisch."
"Warum führen Sie und nicht ihre Mutter oder ihr Vater diesen Stand?"
Sein Sanda wirkte plötzlich sehr traurig und müde. Sie lächelte matt, aber ihre Augen schwammen in Tränen. "Mein Vater ist nicht mehr bei uns. Er..." Sie brach ab, und Hōtáru beeilte sich, sie zu beruhigen. "Es tut mir sehr leid... ich wußte ja nicht..." "Nein, schon gut. Er ist ja nicht tot- er ist nur... nach Hause zurückgekehrt. Nach Myanmar."
Hōtáru fiel ein, daß er sich noch gar nicht vorgestellt hatte. Wie unhöflich. "Mein Name ist Suigín... Hōtáru. Äh... ich wollte Sie nicht kränken..." "Nein, das haben Sie nicht. Es ist nur... wissen Sie, meine kleine Schwester Phyu Nyunt und meine Mutter, wir vermissen meinen Vater sehr..." Sie schüttete ihm ihr randvolles Herz aus; die Nacht schien ihre Zunge gelockert zu haben. "Mein Vater... er hatte einen besten Freund... der in Myanmar blieb, als wir hierherzogen. Vater muß U Moe Thant Thida sehr vermißt haben, aber nie sagte er ein Wort..." Schweigend starrte sie in den Mond, der schimmernd durch die schwarzen Zweige schien. Hōtáru versuchte das lastende Schweigen zu brechen. "Sie haben eine kleine Schwester? Sorgen Sie für sie und ihre Mutter, oder..." "Meine Mutter besitzt ein kleines Vermögen. Aber ich will nicht, das sie es für uns verbraucht- deshalb diese Bude. Aber sagen Sie, haben Sie auch Geschwister? Oder..." "Ja, einen kleinen Bruder. Aber manchmal glaube ich, er lebt in einer völlig anderen Welt... ich kenne ihn eigentlich gar nicht..."
"Kennen wir denn überhaupt irgend jemanden wirklich?" Sein Sanda hatte den Blick von der silbrigen Scheibe abgewandt und sah ihn ernst an. "Manchmal glaube ich, wir alle leben in einer anderen Welt. Irgendwie sehen und hören wir uns alle, aber wir leben nur nebeneinander... durch unsichtbare Trennwände verbunden und getrennt. Und es ist ganz gut so. Wer weiß, in welche Abgründe anderer Seelen wir sonst stürzen würden? Könnten wir die wahre Realität überhaupt ertragen? Gibt es sie überhaupt?"
Sie hatte die Arme auf den Tresen gestützt und beobachtete die Sterne. "Sie müssen diese Gedanken für sehr seltsam halten. Aber ist es denn nicht wirklich so, daß man niemanden richtig kennt? Was meinen Sie?"
"Ich... ich weiß nicht... aber je länger ich darüber nachdenke, desto mehr.... es stimmt, ja. Vielleicht... leben wir durch unsere persönlichen Erfahrungen getrennt in unserer eigenen Welt, zu der niemand sonst Zutritt hat... Diese Welt... sie ist aus unseren Wünschen gebaut. Wir wären gerne anders und spielen deshalb eine Rolle, die wir uns selbst und andere auf den Leib schneidern... weil wir zu ungenügend sind, wie wir sind..."
"Weil uns niemand wirklich braucht" vervollständigte Sein Sanda ohne Bitterkeit. Es war lediglich eine Feststellung. Hōtáru schluckte. Sie hatte recht; aber es war nicht schön, das zu hören. "Warum ist ihr Vater in Myanmar? Warum folgen Sie nicht dorthin?"
Ihre Augen ruhten forschend auf ihm. "Wissen Sie eigentlich, wofür Myanmar berühmt ist? Wie es genannt wird?"
Don mußte verneinen. "Im Moment fällt mir ehrlich gesagt dazu nicht viel ein..."
"Myanmar wird das "Land der tausend Pagoden" genannt. In nahezu jedem Dorf können Sie mindestens eine Pagode finden. Von den Dorfbewohnern in persönlicher harter Arbeit geschaffen, zu Ehren des Buddha. Das ist immer gleich. Die tieferen Gründe, warum sie Einzelpersonen zu bauen beginnen, sind aber oft viel weltlicher.
Vor einem halben Jahr kehrte mein Vater nach Myanmar zurück. Vor einem Jahr starb sein Freund U Moe, und diesen Verlust konnte er nicht verkraften. Mit U Moe Thant Thida verstand er sich noch besser als mit meiner Mutter, und für ihn gibt er uns alle auf. Nach seinem Tod war Vater untröstlich. Er weigerte sich zu essen, oder mit jemandem zu sprechen. Mein Großvater schlug ihm schließlich, als ihm keiner mehr helfen konnte, vor, etwas zur Erinnerung an U Moe zu tun. Großvater dachte an eine kleine Reise. Mein Vater an eine Pagode. Schon seit einem halben Jahr ist er in seinem Heimatdorf und arbeitet und spart und baut... und irgendwie... ach, ich weiß nicht..." Ihre großen dunklen Augen füllten sich mit Tränen. "Ich habe die böse Vorahnung, daß er nicht wiederkommen wird...Er wollte sich von uns nicht einmal helfen lassen... Er nimmt kein Geld von uns an....
Nur von Menschen, die ihren großen Kummer nur noch mit dem Gedanken ertragen können, ihre Spende würde die Erinnerung an ihre geliebten Toten lebendig erhalten, nimmt er etwas..."
Überraschend lächelte sie schwach. "Ja, mein Vater ist ein seltsamer Kauz... Aber ich wünsche mir so sehr, daß er wiederkommt... daß wir für ihn ebenso wichtig werden. Aber andererseits kann ich ihn verstehen... das ist das Traurige an der ganzen Sache... U Moe war ihm eben schon immer wichtiger als wir alle... Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern."
"Das... das tut mir sehr leid. Aber..." Hōtáru wußte nicht, was er sagen sollte. Die Situation ihres Vaters ähnelte seiner irgendwie. Es war hart, zu sehen, wie sehr sich jeder mit seinem Leben abquälte, und doch niemals auf einen grünen Zweig kam.
"Haben... haben Pagoden auch Namen?" Er war erstaunt, wie rauh seine Stimme plötzlich klang. "Ich vermisse auch jemanden sehr... Sie ist vor einem halben Jahr gestorben, und ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie mein Leben weitergehen soll... Wie ich ohne sie leben soll... egal wie das jetzt klingt, aber ich vermisse sie schrecklich... Es bricht mir..."
"Haben Sie sich gut mit ihr verstanden? Ihrem Tonfall nach zu schließen..." Sein Sanda wirkte mitfühlend, obwohl sie an ihren eigenen Sorgen mehr als genug hatte.
"Wenn man sich mit jemandem so gut versteht, daß man beinahe die gleichen Gedanken hat... und doch sind sie wieder völlig anders... man... Sie war so... perfekt... und ich... bin an allem schuld. Wenn ich nicht gewesen wäre, könnte sie heute noch leben, und so viele Menschen hätten mehr Freude an ihrem Leben." Seine Stimme brach ab. Endlich hatte er ausgesprochen, was ihm seit Monaten schwer auf der Seele lastete. Aber dieses Geständnis brachte keine Erleichterung, sondern lediglich verschollene Bruchstücke an die Oberfläche seiner Seele zurück. Alle verdrängten Gefühle. Alle ungeweinten Tränen, die er nicht weinen konnte... auch jetzt nicht...
"Das ist alles so... so kitschig und abgedroschen, so schrecklich... aber ich kann nicht anders sagen, was ich fühle..." Sein Kopf schmerzte wieder schrecklich. Es war alles seine Schuld gewesen. Wie vielen Menschen hatte er schon Schmerzen verursacht? Wieviel?
"Quälen Sie sich nicht." Sein Sandas Stimme klang besorgt; sie konnte seinen inneren Kampf sehen. "Es kommt schon noch die Zeit, in der Sie einen Menschen finden, der ihren Kummer lindern kann... wie seltsam..." Sie lachte trocken auf. "Im Dorf wird die Pagode meines Vaters so ähnlich genannt... "Lindere meinen Kummer". Offiziell wird sie wohl anders heißen, aber... der Name ist so passend... "Lindere meinen Kummer"... ha, aber das ist unmöglich..." Ihre Stimme verklang, und sie starrte in die Ferne.
Der Mond schien weiter ungerührt auf die Erde, zwischen den Ästen der Bäume hindurch, ohne die Sorgen und Qualen der Menschen, die sich Trost von ihm erhofften, zu beachten.
Der Mond selbst hat keine heilende Wirkung. Diese Wirkung können nur Menschen haben, und oft nicht einmal sie.
Hōtáru schwieg und starrte in die schimmernde Scheibe. Zum ersten Mal seit Monaten hatte er wieder gewollt an sie gedacht... war es richtig gewesen, sie vergessen zu wollen? Aber sein Weg war schon zu weit, er konnte nicht mehr umkehren. Als Statist dazu verdammt, sich selbst beim Scheitern zuzusehen. Gefangen in einer Welt, die ihm nicht gefiel, und die ihn langsam auflöste. Sie alle taten es- seine Eltern, Kiíchigo, ihre Eltern, die Schule. Sie hatten ihn in eine Gußform hineingepresst, und für sie sah es auch so aus, als würde er langsam Form annehmen, aber in Wirklichkeit war das Stück unvollkommen und fehlerhaft.
Sein Sanda war in Gedanken auch weit fort. Sie dachte an die Pagoden, die sie kannte, und an die Bedeutungen und Hoffnungen, die diese in sich trugen... an den Buddha. An die Wiedergeburt in ein besseres Leben. Und an das Nirvana, das alle erreichen wollten.
Hōtáru riß sich gewaltsam von der hypnotischen Wirkung der schimmernden Scheibe los und kramte in seinen Taschen herum. "Richten sie ihrem Vater aus, das er die Erinnerung an einen Engel in diese Pagode legen soll... man soll sie nicht vergessen..."
Nanda Sein Sanda wurde erst richtig wach, als sie ein dickes Päckchen knisternder Scheine zwischen ihren Fingern spürte und verwirrt ihrem Gast hinterherstarrte, der eilig in der Dunkelheit verschwand.
