8. Kapitel

Cetus (to khtoV)

"... Die Einsamkeit ist so groß, daß ich manchmal nicht weiß, ob ich es schaffen kann... Das alles ist so schwer für mich, aber für andere wäre es leichter... Es muß an mir liegen, daß ich es nicht schaffen kann... Das ich täglich aufs Neue verzweifle. Manchmal bin ich nicht einmal sicher, ob ich den heutigen Tag überstehen kann... Ich vermisse alles so sehr... es ist leider so, daß ich offensichtlich unfähig bin, etwas zu erreichen... immer muß es jemanden geben, an dem ich mich festklammern kann, und der mich mitzieht... aber warum kann ich nicht so stark wie alle anderen sein... warum scheitere immer nur ich? Warum kann ich dann nicht wenigstens alles schweigend ertragen, wie es besser wäre? Und die Dinge hinnehmen, wie sie sind?

Ich rette mich von einem Tag in den anderen. Aber auch wenn ich es jetzt schaffe, fürchte ich um die Zukunft- denn dort wird man herausfinden, daß ich mir den Weg dorthin nur erschlichen und erlogen habe... und in Wirklichkeit völlig wertlos und unfähig bin..."

Langsam riß Hōtáru den Zettel von seinem Notizblock, knüllte ihn ohne sichtbare Gefühlsregung zusammen und stopfte ihn in den leeren Aschenbecher, der vor ihm auf dem Tisch stand. Solche Dinge machte er in letzter Zeit öfter... seine Gedanken auf einen Zettel zu schreiben und dann wegzuwerfen, damit keiner sie sah... Manchmal war es dann, als würde er mit einem guten Freund reden, der absolut vertrauenswürdig war. Dieses Gefühl brauchte er so dringend...

Es war schon ziemlich spät, und er saß in einem kleinen chinesischen Restaurant in O-shima, in dem er auf Kiíchigo warten mußte. Der Blick ging auf eine ziemlich ruhige Seitenstraße mit einigen hell erleuchteten Schaufenstern, auf der nur ab und zu einige Leute vorbeigingen und sehnsüchtige Blicke in die Auslagen warfen.

Er war jetzt schon so lange mit ihr verlobt... schon beinahe ein halbes Jahr. Und trotzdem konnte er sie immer noch nicht sonderlich gut leiden. Sie war zwar hübsch und alles, aber sie war so...

"Da bist du also. Wie üblich in so einer kleinen Bude, in der man sich kaum umdrehen kann." Kiíchigo war aufgetaucht und stolzierte auf seinen Tisch zu. Ihr waren kleine Lokale unangenehm. Sie liebte große, offene Säle mit vielen Menschen. Hōtáru seufzte leicht und betrachtete sie mit unbewegter Miene. Wie immer war sie geschmackvoll und teuer zugleich angezogen. Mit einem untrüglichen Instinkt fand sie immer Dinge, in denen sie zugleich unschuldig und cool aussah. Die kleinen Mädchen in den Straßen hatten bereits begonnen, sie zu imitieren.

Gelangweilt ließ sich seine Verlobte auf einem Sessel nieder und nahm ihre Sonnenbrille ab. Mit gerunzelter Stirn überflog sie die Speisekarte und ließ sie verächtlich auf den Tisch fallen.

"Ich kann dieses Essen nicht leiden, Hōtáru. Das weißt du genau. Warum gehen wir nicht endlich in ein schickes Restaurant, in dem coole Leute abhängen? Diese winzigen Räumchen treiben mich noch mal zum Wahnsinn, ehrlich."

"Tut mir wirklich leid, Kiíchigo-chan. Aber du kannst natürlich auch nach Hause fahren und dort mit... hmm, coolen Leuten abhängen." Hōtáru grinste innerlich. Ihre Antwort war vorherzusehen. "Du spinnst wohl? Wie siehts wohl aus, wenn ich die einzige bin, die in den Ferien nicht in einem Badeort war, hmm? Soll ich mich vor allen blamieren? Abgesehen davon solltest du dir auch langsam Gedanken über dein Image machen. Vor meinen Freundinnen muß ich mich schon schämen, du bist der einzige Typ der so... na, frigid ist... du weißt schon..." Leicht errötend lehnte sie sich zurück und schüttelte ihre langen braunen Haare.

Hōtáru grinste boshaft. "Kiíchigo, Schätzchen, ich glaube, du weißt die halbe Zeit gar nicht, was du da eigentlich daherredest. Aber mehr als Dekorativität kann man von dir wohl nicht verlangen."

"Und von dir nicht einmal das." Unzufrieden kräuselte sie die Oberlippe und betrachtete ihren Verlobten genauer. "Du bist nicht mal braun. Und du ziehst dich an... also, chic ist das echt nicht. Gut, daß die anderen nicht hier sind und dieses Trauerspiel sehen."

"Danke für diese schönen Worte, Liebling. Aber du kannst mich ja auf den Fotos braun einfärben lassen, und die Sachen...übermalen, dann sieht es auch gleich ganz anders aus..." Hōtáru wünschte sich wieder einmal nach Hause. Kiíchigo war wirklich nicht mehr als eine hübsche Puppe, und sie war völlig..."Hohl." Erst durch ihren ungläubigen Augenaufschlag bemerkte er, daß er peinlicherweise laut gedacht haben mußte. Durch das Erscheinen des Kellners wurde sie allerdings von jeglichen Fragen, die sie vielleicht stellen wollte, abgelenkt und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Zusammenstellen des fettlosesten Menüs.

"Warum müssen wir eigentlich immer in solche Restaurants gehen? Wenigstens zu meinem Geburtstag wünsche ich mir eine richtige Party, okay? Mit vielen Leuten, und allen meinen Freundinnen. Und mit dem Club natürlich" warf Kiíchigo achtlos hin. "Wir feiern ihn natürlich später, dann, wenn wir wieder zu Hause sind. Bis dahin müssen wir auch noch ein paar Fotos von O-shima machen. Vom Pool, von uns, von eurer Villa.... eine hübsche Villa übrigens. Wer kriegt die denn einmal, du oder Kitsuné?"

Hōtáru stützte gelangweilt den Arm auf und unterdrückte ein Gähnen. "Keine Ahnung, ob wir die Villa kriegen. Aber bis dahin vergeht sowieso noch viel Zeit. Ich habe keine Lust, früh zu heiraten. Jedenfalls nicht, bevor ich nicht das Leben gefunden habe."

"Das Leben finden? Was soll das sein? Du lebst doch schon."

"Bist du dir da so sicher? Was heißt Leben für dich? Dasselbe wie für mich?"

Kiíchigo rollte mit den Augen und stöhnte. "Von allen Langweilern mußte ich dich kriegen. Was für blöde Fragen! Leben- das sind Parties, Freunde, Geld, die Familie... alle Sachen eben, die Spaß machen. Mit Jungs ausgehen fällt ja jetzt flach. Aber ich freue mich auf die Zukunft. Wenn wir erst einmal geheiratet haben und die ersten Kinder eintrudeln, wirst du dich schon ändern. Du wirst einen gut bezahlten Job haben, und wir werden ein wundervolles Leben führen... in einer schönen großen Wohnung, und einem Landhaus, und wir werden viele Reisen unternehmen... nach Europa und Amerika, und wir werden Asien sehen... und die Südsee... hach, das Leben wird schön..."

Traumverloren schwelgte sie noch einige Minuten in ihren Gedanken. Hōtáru betrachtete sie besorgt und schwieg. Kiíchigo hatte sich eine schöne Traumwelt zusammengebastelt, in der auch er selbst vorkam- aber nicht wie er wirklich war, sondern als Modell des perfekten Ehemannes, der er niemals sein würde. Auf unbestimmte Art und Weise tat ihm Kiíchigo direkt ein bißchen leid; wie lange würde es dauern, bis sie die Realität akzeptieren und ihr wundervolles Leben gegen ein Wirkliches, das sie nur verbittern würde, eintauschen mußte?

Er beschloß, Kiíchigo wenigstens die Illusion eines guten Verlobten zu bieten, obwohl ihm das sehr schwer fallen würde. Sie beide waren so furchtbar verschieden... ständig redeten sie aneinander vorbei und ignorierten die Dinge, die ihnen aneinander nicht gefielen. Er würde sich um sie kümmern müssen, und darauf achten, das sie auf keinen hereinfiel. Leider war Kiíchigo  manchmal wie ein unselbständiges, naives kleines Mädchen. Und es gab massenweise Verehrer, die das nur zu gerne ausnützen würden.

"Das Essen ist schon da, Hōtáru. Worüber denkst du nach? Gehen wir noch etwas einkaufen, wenn wir fertig sind? Ich hätte so furchtbar gerne eine Perlenkette. Hier gibt es ja so schöne Sachen! Ich werde deiner Mutter danken, wenn ich sie sehe. Auf O-shima war ich noch nie vorher, weißt du? Oh, ich bin wirklich begeistert. Hier gibt es auch so viele Designerläden, heute habe ich mir schon wieder ein paar Kleider gekauft. Ja, ja, ich weiß, aber ich konnte nicht vorbeigehen..." Begeistert wie ein kleines Mädchen plapperte Kiíchigo munter vor sich hin, während sie das Essen elegant in den Mund schob.

Hōtáru ließ es stumm über sich ergehen; schon vor einiger Zeit hatte er es sich angewöhnt, geistig "abzuschalten" wenn sie so anfing. Das mußte zu einem leicht glasigen Blick geführt haben, denn Kiíchigo fragte zwischendurch, ob er müde sei. Was sie aber von weiteren Monologen, die sich über die ganze Mahlzeit hin zogen, nicht abhielt.

Nach dem Essen wanderten sie langsam die Straßen entlang. Es war zwar schon beinahe Mitternacht, dennoch hatten die meisten Läden noch geöffnet, wie immer in der Hochsaison. Kiíchigo zog ihn von einem Schaufenster zum nächsten und konnte sich vor Begeisterung kaum fassen. "Hōtáru, Liebling, kaufst du mir eine Kette, ja? Oh, bitte, bitte!" schmeichelte sie mit ihrem süßesten Augenaufschlag. Gelangweilt nickte er leicht und ließ sich von ihr in den Juwelierladen ziehen, in dem Kiíchigo eine glückliche halbe Stunde in einem Berg von Ketten, Armbändern und Ohrringen wühlte. Der Verkäufer stand milde lächelnd dabei und ließ ab und zu Kommentare wie "Oh, das würde ihnen entzückend stehen" "Ein glücklicher Mann, der sie einmal heiraten darf" und ähnliches fallen.

Vor Glück strahlend, mit glänzenden Augen und roten Wangen entschloß sie sich schließlich für eine zart pfirsichfarben schimmernde Perlenkette mit dazupassenden Armreifen und Ohrringen. Hōtáru bezahlte an der Kasse und ließ einen glücklichen Juwelier zurück.

Draußen schmiegte sie sich wie ein kleines Kätzchen an seinen Arm und lächelte zufrieden. "Oh, der Sommer ist meine Lieblingsjahreszeit. Ich kann meine Sommerkleider tragen, und die Sonne scheint, es ist so herrlich warm... und alle Leute sind glücklich und essen Eis oder gehen schwimmen... Schade, das der Seeausflug diesen Sommer ausgefallen ist. Aber dafür gehen wir nächstes Jahr für eine ganze Woche weg... ist das nicht toll? Und morgen werden wir den ganzen Tag nur am Pool faulenzen und so. Da werde ich mit deiner Mutter reden. Es war so lieb von ihr, mich einzuladen... das wird herrlich, wenn wir erst verheiratet sind..."

"Schön, daß es dir hier gefällt. Kitsuné langweilt sich ziemlich, fürchte ich, aber das ist kein Wunder- sein Computer steht Zuhause." "Dein Bruder ist ja jetzt auch schön langsam alt genug für eine Freundin. Ich habe ihn ja schon manchmal in der Nähe von Hiyokó gesehen. Die Kleine hat es ihm wohl angetan, haha! Aber ich glaube, sie mag Chūjitsu lieber!" Kiíchigo liebte Klatsch. Hōtáru starrte sie von der Seite her an. "Mein Bruder Kitsuné? Also ehrlich, Kiíchigo, ich weiß nicht- ich meine- das kann ich mir nicht vorstellen. Hiyokó und Chūjitsu kann allerdings gut sein. Die zwei sind sich ähnlich- verwöhnte Nervensägen."

"Oh, Hōtáru, sprich nicht immer so häßlich von ihnen. Ich glaube bald, du kannst keinen außer mir und Watarí leiden." Um ein Haar hätte Hōtáru laut aufgelacht. Wenn sie wüßte...

Inzwischen waren sie schon vor der Villa angekommen. Es war ein wunderschöner alter Bau mit einem riesigen Garten, durch den sich ein kleiner Fluß wand, über den sich eine kleine hölzerne Brücke spannte. Kleine Laternen und geschickt angelegte Blumenbeete durchbrachen die Baum- und Strauchbepflanzung. Im Herbst waren die bunten Bäume am schönsten, jetzt leuchteten die Blumen.

Mrs. Suigín tauchte hinter ein paar Bäumen auf und lächelte erfreut. "Wie schön, daß ihr euch so gut amüsiert! Was für ein schöner Sommer, nicht wahr? Ich möchte am liebsten gar nicht mehr hineingehen. Bald werden die Géta völlig durchgelaufen sein!"

Sie trug einen hübschen Kimonó, der ein munteres Sommermuster aus Zweigen und Blumen aufwies. Es war, als würde man wieder in eine längst vergangene Ära eintauchen- in die Zeit der Géisha und Samurái. Kiíchigo staunte für eine Sekunde still. In diesem Garten schien alles noch wie vor 100 Jahren zu sein. Oder vor 200. Hōtáru wurde ja auch ziemlich traditionell erzogen. Er lernte Kendō und im Haus hatte sie ihn noch nie in westlicher Kleidung gesehen. Er wirkte manchmal wie der Schüler eines nicht existenten Samurái.

Seltsam eigentlich, daß so erfolgreiche Geschäftsleute wie die Suigíns noch so nach alten Traditionen lebten.

Ihre Villa in Hachinohe ähnelte auch einem alten Herrenhaus, und auch dort trug keiner von ihnen westliche Sachen. Es war schon komisch, seinen Vater einerseits in Hakamá und Géta und andererseits im grauen Maßanzug zu sehen. Hōtáru würde sicher einmal so werden wie er.

"Bleibt doch auch noch ein bißchen hier draußen. Oder seid ihr von eurem heutigen Ausflug zu erschöpft? Na, wie auch immer, Papa wartet auf mich, Hōtáru. Wir wollen noch einen kleinen Abendspaziergang machen, und uns die Glühwürmchen am Fluß ansehen."

"Dann noch viel Spaß, Mama. Die Ferien scheinen euch gut zu tun."

"Dir auch, Hōtáru. Du siehst besser aus als vor zwei Wochen, und das macht mich glücklich."

Sie verabschiedete sich lächelnd und verschwand wieder hinter den Bäumen. Hōtáru räusperte sich verlegen. "Meine Mutter mag dich sehr. Das merkt man."

"Oh, ich habe sie auch sehr gerne. Und sie ist so hübsch! Diese Kimonós haben genau die richtigen Farben für sie. Deine Mutter ist der totale Sommer- Typ."

"Sie gibt auch genug Geld dafür aus, passende Sachen zu finden. Darin ähnelt ihr euch beide."

"Also ehrlich, Hōtáru!" Kiíchigo lachte kurz. "Diese kleinen Anspielungen... es ist doch nichts falsch daran, hübsch aussehen zu wollen, oder?"

Hōtáru schwieg und drehte den Kopf zur Seite. Kiíchigo beschloß wie üblich, alles zu ignorieren, was ihr nicht in den Kram paßte, und bückte sich, um eine Blume genauer in Augenschein zu nehmen. Mit Hōtáru hatte sie schon so ihre Sorgen. Mit seinen halb ausgesprochenen Beleidigungen zu Beispiel, bei denen sie sich nie sicher war, gegen wen sie sich gerade richteten.

"Ich glaube, ich bin zu müde, um mir hier die Beine in den Bauch zu stehen, Kiíchigo. Am besten gehe ich gleich ins Bett, okay? Gute Nacht, Kií-chan." Ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen, verschwand er im Haus und zog die Tür hinter sich zu.

Kiíchigo seufzte leise und machte sich ebenfalls langsam auf den Weg nach drinnen. Hōtáru wußte sie überhaupt nicht zu schätzen. Sie, die an jedem Finger ihrer Hand 10 Jungs hatte, sie mußte sich mit jemandem verloben, der das Zusammensein mit ihr nicht einmal zu würdigen wußte. Er hatte nie den Versuch gemacht, sie von sich aus zu küssen. Immer mußte sie die Initiative ergreifen, damit es nicht so aussah, als wäre ihre Verlobung nur eine hübsch inszenierte Show.

Hōtáru ging natürlich nicht gleich schlafen. Wie immer verbrachte er noch einige Zeit damit, den funkelnden Sternenhimmel zu betrachten, und seine Gedanken schweifen zu lassen. An seinem Knöchel befand sich eine lange, gezackte Narbe. An guten Tagen schaffte er es beinahe, zu vergessen, warum er diese Narbe überhaupt trug.

Am nächsten Morgen schien die Sonne direkt in Kiíchigos Fenster und weckte sie früh. Sie reckte und streckte sich behaglich in ihrem Futón und gähnte. "Ich muß vergessen haben, die Jalousie herunterzulassen... aber egal, es ist so ein schöner Morgen..." Gut gelaunt sprang sie aus dem Bett und eilte ins Bad. Als sie zum Frühstück nach unten wanderte, trug sie einen fröhlichen Yūkata, der ihr ausgesprochen gut stand. Helle, weiche Farben dominierten, ein typischer Sommer- Yūkata.

Im Frühstückszimmer traf sie auf Mrs. Suigín, die Tee aus einer kleinen Schale trank.

"Einen wunderschönen guten Morgen, Mrs. Suigín." "Oh, dir auch einen wundervollen Morgen, Kiíchigo. Ist es nicht schön draußen? Wie die Sonne alles zum Glitzern und Funkeln bringt! Und die Luft ist so klar und frisch! Warum bist du so früh aufgestanden? Willst du noch spazieren gehen?" Mrs. Suigín strahlte. Diese Ferien hatte sie schon dringend gebraucht... und auch Hōtáru schien es viel besser zu gehen. "Du und Hōtáru, ihr versteht euch ziemlich gut, nicht wahr? Ein wirklich entzückendes Pärchen."

Kiíchigo errötete zart und lächelte verlegen. "Oh, vielen Dank. Ich hoffe, ich reihe mich in den Haushalt gut ein... leider ist das Leben hier sehr verschieden von Zuhause."

"Ach, Kiíchigo, keine Sorge. Daran gewöhnst du dich bald. Ich muß ja ehrlich sagen, daß es mir überhaupt nicht schwergefallen ist, mich der Lebensweise meines Mannes anzupassen- wir waren uns schon immer sehr ähnlich, was solche Dinge angeht. Meine Großmutter war eine sehr berühmte Géisha, und meine Familie hält die Traditionen ähnlich hoch wie die meines Mannes. Wir versuchen ja beide, Hōtáru noch einige Werte mitzugeben- er soll kein ehrloser Bengel werden, der keine Ratschläge annimmt und glaubt, er wüßte alles. Die Samurái hatten sehr gute Vorstellungen, wie man ein Leben führen sollte. Ich möchte, daß mein Sohn einmal zurückblickt und sich sagen kann "Ich haben ein gutes Leben geführt, und brauche mich für die wenigsten Entscheidungen zu schämen". Natürlich, man macht immer Fehler. Aber die Gründe dafür sind das Entscheidende." Sie lächelte und trank noch etwas Tee. "Wir könnten jetzt etwas essen, nicht wahr? Was möchtest du, Kiichgo? Deine Vorlieben kenne ich noch nicht so genau- wenn wir hier sind, stehe ich immer sehr früh auf, und ihr jungen Leute wollt natürlich schlafen..."

Kiíchigo lächelte wieder verlegen und wünschte sich dasselbe wie Mrs. Suigín, die das traditionelle Frühstück allen anderen vorzog.

"Was werden Sie heute unternehmen? Es wird sicher ein wundervoller Tag."

"Oh, wir bleiben heute wohl hier. Der Garten ist so wundervoll... und der Pool ist furchtbar praktisch. Ich kann überfüllte Strände nicht leiden, ich würde am liebsten eine Pflanze in diesem Garten werden. Dann könnte ich ein halbes Jahr schlafen und würde dann in aller Frische wiedergeboren werden." Kiíchigo starrte die ältere Frau erstaunt an. Das sich jemand wünschte, eine Blume zu sein, hatte sie noch nie gehört... aber im Grunde war die Idee gar nicht so übel... "Welche Blume würden sie gerne sein? Eine Rose? Oder-"

"Ich denke, ich wäre gerne ein Kirschbaum. Ich liebe nichts mehr, als ihre Blüten... Die Bäume tragen so viel Schönheit in sich, selbst wenn sie im Winter ruhen. Bist du schon einmal im Herbst, kurz bevor der Schnee kommt, in einen Park gegangen und hast dir die Bäume betrachtet, wie sie die Nebelschleier direkt um sich zu ziehen scheinen? Oh, der Sommer ist wundervoll, aber auch der Herbst hat seine Reize. Jede Jahreszeit weckt in mir die unterschiedlichsten Emotionen. Ach, Kiíchigo" meinte sie milde lächelnd "ich werde langsam alt, du dagegen mußt dein Leben genießen. Und ich hoffe, du wirst glücklich mit meinem Sohn."

Kiíchigo schwieg und versuchte sich die blattlosen Bäume vorzustellen. In diesem toten Geäst hatte sie bisher noch nie etwas Schönes sehen können. Bäume ohne Blätter waren für sie immer totes Holz gewesen, aber kein Grund, um darüber Gedichte zu schreiben.

"Du bist so still, Kiíchigo. Was werdet ihr tun? Wieder in die Stadt? Oder bleibt ihr hier? Ich hoffe, ich bin nicht zu neugierig. Aber ich fürchte, ich werde wirklich langsam eine alte Schachtel..." Mrs. Suigín lächelte und stellte ihre Schale auf den Tisch zurück.

"Aber nein, ich bitte Sie. Sie sind doch nicht neugierig, und alt schon gar nicht. Wir bleiben heute auch hier, der Pool ist wirklich schön, und ein ruhiger Tag ist nicht zu verachten. Ich hoffe allerdings, wir werden sie nicht stören, Mrs. Suigín."

"Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wir sind beide froh, wenn es euch bei uns nicht zu langweilig wird. Ich fürchte ja, daß Hōtáru ein bißchen zu ruhig ist für sein Alter. Er sollte viel mehr unter Leuten sein... und mehr Spaß an seinem Leben haben. Er hat es ja wirklich nicht schwer. Aber in gewissem Sinne gleicht er seinem Großvater. Der Gute hat ihm sein teures Kataná hinterlassen, an dem Schwert hing sein ganzer Stolz. Und Hōtáru... er nimmt das Leben zu schwer. Wenn man jung ist, soll man vergessen können. Es bleibt einem das Alter, um sich zu grämen... und das kommt ohnehin früh genug."

Mrs. Suigín wirkte ein bißchen traurig. Kiíchigo bemühte sich, sie auf andere Gedanken zu bringen. "Sie sind doch noch wirklich nicht alt, also ehrlich. Und Hōtáru wird schon noch lernen, das Leben zu genießen, dafür sorge ich schon. Wenn wir erst einmal verheiratet sind, sieht alles anders aus."

"Du bist ein gutes Mädchen, Kiíchigo. Ich bin sehr froh, daß mein Sohn gerade dich bekommen hat. Meine Gebete wurden also offensichtlich erhört."

"So traurig am frühen Morgen? Der Tag ist zu schön, um sich Sorgen zu machen." Mr. Suigín war hinter den beiden aufgetaucht und lachte. "Guten Morgen, liebe Kiíchigo. Guten Morgen, werte Ehefrau. Und, was gedenkt ihr beide an so einem schönen Tag zu tun? Falls mein Sohn den Morgen überhaupt noch mitbekommt. Eine Schande, daß er nicht früher aus den Federn kommt."

"Du irrst dich, Papa. Die Sonne hat auch mich geweckt." Hōtáru lächelte schwach. In seiner Hakamá sah er zum Anbeißen aus, was Kiíchigo zum ersten Mal richtig bemerkte. In dieser Umgebung kam sein Typ richtig zur Geltung; Vater und Sohn wirkten wie Lehrer und Schüler. Beide sahen sich nicht sonderlich ähnlich; die einzige richtige Gemeinsamkeit waren die weichen blonden Haare, die der eine kurz und der andere lang trug. Kiíchigo bedauerte es richtig, schon gegessen zu haben. Sie würde gar zu gerne mit der ganzen Familie am Tisch sitzen, obwohl- Kitsuné war auch noch nicht aufgetaucht. "Wollt ihr noch Tee mit uns trinken? Ihr habt zwar schon gefrühstückt, aber es wäre nett, sich mit euch zu unterhalten. Was meint ihr?" Mr. Suigín lächelte seiner Frau und der Verlobten seines Sohnes freundlich zu. Es war ein herrlicher Tag, er fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten richtig entspannt- er war glücklich.

Hōtáru setzte sich stumm und beteiligte sich nur spärlich an der allgemeinen Unterhaltung. Seine Eltern liebten Kiíchigo also schon. Ihre Eltern schienen sich mit ihm ebenso abgefunden zu haben. Ja, es war eben wirklich so. Das Leben war leichter, wenn man nach der Pfeife der anderen tanzte. Ob es schöner war, war die andere Frage.

Irgendwann tauchte auch Kitsuné verschlafen auf. Er sah in traditioneller Kleidung unglaublich niedlich und ein bißchen unbeholfen aus. Seine orangefarbenen Haare waren leicht verwuschelt, was Mrs. Suigín zu einem resignierten Kopfschütteln veranlaßte. "Hōtáru wird einmal die Firma übernehmen. Ich bin mir sicher, daß er besser dazu geeignet ist als Kitsuné, was, Schätzchen? Er ist ja noch so klein. Vielleicht wird er einmal eine eigene Firma gründen. Eine, die seinen Interessen mehr zusagt."

Kitsuné und Hōtáru schwiegen beide. Hōtáru war die Firma herzlich egal, und Kitsuné beschäftigte sich ohnehin mit seinen eigenen Gedanken. Die versteckte Gemeinheit in diesem Satz war ihm gar nicht aufgefallen.

Kiíchigo war plötzlich sehr stolz auf sich. Immerhin gehörte ihr jetzt ein Verlobter, der ziemlich viel Geld besaß und einmal eine Firma leiten würde. Ihre Zukunft erstreckte sich wie ein schnurgerader Weg ins Glück, ohne nennenswerter Probleme in Sicht. Ja, das Leben würde wundervoll werden. Das war ihr in diesen Ferien erst so richtig bewußt geworden.

Später lagerten alle um den riesigen Pool, der wie ein steinernes Freibad aussah, das man vor hunderten von Jahren angelegt hatte. Dieser Pool war ziemlich tief- an einigen Stellen sogar bis zu drei Metern. Mr. Suigín las die Zeitung, Kiíchigo und Mrs. Suigín probierten das Wasser aus, Kitsuné spielte mit seinem Handheld und Hōtáru war bereits tief eingeschlafen.

Nachdem sie einige Runden geschwommen waren, kehrten Kiíchigo und Mrs. Suigín wieder an den Beckenrand zurück und legten sich in ihre Liegestühle. Die Luft war so heiß, daß der Garten zu flimmern schien, und jedem anderen Lebewesen schien es ebenso zu gehen, denn es herrschte angenehme Stille, die nur von den umschlagenden Seiten unterbrochen wurde.

"Ein schöner Tag" ließ sich Mrs. Suigín ruhig vernehmen. "Ja, unglaublich. Aber die Ferien sind ja schon so bald vorbei. Ich werde diesen Sommer sehr vermissen. Darf ich Ihr Ferienhaus fotografieren? Ich hätte so gerne eine Erinnerung daran." Kiíchigo lächelte sanft und zufrieden. In ihrem Badeanzug sah sie wieder einmal umwerfend hübsch aus.

In Mr. Suigín kam Leben. "Ich werde euch mal knipsen, ja? Und das Haus natürlich auch, wenn dir soviel daran liegt, Kiíchigo. Ich bin froh, daß es dir hier gefällt. Einen Augenblick- "

Und weg war er. Seine Frau lachte. "Dieser Sommer tut uns allen gut. Kitsuné, am besten weckst du deinen Bruder auf, damit er sich fotografieren läßt. Er und Kiíchigo müssen natürlich gemeinsam vor dem Pool stehen. Das wird ein hübsches Motiv."

Hōtáru war nicht gerade begeistert von der Idee, auf einem Foto posieren zu müssen. Aber da er die gute Laune der anderen nicht verderben wollte, mußte er wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Dementsprechend begeistert war seine Miene auf der Fotografie. Kiíchigo registrierte es mit einem stillen Seufzen. Na gut, dann würden ihre Freundinnen eben nur Bilder von der restlichen Familie und dem Haus sehen- auch egal. Das war mal wieder typisch ihr komischer Verlobter. Aber er war wenigstens reich... und er hatte ihr ohne zu Murren eine Perlenkette gekauft. Das mußte man natürlich auch anerkennen.

Jedenfalls freute sie sich schon auf ihren Geburtstag. Sie war schon gespannt auf alle Geschenke, die sie bekommen würde- was sich wohl Hōtáru einfallen lassen würde? Und ob sie von Káshira etwas erwarten konnte? Die Party würde toll werden. Gleich nach der Ankunft würde sie steigen- da waren auch alle ihre Freundinnen wieder da, und die Leute vom Marineclub. Káshira zum Beispiel. Und Sachou. Kiíchigo kicherte leise in sich hinein. Es tat gut, zu wissen, das es noch genügend Jungs gab, die genau wußten, daß sie mehr wert war als alle anderen zusammen. Schließlich kümmerte sie sich nicht umsonst um ihr Aussehen und ihr Image. Image war eben alles. Hoffentlich kapierte das Hōtáru noch früh genug von selbst, sonst würde sie da eben etwas nachhelfen. Heiraten würden sie auf jeden Fall sofort nach der Uni. Oder noch früher. Und dann konnte sie ja auch bald mit der Kinderplanung anfangen.

Das war wichtig; Kinder gehörten nun mal zu der guten Ehe, die sie einmal führen würde.