9. Kapitel

Stela (sthlh)

Der Sommer lag bereits wieder in weiter Ferne; der Herbst hatte die Herrschaft übernommen. Langsam wurde es empfindlich kühl, und Kiíchigo konnte wieder mit ihren pelzgesäumten Mänteln trumpfen.

Hōtáru hatte wieder einmal Schwierigkeiten mit seinem Handballclub, nicht zum ersten, dafür aber vermutlich zum letzten Mal.

"Suigín, ich muß mit dir reden. Wir alle müssen mit dir reden. Den Grund kannst du dir sicher denken." Kíngyo und der Rest der Mannschaft traten mit ernsten Mienen auf ihn zu.

Er blieb abwartend stehen und drehte sich zu ihnen um. Sie befanden sich auf einem verlassenen Weg neben der Turnhalle, in der die Mannschaft gerade trainiert hatte. Oder jedenfalls die meisten, denn er war seit seiner zweiten Knöchelverletzung nicht mehr besonders gut.

"Ich habe dich in diese Mannschaft aufgenommen, weil du mir versprochen hast, mit allen Mitteln zu kämpfen. Es war nicht abgemacht, daß du mitten drin zu einem Krüppel wirst" warf der Kapitän kühl hin.

"Sorry, Kíngyo, aber das hatte ich auch nicht von Anfang an beabsichtigt" erwiderte Hōtáru schneidend. Das Wort "Krüppel" gefiel ihm nicht sonderlich...

"Du hast mir versprochen, der Mannschaft zu helfen. Jetzt bist du nur noch ein lästiger Klotz am Bein, und die Frage ist, wie willst du das ändern? Bei uns können wir Schwächlinge wie dich nicht gebrauchen, okay? Wir spielen auf Sieg, Junge. Und das kannst du ja nicht mehr."

"Was schlägst du also vor? Soll ich austreten, ja?" Hōtáru grinste verächtlich. "Du spielst auf Sieg, ja, Kíngyo? Aber mit dieser Mannschaft wirst du es leider auch nicht schaffen. Es hilft auch nichts, mich rauszuwerfen. Wenn der Kapitän nichts bringt, kann das ganze Team nichts."

"Wiederhol das mal, ja?" Kíngyo war zornrot geworden und baute sich drohend vor ihm auf. Die restliche Mannschaft flüsterte aufgeregt untereinander. "Hast du das gehört?... Frechheit... Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein?... Wirf ihn raus, Kapitän... Verprügel ihn ordentlich, damit er weiß, was wir können..."

"Du treibst es diesmal zu weit, Suigín. Das lasse ich mir von jemanden wie dir nicht sagen." Kíngyo wirkte fast gelassen, bis er die Hand beinahe nachlässig zur Faust ballte und Hōtáru damit eine Ohrfeige gab. Unter den anderen herrschte plötzlich atemlose Stille; jeder war gespannt darauf, wie es weitergehen würde.

Hōtáru war so wütend geworden, daß er die Ohrfeige gar nicht richtig fühlte. Das war ein Fehler- er verpaßte seinem ehemaligen Kapitän ebenfalls einen Schlag in das Gesicht. Darauf hatte Kíngyo nur gewartet. Mit einem wütenden Schrei stürzte er sich auf Hōtáru und richtete ihn so zu, daß er sich am Ende nur noch mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Sein linkes Auge zeigte bereits eine verdächtige Blaufärbung, und aus seinem Mundwinkel rieselte Blut. Kíngyo hielt ihn mit beiden Fäusten am Kragen seiner Schuluniform in die Höhe und drückte ihn gegen die Wand. "Was sagst du jetzt, Suigín, na? Bist du immer noch so großmäulig? Los, sprich weiter! Solange du noch reden kannst, jedenfalls. Bald wird dein Gesicht nicht mehr so hübsch wie früher sein!"

Hōtáru schwieg und schnappte nach Luft. Das hier hatte er seiner eigenen Dummheit zuzuschreiben- er hätte Kíngyo eben nicht provozieren dürfen. Hoffentlich hatte der seinen Ärger jetzt herausgelassen- viel mehr Schläge ertrug er heute nicht mehr...

"Kíngyo! Bist du wahnsinnig geworden? Was tust du hier eigentlich? Hast du dir mal überlegt, was du tun willst, wenn euch hier ein Lehrer erwischt? Hör sofort auf!"

Eine bekannte Stimme. Hōtáru reckte den Kopf ein wenig zur Seite- sehr weit kam er ja nicht- um den Sprecher zu betrachten. Hachí. So ein Glück. Buddha mußte es heute gut mit ihm meinen- Hachí würde ihm sicher helfen... sein Kopf wurde immer schwerer, und seine Augen fielen zu.

"Verdammt, du bist sein Senpai. Und sein Teamkapitän. Was soll das eigentlich werden? Was-

was soll..." "Sei endlich still, Hach. Du gehst mir auf die Nerven." Kíngyo hielt Hōtáru immer noch fest am Kragen gepackt und funkelte seinen Klassenkameraden wütend an. "Bilde dir bloß nichts ein, klar? Es geht dich überhaupt nichts an, was ich hier tue und ob ich diesem frechen Kerl gebe, was er verdient! Du solltest dich nicht in Sachen einmischen, die dich nichts angehen!" "Es genügt jetzt trotzdem, Kíngyo, okay? Wenn ein Lehrer hier vorbeikommt, dann geht es euch verdammt schlecht. Also laß ihn jetzt endlich los! Du hast ihm deine Überlegenheit wirklich zur Genüge gezeigt, es reicht jetzt ehrlich! Das du ein schlechtes Beispiel gibst, versteht sich von selbst." Hachí bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu reden. Kíngyo besaß ein sehr leicht reizbares Temperament- und er loderte noch immer vor Zorn.

Trotzdem besaß er seinen Stolz und wußte, wann man aufhören mußte.

Seine kühlen Augen blitzten plötzlich vor Bosheit, und er schenkte Hachí ein kaltes Lächeln. "Deinen Krüppel kannst du gerne wiederhaben. Da, ich schenke ihn dir sogar!" Bevor Hachí begriff, was eigentlich geschah, hatte er Hōtáru bereits mit aller Kraft in den vernarbten Knöchel getreten und ließ ihn los. Halb bewußtlos vor Schmerz glitt dieser an der Wand entlang zu Boden und blieb dort benommen sitzen.

"Du bist ein echtes Schwein, Kíngyo. Du hast wohl vergessen, daß du den Sieg gegen die meisten Schulen nur ihm zu verdanken hast. Das jetzt war fies und völlig unnötig." Hachís sonst so ruhige Stimme zitterte vor Zorn. Ein Blick in seine wütenden Augen veranlaßte Kíngyo und seine Mannschaft dazu, sich schweigend auf den Weg in das Schulgebäude zu machen.

Hachí drehte sich zu Hōtáru und nahm seinen Kopf vorsichtig zwischen beide Hände. Hōtáru starrte ihn mit leerem Blick an und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.

"Komm schon, Hōtáru. Das wird schon wieder. Aber wir müssen hier jetzt weg. Wenn uns ein Lehrer findet, dann geht's uns schlecht, okay? Komm, bitte, du mußt aufstehen!"

Er redete zu ihm wie zu einem kranken Pferd und zog und zerrte, bis er ihn auf den Beinen hatte und in die Schule zu einem Waschraum führen konnte. Sein sanftes Gesicht war sorgenvoll. Das dürfte Hōtáru den Rest gegeben haben. Er murmelte nur noch tonlos vor sich hin und stöhnte zwischendurch. Seine Augen rollten ziellos hin und her.

In einem Waschraum angekommen, lud Hachí seinen ehemals besten Spieler ab und lehnte ihn gegen eine der kühlen, gekachelten Wände. Dann sank er selbst auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Händen. "Das hätte so nicht sein müssen. Es... es ist nicht fair..."

"Tut mir leid, Hachí. Das ist alles nur... meine Schuld..." Hōtáru hatte den Kopf zu ihm gedreht und atmete flach vor Schmerz. Diesmal war mehr zerstört worden als das letzte Mal- vielleicht nicht einmal unbedingt in seinem Knöchel. Aber er würde in Zukunft diese Art von Sport nicht mehr ausüben können... das wußte er. Es war endgültig vorbei. Während er die Hand hob, um Hachí zu trösten, begrub er seinen Traum für immer.

"Ach... sei still. Du Idiot- was machst du dir Sorgen um Andere? Das hier ist dein Leben, verdammt." Plötzlich hob Hachí ruckartig seinen Kopf und zog ihn fest an sich. "Ich hätte dich nicht gehen lassen dürfen- ich hätte dich zurückhalten müssen- ich hätte dir helfen müssen. Das hier geht zum Großteil auf mein Konto. Ich bin ein schöner Kapitän- lasse meinen besten Spieler gehen. Du hättest eine so große Chance gehabt- verdammt..." Seine Stimme erstickte. Hōtáru schmiegte seinen Kopf hilflos an die Schulter seines Senpais und wußte nicht, was er sagen sollte. Natürlich war es nicht Hachís Schuld, sondern nur seiner eigenen Dummheit zuzuschreiben.

Nicht genug, daß er selbst nicht glücklich war- nein, er mußte auch denen, die er gern hatte, Kummer bereiten- "Hachí, bitte- sei nicht traurig wegen mir- das bin ich wirklich nicht wert..."

"Wenn du so etwas noch einmal sagst, wirst du mich kennenlernen, klar? So etwas Dummes will ich von dir nie wieder hören." Hachí starrte ihn zwar wütend an, aber die Sorge dominierte in seinen Augen. "Sei froh, daß ich immer etwas für den Notfall dabeihabe- wenn man dich so sieht, bekommst du Ärger. Leider habe ich nicht annähernd genug dabei... du gehst heute noch zu einem Arzt. Und die Schmerzmittel werden nicht stark genug sein- du kannst gleich nach Hause gehen, wenn dir das lieber ist..." Er wirkte bedrückt.

"Nein, nein, schon gut. Ich will nicht mehr fehlen... Hauptsache, die Lehrer kriegen nicht sofort alles mit- sonst kann ich sicher irgendeine blöde Ausrede erfinden- Kíngyo wird nichts sagen- da können sie nichts machen..." Hōtáru stöhnte. Hachí wickelte gerade ein nasses Taschentuch um seinen Knöchel; ein scharfer Schmerz zuckte durch seinen Körper. "Bleib ganz ruhig und mach die Augen am besten zu. Da-" er schob ihm eine Tablette zwischen die Zähne"- das hilft hoffentlich..."

Hōtáru tat, wie ihm geheißen wurde und versank in einen unruhigen Halbschlaf. Hachí versorgte inzwischen seine Verletzungen und hockte sich schließlich leicht aufseufzend auf den Boden.

"Du kannst jetzt herauskommen. Ich weiß, daß du hier bist" ließ er plötzlich mit ruhiger Stimme hören. Einige Sekunden tat sich nichts, dann öffnete sich eine der Türen und Káshira trat mit verlegener Miene heraus. "Ich... ich wollte nicht..."

"Schon gut. Du kannst mir helfen. Suigín ist in deiner Klasse und mit dir im Marineclub, oder?"

Hachí wirkte weder verlegen noch ärgerlich. Seine Stimme war ruhig und sanft wie immer.

"Was ist passiert? Er sieht nicht gut aus-" Káshira lachte verlegen "Wer hat sich mit ihm geprügelt? Senpai, ich-" "Bitte hilf mir hier. Es ist im Moment nicht so wichtig, wer sich mit wem geprügelt hat. Wir müssen Suigín halbwegs menschlich herrichten, sonst wird er ziemliche Probleme bekommen. Okay?"

Dem zwingenden Blick seines Senpai konnte sich Káshira nicht widersetzen. Schweigend faßte er Hōtáru unter den Armen und zerrte ihn in eine sitzende Position, indem er seinen Oberkörper gegen den eigenen lehnte.

"Senpai, Hōtáru war in deinem Volleyballteam der beste Spieler? Ist das wahr? Und jetzt? Hat ihn Kíngyo verprügelt? Warum?"

Hachí hielt einen Moment inne und seufzte. "Hōtáru hat jetzt keine Chancen mehr, ein besserer Sportler zu werden- da bin ich mir sicher. Leider ist das so. Du weißt sicher aus früheren Spielen, daß er wirklich gut war- das habe ich dir schon im Winter erzählt- daran kannst du dich vielleicht noch erinnern. Aber jetzt- ist alles vorbei und alles hat sich verändert. Und ich fühle mich mitschuldig. Ich hätte ihm ein besserer Ratgeber sein müssen- dann wäre das alles hier nicht geschehen. Das Problem mit ihm ist, daß er so verschlossen ist- er erzählt niemandem wirklich von sich, ist dir das schon aufgefallen? Er muß Sorgen haben, die ich nicht kenne- und das ist vielleicht die einzige Entschuldigung, warum mein Rat so schlecht war."

Káshira wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Daß Hōtáru Probleme hatte, war ihm ja auch schon aufgefallen, und er hatte ja auch schon versucht, mit ihm darüber zu reden. Aber bei solchen Sachen stellte er sich eben immer nur ungeschickt an, und Hōtáru blockierte genauso. Es mußte tiefere Gründe für sein Verhalten geben. Aber wie Hachí schon gesagt hatte- er war so verschlossen.

"Wie...hmm, wie macht er sich im Marineclub so? Hat er viele Freunde, ja?"

Hachí sah ihn nicht an, und seine Ohren hatten einen rosaroten Farbton angenommen. Káshira stockte für einen Moment verblüfft. "Hmm, also... wie soll ich sagen...." "Also auch dort nicht." Es war eine ruhige Feststellung, die für Káshira schlimmer war als eine Ohrfeige, überhaupt, wenn man sich Hōtáru auf dem Boden betrachten mußte. "Senpai, es ist und war niemals deine Schuld, ja? Verdammt, Suigín kann über sein Leben selbst bestimmen, und du bist nicht sein Vater!

Und er könnte doch ruhig ein einziges Mal von selbst etwas sagen, wenn er Hilfe braucht, oder? Immer macht er alles so spannend, und er will doch gar keine Freunde, er ist immer so eingebildet und unfreundlich- und..." Weiter kam Káshira nicht. Seine Stimme wurde langsam leiser, während er seinem Senpai nicht in die Augen schauen konnte. Es gab da ein paar Szenen vor seinem inneren Auge, auf die er gar nicht stolz war...

Hachí sah ihm ernst in die Augen, während er nachzudenken schien.

"Im Winter, weißt du noch..." begann er langsam, während er seine Erinnerungen ordnete "da hast du mich nach Drogen gefragt- daran erinnere ich mich noch genau- und hattest du da jemanden im Sinn- ihn zum Beispiel? Und haben sich deine Befürchtungen oder besser gesagt, dein Verdacht- bestätigt?"

Káshira senkte den Kopf. "Nein, das... das nicht. Obwohl er sich oft so... manchmal hat er sich so seltsam benommen- ich wollte nur sicher gehen, Senpai, daß er... es tut mir leid..." Verlegen brach er ab und schwieg. "Also nicht, das ist gut." Hachí lächelte leicht, beugte sich plötzlich nach vorne und nahm Hōtáru wieder in den Arm. "Es macht alles leichter... er wird schon jemanden finden, mit dem er sprechen kann... und noch was, ja? Bitte, du tust uns allen einen großen Gefallen, wenn du niemanden von dem hier erzählst, okay? Es schadet Suigín, es schadet dir, und es tut auch mir nicht gut. Kíngyo wird wütend genug auf mich sein, und ich möchte meine letzten Jahre hier in Ruhe und Frieden verbringen. Kíngyo ist ein Hitzkopf, mit etwas Glück hat er sich schon wieder beruhigt und alles ist in Ordnung. Aber bitte... du bist ein aufrichtiger Junge, und ich weiß, daß du das Richtige tun wirst. Okay?" Er lächelte und drückte Hōtáru beschützend an sich. "Er war mein bester Spieler, und dieser extreme Abstieg ist sicher ein schwerer Schlag- ich möchte dich bitten, ihn nicht damit zu ärgern."

"Schon gut, Senpai. Ich sage keinem was davon, keine Sorge." In Káshira stieg ein seltsames Gefühl hoch, als er Hōtáru und seinen Senpai sah... er hätte nicht sagen können, was er fühlte, aber es war... Hōtáru tat ihm leid, aber... Plötzlich konnte er vor seinem inneren Auge einen Hōtáru sehen, der um die 200 Jahre früher lebte- einen verletzten Samurái, der sterbend am Boden lag....diese Vision hatte erstaunlich starken Eindruck auf ihn....

"Ich muß jetzt gehen. Wir haben schon ziemlich viel versäumt, und es fällt vielleicht auf, wenn gleich zwei aus der Klasse zu spät kommen- vielleicht solltest du ihn zum Arzt bringen. Der Knöchel sieht echt schlimm aus, also, ich weiß nicht..." Abrupt richtete sich Káshira auf und bewegte sich in Richtung Tür. Hachí blieb am Boden sitzen, Hōtáru im Arm. Ein Wunder, daß noch niemand in diesen Waschraum gekommen war. Ein Glück- Nachdem sich die Tür hinter Káshira geschlossen hatte, starrte Hachí eine Weile blicklos vor sich hin, dann schien er sich endgültig zu etwas durchgerungen zu haben, hob den Kopf und küßte Hōtáru vorsichtig auf die Lippen. Ja, er hatte den Jungen vom ersten Moment an geliebt, was nicht zuletzt an seinem überragenden Talent auf dem Volleyballfeld lag. Aber er würde es ihm niemals sagen können- es würde die Illusion zerstören.

Hōtáru regte sich stöhnend und hatte nichts bemerkt... Hachí lockerte seine Umarmung langsam und half ihm auf die Beine. "Komm, wir gehen jetzt doch besser zum Arzt... der Knöchel sieht schlimm aus, da muß ein Profi ran- es ist ratsamer, wenn wir es nicht noch schlimmer werden lassen..."

Sein Herz pochte laut und schmerzhaft gegen seine Rippen. Ein Glück, daß die Tablette Hōtáru so betäubt hatte- nicht auszudenken, was er getan hätte, wenn er das mitbekommen hätte- aber noch während er es dachte, wurde er von einem warmen Glücksgefühl durchströmt. Nein, sagen würde er es ihm niemals. Aber er selbst würde es wissen- und tief in sein Herz einschließen. So tief, daß es niemand sonst erreichen konnte...

Hōtáru ahnte nichts von den Gefühlen, die ihm sein Senpai entgegenbrachte. Er war von dem Schmerzmittel immer noch benommen, und sein Knöchel tat wieder weh- am liebsten hätte er wie ein kleines Kind geweint.

Aber er hatte sich geschworen, nicht mehr wegen solcher Kleinigkeiten zu weinen. Er mußte wieder an seinen Großvater denken- und an das, was ihm dieser beigebracht hatte.

Der Arzt schüttelte nur noch den Kopf, wenn er ihn sah. "Das ist jetzt wohl die beliebteste Schwachstelle, die man bei dir finden kann, was? Nein, es tut mir leid. Aber es ist ratsam, wenn du einen Sport anfängst, der deinen Knöchel schont- und wenn du meinen Rat annehmen willst, dann solltest du einem Schwimmclub beitreten. Springen und Laufen fällt in Zukunft für dich flach, so leid es mir tut. Aber dieser neuerliche Schlag- oder die Treppenkante, wie du so schön sagst- " er betrachtete ihn über die Ränder seiner Brille. "Es gibt bessere Ausreden."

Hōtáru senkte stumm den Kopf und konnte seinem langjährigen Arzt nicht mehr in die Augen sehen. Doktor Hamabé behandelte ihn nun schon, seit er ein kleiner Junge war, und er hatte ihn eigentlich immer recht gerne gehabt. Aber jetzt... was sollte er ihm schon sagen?

"Also, Hōtáru, ich denke, daß du eine ziemlich üble Schlägerei hinter dir hast; das kann man an deinem Gesicht deutlich erkennen. Und bitte" er lächelte "halte mich nicht für so dumm, daß ich deine Geschichte glaube. Aber gut, du bist noch jung, und Jungs prügeln sich eben manchmal, da denke ich, daß ich es für heute akzeptieren werde. Nur- deine gesamten sportlichen Vorlieben mußt du jetzt neu überdenken. Daß du deinen Knöchel nicht mehr außergewöhnlich belasten darfst, ist klar, und das heißt, daß du über Schwimmen wirklich nachdenken solltest. Sport wird ja auf der Schule groß geschrieben, und deshalb... Aber das alles... war es dir eine Schlägerei wert?"

Dr. Hamabé versorgte während seiner Rede den Knöchel geschickt und brachte Hōtáru riesige Erleichterung. Wenigstens schmerzte es nicht mehr so stark. Und der Verband war dünn genug, um in seinen Schuh zu passen.

Draußen wartete Hachí und musterte ihn besorgt. "Wie geht es jetzt? Kannst du auftreten? Tut es noch sehr weh? Was hat der Arzt gesagt?"

Er murmelte Nichtssagendes und ließ sich von Tsúyu vor die Türe führen. Dort fiel er seinem Senpai um den Hals und vergrub den Kopf in seiner Schuluniform.

"Senpai, ich möchte sterben." Vorsichtig legte Hachí die Arme um ihn und versuchte ihn zu trösten. "Hōtáru, es ist noch nicht alles verloren, okay? Es... es kann doch nicht so schlimm sein... was hat denn der Arzt-" "Ich muß über eine Sportart nachdenken, die den Knöchel nicht mehr so belastet... Schwimmen... und ich... ich mag Schwimmen gar nicht so besonders..."

Tsúyu streichelte beruhigend seinen Rücken und zog ihn fest an sich. "Ich weiß, daß du auch im Schwimmclub gut sein wirst... oder welchen du sonst auswählst... deine Entscheidung wird richtig sein, da bin ich mir sicher..."

"Tsúyu-san." Hōtáru hatte den Kopf  gehoben und schien beinahe zu lächeln. "Die bisher schlechteste Entscheidung war sicher die, aus dem Volleyballclub auszutreten. Seither... ist nichts mehr... richtig... was soll ich sagen? Seit der Winter vorbei ist, habe ich immer größere Fehler gemacht- die Vergeltung bekomme ich jetzt in dieser Art und Weise... aber ich möchte, das du weißt, daß es sowieso egal ist... es ist nicht mehr so schlimm. Das ich nicht mehr spielen kann, ist nicht das Schlimmste- seit ich nicht mehr Volleyball spiele, macht Sport keinen Sinn..."

Hachí wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Ob Hōtáru wohl dasselbe wie er... nein, unmöglich, er war doch verlobt. Obwohl... nein, sinnlos, solche Dinge zu denken. Durch seine Wünsche würden sich seine Gefühle nicht ändern... aber...

"Ich glaube, ich gehe besser nach Hause, Senpai. Danke für deine Hilfe, und es tut mir sehr leid, daß du so viel Ärger meinetwegen hast." Hōtáru löste sich aus der Umarmung und lächelte. "Danke, daß du mir so viele Möglichkeiten geboten hast- es ist nicht deine Schuld, daß ich zu dumm war, um sie anzunehmen. Seit Weihnachten ist nichts mehr, wie es war..."

Knapp vor der Praxis des Doktors befand sich eine Bushaltestelle, an der gerade ein Wagen angekommen war. Hōtáru stieg rasch ein und ließ einen reglosen Hachí zurück, der viel zu spät bemerkte, daß er sich nicht einmal verabschiedet hatte.

Langsam machte er sich auf den Weg zurück zur Schule. Eigentlich sinnlos- es war schon nach 15 Uhr, und ehrlich gesagt hatte er nach diesem turbulenten Vormittag keine große Lust mehr, Kíngyo oder sonst jemanden zu sehen. Er war erstaunt, wie tief ihn die Worte getroffen hatten. Offensichtlich hatte sich Hōtáru schon- aufgegeben? Nein, unmöglich. Er kannte doch seinen besten Spieler. Hōtáru hätte das nie so einfach akzeptiert- er war doch-

Siedendheiß fiel ihm ein, daß sich Suigín seit Weihnachten sehr wohl verändert hatte- abgesehen von den Problemen mit seinen Mitschülern war er noch stiller als sonst geworden. Und er wirkte ein kleines bißchen verzweifelt. Der Herbstwind wehte das bunte Laub über die verlassenen Straßen, und Hachí spürte jetzt erst richtig, wie kalt es schon geworden war.

Vor Kälte zitternd schlug er seinen Mantelkragen hoch und wanderte nachdenklich weiter.