10. Kapitel
Cocytus (KwkutoV)
"Uh, es ist so kalt draußen! Am liebsten würde ich für immer hier drin bleiben!"
"Also, ich mag den Winter gerne. Der viele Schnee... das Essen..." "Moko, du bist viel zu verfressen. Kein Wunder, daß du so dick bist." Kamomé wirkte kalt und unfreundlich wie das Wetter vor der Tür des Caféhauses. Tókui lachte sie aus. "Kamomé-chan, heute bist du wieder mal zu freundlich. Noch ein bißchen mehr davon, und hier sitzen bald sechs Eisfiguren um den Tisch!" "Also, ehrlich, ihr müßt doch heute nicht zu streiten anfangen, oder?" Sachou wirkte besorgt, Moko dagegen lachte nur. "Keine Sorge, das macht mir nichts aus. Kamomé hat ja recht- aber um eine Diät durchzuhalten fehlt mir die innere Stärke, fürchte ich."
"Pah! Eine Diät allein ist ja nichts! Wenn ich an meine Freundin Tsurú denke- die macht nicht nur Diät, sondern auch unglaublich viel Sport, und meine Freundin Namakó-" "Also ehrlich, Kiíchigo, mußt du uns mit deinen nichtsnutzigen Freundinnen quälen, deren Lebensinhalt nichts außer Jungs und Make-up ist?" Kamomé unterbrach ihren Redeschwall abrupt. Sie selbst kümmerte sich lieber um ihre Experimente oder ihre Pflanzenzucht.
"Hey, ich habe schrecklichen Hunger! Sonst noch wer?" Káshira lachte unbekümmert. Gerade hatte er von seinen Eltern wieder Geld bekommen, und er war nicht der Typ, der Geld in die Spardose steckte. "Kiíchigo, sei doch nicht beleidigt. Kamomé hat das nicht so gemeint." Tókui versuchte sie aufzumuntern. Kiíchigo saß mit mißmutiger Miene am Tisch und schwieg ärgerlich. "Ihr seid bald genauso schlimm wie Hōtáru. Wenn ihr wüßtet, wie boshaft er ist... zu mir hat er letztes Mal gesagt, ich sollte jetzt schon anfangen zu sparen, in 10 Jahren wäre die erste Schönheitsoperation fällig, und solche Sachen... und er ist niemals nett, immer nur Bosheiten... ich hoffe, ich kann ihn vor der Ehe noch geradebiegen. Sonst sehe ich schwarz." Sie seufzte bekümmert und tat sich selbst sehr leid. Tókui ärgerte sich. "Warum löst du diese Verlobung nicht einfach? Wenn jemand sowas zu mir sagen würde, na, dann hätte er einige Probleme..." Alle mußten lachen, als sie Tókuis zornige Miene sahen. "Kein Mann würde es wagen, frech zu dir zu sein, Tókui! Da bin ich mir absolut sicher!" Káshira zog eine Grimasse und lachte. "Ich dagegen war immer nett zu dir, oder? Also, wie wär's..." "Du bist und bleibst ein unsäglicher Lustmolch. Ich glaube fast, du fühlst für keine deiner Freundinnen irgend etwas." "Doch, natürlich. Sonst wären sie ja gar nicht meine Freundinnen, oder? Aber du, Kiíchigo, du bist etwas Besonderes... für Suigín viel zu schade. Das hieße, Perlen vor die Säue werfen, was, Sachou?" Aufreizend zwinkerte er dem Teamkapitän zu, der puterrot wurde. "Tsutsumí ist nun mal mit ihm verlobt, und er wird sicher einmal ein guter Ehemann." "Gott, Sachou, sei doch nicht immer so langweilig. Kiíchigo hat nun einmal etwas Besseres verdient, oder nicht?" "Solange du nicht glaubst, etwas Besseres zu sein, hast du wohl recht. Sonst wäre es Selbstverblendung..." "Kamomé, du bist genauso boshaft wie Suigín. Aber siehst du- ich bin nicht nachtragend. Eine Runde geht auf mich!"
Kamomé nippte stumm an ihrer Tasse und schien in abstrakte Gedanken versunken zu sein- so wie meistens. Sie war eben wirklich ein kleines Genie, und die Gruppe tolerierte das, obwohl sich alle hin und wieder unwohl fühlten, wenn sie sahen, wie groß der Unterschied zwischen ihr und ihnen allen eigentlich war.
Die warmen Getränke ließen alle in einen angenehm schläfrigen Zustand gleiten, der plötzlich von Kiíchigo unterbrochen wurde. "Da- seht mal aus dem Fenster! Ist das nicht Hōtáru? Aber wer ist denn das da bei ihm?" Alle Köpfe wandten sich zu der großen Scheibe. Draußen wanderte gerade Hōtáru vorbei, an seiner Seite ein kleines Mädchen mit violetten Haaren. Beide wirkten ernst und sehr traurig, das kleine Mädchen schien sogar geweint zu haben.
"Also wirklich, wer ist denn das nur? Das Mädchen kenne ich überhaupt nicht!" Kiíchigo war ratlos und völlig verblüfft. Sie war überzeugt gewesen, Hōtáru in- und auswendig zu kennen.
"Vielleicht ist die Kleine eine Verwandte. Oder eine Tochter von den Geschäftspartnern, die er ein bißchen herumführen muß oder so. Wer weiß..." Moko zuckte die Schultern. "Na, ich weiß nicht... warum sehen die beiden so traurig aus? Vielleicht hat Hōtáru sie geärgert oder so- wer weiß? Ich meine, bei ihm ist so ein Gesichtsausdruck ja nichts Neues, oder?" Tókui wirkte nachdenklich. "Seit wann ist er eigentlich so komisch? Früher war er doch anders, oder nicht?"
"Naja, ein Eigenbrötler ist er ja schon immer gewesen. Aber so schlimm ist es erst seit einem Jahr oder so, oder? Eigentlich gar nicht so lange. Aber ich weiß schon gar nicht mehr, wie er früher war." Sachou war leicht verlegen geworden. "Seltsam... wie die Zeit so vergeht und die Menschen sich ändern..."
"Nicht zu ihrem Besten, soviel ist bei Suigín sicher." Kamomé sprach distanziert und kühl. "Meiner Meinung nach hätten wir ihn aus dem Club ausschließen sollen. In einem halben Jahr sollen wir einen einwöchigen Seeausflug machen, und unser Navigator ist derjenige, der am wenigsten oft da ist. Das ist ziemlich bedenklich, finde ich..."
"Watarí, der arme Kerl, wirkt auch immer bedrückter. Ich glaube, Suigín benimmt sich ihm gegenüber auch nicht gerade gut." "Er ist eben ein Idiot, und ein gefühlskalter Trottel. Arme Kiíchigo- vielleicht solltest du es dir trotzdem noch mal überlegen."
"Puh, das ist lieb von euch- aber ich glaube fest daran, daß sich Hōtáru schon noch ändern wird. Je früher wir heiraten, desto besser- und in ein paar Jahren- schwupp- wird er der perfekte Ehemann sein. Mit seinen Eltern verstehe ich mich wunderbar, das sind so liebe Menschen!" erzählte sie begeistert.
"Ehrlich gesagt sieht er seit einem Jahr wie ein kranker Puma oder so etwas aus. Hast du seine Augen mal genau gesehen? Wie zwei Löcher, richtig beängstigend. So- tot- wie soll ich sagen"
"Ich habe gehört, daß Kíngyo ihn ziemlich vermöbelt hat. Deshalb ist er in den Schwimmclub umgetreten- weil er nicht mehr so belastbar ist wie früher." Tókui trank den Rest aus ihrer Tasse und bemerkte nicht, wie Káshira leicht zusammenzuckte. Er hatte das Vertrauen, daß Hachí in ihn gelegt hatte, nicht enttäuscht, und keinem von den Ereignissen im Herbst erzählt. Hōtáru tat ihm in dieser Sache leid- aber sonst hatte er für sein schlechtes Benehmen keine Entschuldigung verdient. Káshira konnte in solchen Dingen sehr starrköpfig sein, und Leute, die andere so fertigmachten, haßte er am meisten.
"Jetzt ist er schon im dritten Sportclub. Aber ich glaube nicht, das er jemals wieder so gut wird wie im Volleyballteam. Armer Hachí- er hat so viel in ihm gesehen..."
"Was soll ich da sagen? Mein zukünftiger Ehemann ist ein gescheiterter Sportler- und ich wollte immer jemanden, der gut ist... sein Vater war ziemlich wütend, er ist nicht gut in Kendō- und seine Eltern sind eben total erpicht auf sowas... naja..." Kiíchigo seufzte. Moko wirkte nachdenklich. "Er ist so dünn geworden, nicht? Irgendwie tut er mir leid- wohl auch ein Grund, warum er nicht mehr so stark ist, nicht? Er-"
"Ich hab' ihn mal in der Schwimmhalle gesehen. Muskeln hat er ja, aber dünn wie... na, wie-"
"Also ehrlich, hör mal, Tókui!" Kiíchigo wurde rot. "Was hast du denn meinen Verlobten zu betrachten, na? Das-" "Pah, sing keine Opern, Kií. Ich beiße ihm schon nichts weg, keine Sorge!" Tókui grinste spöttisch und hob die Hand. "Wir hätten noch gerne was!"
"Du hier, Ziyóu? Was für eine Überraschung!" Unschlüssig blieb Hōtáru stehen und starrte auf das kleine Mädchen, das wie er vor einem Schaufenster stehen geblieben war.
"Onkel Hōtáru! Wie schön- ähm, ich meine, wie- geht es dir?" Sie lächelte verlegen.
Ziyóu war blasser und dünner geworden, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte- aber das war auch schon beinahe ein Jahr her. Und sie war so groß geworden- er hatte sie als niedlichen kleinen Kobold in Erinnerung, der neben Yún und ihm hin- und herhüpfte.
"Oh, um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du weißt ja- Unkraut vergeht nicht. Aber wie geht es dir? Und dem Eislaufen? Ich bin mir sicher, jeder Verein reißt sich um dich-"
"Fehlanzeige." Ihre Stimme klang zwar gefaßt, aber ihre Augen schimmerten verräterisch. "Ich- ich laufe nicht mehr. Aus und Vorbei. Seit- seit Weihnachten funktioniert es einfach nicht mehr richtig. Aber was erzähle ich lang und breit von mir- was machst du so?"
"Mit Volleyball habe ich auch aufgehört. Es klappt nicht mehr- wie bei dir..."
Mit einem bitteren Lächeln musterte ihn das kleine Mädchen. "Du hast es noch nicht überwunden, oder? Genauso wenig wie ich oder Mama. Sonst gibt sich jeder tapfer und zuversichtlich- aber ich habe manchmal schreckliche Angst, das sie noch mal verrückt wird oder so. Sie hat das alles einfach nicht verarbeitet- deshalb- deshalb ziehen wir jetzt auch wieder weg. Zurück nach Lantau vermutlich. Dort war es besser, und unser altes Haus können wir auch wieder haben. Dort wird sie vielleicht vergessen-" Abrupt brach sie ab und drehte den Kopf zur Seite, damit er ihre Tränen nicht sehen konnte. Aus einem Impuls heraus zog er sie an sich. "Arme Ziyóu- es ist so schlimm für dich- so ungerecht-"
"Als wäre es für dich leichter, Onkel Hōtáru. Ich weiß genau, das es dir vermutlich noch viel schlechter geht." Leise weinte sie in seinen Mantel. Hōtáru kniete sich auf den Boden und umarmte sie fest. "Ziyóu, wenn nicht sie, sondern ich- es wäre für alle leichter, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre- ich weiß, es ist jetzt viel zu spät, aber wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, ich müßte in diesem Bus sein- und nicht sie-"
"Du bist ein Idiot." Das kleine Mädchen löste sich von ihm und wischte sich die Tränen aus den Augen. "Glaubst du, es würde sich so viel ändern? Wenn jetzt du tot wärst, glaubst du etwa, Yún hätte das so einfach weggesteckt? Oh, du kennst sie da nicht so gut wie ich. Sie wäre sicher in der Lage gewesen, irgendwelche Dummheiten zu machen- verstehst du nicht, das du einer der wenigen wichtigen Menschen in ihrem Leben gewesen bist? Yún hat sich in unserer Familie nie wirklich wohl gefühlt. Sie war immer so ruhig und nett- weil sie immer Angst hatte, wir würden sie hassen und wegschicken. Aber ob sie uns wirklich gern gehabt hat- wer weiß? So sicher wäre ich mir da gar nicht. Du darfst nicht vergessen, daß sie über neun Jahre bei alten Leuten gewohnt hat, die ihr immer gutes Benehmen eingetrichtert haben, und bei denen sie sich niemals austoben durfte. Und das die Leute in China gemeine Bemerkungen über ihre fehlenden Eltern gemacht haben, ist auch ziemlich sicher. Und dann- Hals über Kopf nach Hongkong, das sich von dem Leben im Dorf ziemlich unterschieden haben muß- sie hatte immer Angst, dumm dazustehen. Und du warst einer der Wenigen, der ihr das Gefühl gegeben hat, sie wäre etwas wert. Du kannst sagen, das ist nicht wahr. Aber ich glaube, in der Hinsicht kenne ich meine Schwester." Ziyóu hatte schon wieder Tränen in den Augen.
"Es war dumm von mir, das zu erwähnen." Hōtáru wischte ihr vorsichtig die Wange ab. "Ich bin so taktlos..."
"Nein, du bist traurig. Und du kannst sie nicht vergessen, und du gibst dir die Schuld an allem. Aber wenn jetzt du in diesem Bus gewesen wärst- Yún wäre genauso tot wie du und ich jetzt. Die Leute wollen es nicht wahrhaben- aber wir haben uns verändert- und wir beide tun nichts, um uns aus unserer Patsche zu ziehen, sondern wir jammern und klagen, und verderben unser Leben- oh, es tut mir leid" fügte sie plötzlich schüchtern hinzu, als sie seine überraschte Miene sah. "Du mußt dich nicht entschuldigen, Ziyóu, wirklich nicht, du hast ja ganz recht..."
Sekundenlang schwiegen beide. Dann richtete er sich energisch auf und nahm sie an der Hand. "Komm, wir gehen spazieren. Oder in ein Teehaus- wohin du willst. Weißt du, du bist der einzige Mensch, mit dem ich über sie reden kann, und der nicht sofort abblockt oder irgendwelche dummen Phrasen abläßt. Hast du Zeit?"
"Ja... ja, ich habe heute Nachmittag nichts vor. Mama will, daß ich in Hongkong auf eine Privatschule gehe- es ist die "Qīngchu". Hat neu eröffnet, und soll sehr gut sein. Ist mir ehrlich gesagt egal, wohin ich gehe- das kümmert mich nicht mehr."
Hōtáru fühlte sich schlecht. Jetzt zog auch noch sie weg- die einzige Ansprechpartnerin. Aber vermutlich hätten sie sich ohnehin nicht wiedergesehen, wenn sie nicht zufällig heute vor dem selben Laden gestanden wären...
"Hmm... äh, freust du dich auf Hongkong? Vielleicht könnt ihr dort noch mal- neu anfangen?"
"Ja, hoffentlich. Um meine Eltern mache ich mir Sorgen. Dort wird es ihnen sicher besser gehen. Ach, bevor ich es vergesse-" verlegen zog sie einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche.
"Nǎinai hat etwas für dich geschickt. Ich habe es die ganze Zeit mit mir herumgetragen, weil ich gehofft habe, ich sehe dich noch einmal, bevor... bevor wir endgültig wegziehen. Sie ist ein bißchen sentimental, weißt du-" ihre Stimme wurde leiser und sie drückte ihm einen kleinen Brief in die Hand. Vorsichtig öffnete er ihn und starrte ratlos auf die chinesischen Zeichen. "Oh, ich werde ihn dir übersetzen. Sie schreibt ja nicht viel..." Mit glühenden Ohren riß Ziyóu den Zettel aus seiner Hand und las. "Lieber Verlobter, ich weiß nicht einmal deinen Namen, denn Shǎ und Zhenzhu weigern sich, über dich zu reden. Sie sprechen kaum über dich, und wenn doch, dann finden sie wenig schmeichelhafte Bezeichnungen, die ich nicht unbedingt wiederholen will. Bei der Beerdigung hast du mir sehr leid getan. Es muß ein sehr schlimmer Schock in deinem jungen Leben gewesen sein, und ich weiß, daß meine Enkelin ein sehr liebes Mädchen war. Aber Schuld hat keiner, obwohl das Shǎ und Zhenzhu gerne glauben würden. Aber mein Leben ist jetzt lang genug, um das anders beurteilen zu können. Den Brief schicke ich an Ziyóu, da ich mir nicht sicher bin, ob ihre Eltern das hier auch wirklich weiterleiten, was, Mädchen? Du sollst dir auch keine Vorwürfe machen, du bist manchmal genauso wie deine Schwester. Yún war schon immer viel zu still, wir zwei Alten tragen daran wohl die größte Schuld, aber es ist schwer, ein Mädchen richtig zu erziehen.
Lieber Verlobter, ich will dich nicht lange aufhalten, aber nachdem ich den blassen Jungen im Tempel gesehen habe, dachte ich, eine kleine Erinnerung außer dem Glöckchen wäre nicht schlecht. Junge, verzeih mir, aber ich mag keine Photos. Sie verfälschen so vieles. Die Erinnerung bewahrt man in seinem Herzen, dort gehört sie auch hin. Hier hast du noch einen Gegenstand, der Yún sehr am Herzen lag, und eine alte Vettel wie ich kann mit so etwas nichts anfangen. Also, ich hoffe, dein Leben nimmt wieder die gewohnte Bahn, und denk daran, jede Erfahrung macht uns klüger und stärker, auch wenn sie zuerst unnötig und grausam wirkt.
Sangshù Chuíliu."
Ziyóu brach ab und faltete den Brief fein säuberlich zusammen. Ihre Ohren waren tiefrot. "Oma ist ein seltsamer Kauz. Aber sie meint immer ernst, was sie sagt, und sie hat dich gern, glaube ich."
Hōtáru beachtete sie kaum. Aus dem Briefumschlag rollte noch ein kleiner Gegenstand- eine kleine Münze mit chinesischer Aufschrift. "Was- was ist das?" Ziyóu warf einen flüchtigen Blick darauf. "Eine Feng-shui Münze. Komisch, warum die für sie so wichtig war? Vielleicht hat sie ihr mal jemand geschenkt, den sie sehr gern gehabt hat. Wer weiß?"
Die kleine Münze in die Hand gepreßt, beschloß er, sie zu dem Glöckchen auf die Kette zu hängen, die er jeden Tag trug. Die einzigen Erinnerungen an sie- an einen Charakter, den er so gut zu kennen geglaubt hatte, und der noch einiges an Untiefen in sich barg...
Gemeinsam schlenderten sie ziellos weiter, an den vielen Cafés, in denen sich die Leute drängten, vorbei, zu einem kleinen Teehaus. "Ich hoffe, es gefällt dir. Das Teehaus da mag ich gerne- es ist immer angenehm leer, und es gehen kaum Jugendliche dorthin."
"Oh, es ist sehr hübsch." Ziyóu war nicht ganz bei der Sache. Einige Dinge schienen ihr noch auf der Seele zu lasten, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie damit herausrücken würde.
Beide setzten sich und bestellten Tee. "Deine Entscheidung, mit Volleyball aufzuhören" begann sie vorsichtig "wieviel hat sie mit Yún zu tun?" Hōtáru fühlte sich nicht überrascht; etwas Ähnliches hatte er erwartet. "Was soll ich sagen? So gut wie alles. Abgesehen davon ist mein Knöchel jetzt völlig ruiniert, also werde ich ein... hmm, Comeback, oder wie man so schön sagt, nie wieder schaffen." Plötzlich wurde er blaß. "Was hast du?" "Ach, nichts, es ist nur..." er lächelte schwach "gerade habe ich bemerkt, was ich eigentlich verloren habe... ich weiß, wie dumm das klingt, aber das ist- irgendwie- ein Schock..."
"Das kann ich verstehen. Als ich beschlossen habe, mit dem Eislaufen aufzuhören, hat sich mein ganzes Leben verändert. Und es ist dadurch nicht besser geworden... Manchmal denke ich, wir sollten uns vor Yún schämen... wir verletzen uns selbst, um sie dafür zu bestrafen, daß sie nicht mehr bei uns ist... als würden wir einem Schatten dienen, der uns langsam auffrißt... Aber was soll das eigentlich? Wir benehmen uns wie Kinder, denen man die Puppe weggenommen hat- wir heulen und schreien und können es nicht akzeptieren... aber sie..."
"Sie kommt dadurch auch nicht mehr zurück." Ruhig beendete er ihren Satz und starrte sie überrascht an. "Du bist viel zu klug für dein Alter, Ziyóu. Wirklich, in deinem Alter denkt sicher keiner so... aber-" "Aber jeder hat eben nicht eine tote Schwester. Und keine Eltern, die sich vor Schuldgefühlen fast auflösen. Sie haben Schuldgefühle, weil sie Yún neun Jahre lang alleine gelassen haben, sie haben Schuldgefühle wegen dem Umzug nach Japan, wegen allem haben sie Schuldgefühle und Komplexe. Einmal habe ich sie heimlich belauscht. Und da machten sie sich Sorgen, weil Yún mit einer kleinen Schwester in Lantau konfrontiert worden war, und weil sie... ach, weiß der Teufel-" Wütend brach sie ab, aber der Staudamm, der ihre Gefühle im Zaum hielt, war bereits gebrochen. "Manchmal, wenn es ganz dunkel ist, und ich gar nichts mehr höre, weil der Straßenlärm zu einem Summen verschwimmt- dann ist die Nacht wie ein schwarzes Tuch- und dann liege ich nur da und hasse sie. Und dann hasse ich mich selbst, weil ich sie hasse, und es nicht sollte- weil sie wirklich eine liebe Schwester war. Aber mir kommt es manchmal so vor, als wäre sie tot wichtiger als ich lebend- und dabei ist das gar nicht wahr, aber ich bilde es mir trotzdem ein, und dann..." Sie weinte schon wieder, und Hōtáru wußte nicht, wie er sie trösten sollte. "Ich glaube nicht, das du sie haßt. Eher den Umstand, der dein und mein Leben verändert hat. Aber das ist nicht Yún. Nicht wirklich. Vielleicht-" Seine Stimme war belegt, und er fühlte sich selber den Tränen sehr nahe "hassen wir beide uns so sehr, daß wir jemand anderen brauchen, auf den wir das abladen können- Yún, deine Eltern, meine Eltern, meine Verlobte, die Schule..." "Du bist wieder verlobt?" Ziyóu hob den Kopf und blinzelte ihn unter Tränen an. "Jetzt schon? Aber-"
"Keine Sorge." Er lächelte schmal. "Von meinen Eltern arrangiert, und ich kann mich nicht wehren- aber sie ist so mit sich selbst beschäftigt, daß sie von Yún nie erfahren wird- weil es sie nicht interessiert- und ich es ihr sicher nie erzählen werde."
Stumm nippte Ziyóu an der heißen Flüssigkeit und nickte schließlich. "So ein kleines Seelen- stripping tut doch ganz gut, oder? Ich habe mich schon damit abgefunden, daß ich ein schlechter Mensch bin und vermutlich als Regenwurm wiedergeboren werde. Dafür werde ich mich im nächsten Leben mehr anstrengen."
"Erzähl mir noch von Yún, okay? Je länger ich dir zuhöre, desto mehr habe ich das Gefühl, sie überhaupt nicht zu kennen..."
"Oh, du kennst sie sicher besser als meine Eltern oder ich. Aber gut- was soll ich dir erzählen? Haiyáng Yún, geboren am 02. 02. in Chángsha, Provinz H'nán, aufgewachsen bei Sangshù Yuán und Chuíliu. Ich selbst kann mich nicht an ihre Ankunft in Hongkong erinnern, aber es gibt ein Foto, auf dem man sie in chinesischer Tracht sieht.
Das einzige Mal, das ich sie richtig weinen gesehen habe, war vor drei Jahren, als Nǎinai ihr einen Brief schrieb, das ihre Katze gestorben wäre. Sonst war sie immer gleich ruhig und freundlich. Freunde hat sie nie viele gehabt, glaube ich, jedenfalls aus China weiß ich nichts, in Hongkong hatte sie nur zwei oder drei Mädchen, mit denen sie manchmal herumgezogen ist. Aber besonders eng war das sicher nicht, sie hat nie Briefe oder so von denen bekommen. Naja, und in Japan, da warst du. Und dich hat sie auf jeden Fall sehr gern gehabt, sonst hätte sie sich nie gegen den Willen meines Vaters mit dir verlobt. Glücklicherweise konnte Mama die Wogen glätten. Aber jetzt... " Sie brach ab und starrte in ihre leere Tasse.
"Du darfst nicht glauben, das du so- soviel unwichtiger wärst als sie, okay? Du redest dir sicher ein, sie hätte ein Leben eher verdient als du, aber das ist nicht wahr, und da würde sie mir beipflichten. Weißt du, es gibt genauso viele Menschen, die dich brauchen, und-" Hōtáru lachte plötzlich auf und unterbrach sie. "Ich kenne leider keinen, der mich braucht. Nicht einmal meine Eltern, denn ich bin für sie ja sowieso nur der Firmenerbe, und dafür nehmen sie sonst eben Kitsuné. Nein, ehrlich, wenn ich sterben würde, und alle wären am Friedhof, wer würde seine Trauer ernst meinen? Nicht einmal Watarí, oder meine Eltern, oder sonst wer. Wer-" "Ich würde es ernst meinen" meinte Ziyóu, das kleine Mädchen, ohne ihn anzusehen. "Ich glaube, ich muß jetzt gehen. Es war sehr lieb von dir, mich einzuladen, und wenn du mal in Hongkong bist, dann treffen wir uns, und sehen, wie unser Leben weitergegangen ist, okay? Wir dürfen unsere Fehler nicht zu ihrer Schuld machen." Sie lächelte plötzlich und beugte sich zu ihm.
Bevor er richtig wußte, was sie da eigentlich tat, hatte sie ihre Schüchternheit überwunden und ihm einen kleinen Kuß auf die Wange gedrückt. "Leb wohl, Onkel Hōtáru, und komm nach Lantau. Ich werde dir noch meine Adresse schicken, dann treffen wir uns, ja? Ich freue mich." Und weg war sie, aus dem Teehaus gehuscht wie ein flüchtiger Schatten.
Hōtáru blieb sitzen und trank noch eine Tasse. Was sie gesagt hatte, stimmte ihn nachdenklich.
Sicher hatte sie recht. Und sie schien es besser zu verkraften als er, obwohl da natürlich auch noch... Untiefen lauerten- Probleme, die erst mit der Zeit sichtbar werden würden. Er war da schon ein großes Stück weiter als sie. Der Knöchel war Beweis genug.
Jetzt war sie schon fast ein Jahr tot... und er war noch immer am Anfang. Aber er konnte sie eben nicht so schnell vergessen, wie jeder das von ihm erwartete- sie waren gerade am Anfang ihrer Beziehung gewesen, hatten noch nie gestritten, waren eben erst dabei gewesen, sich kennenzulernen, vermutlich war es deshalb doppelt so schwer. Wenn sie länger zusammengeblieben wären, hätten sie nach und nach ihre Fehler und Unzulänglichkeiten erkannt und die Gefühle wären abgekühlt. Aber so- es wirkte noch so- unfertig, es hatte doch kaum erst begonnen. Warum... Sein Gedanken drehten sich im Kreis und blieben immer bei jener Nacht stehen. Natürlich war alles seine Schuld, egal, was Ziyóu sagte. Hätte er sie nicht eingeladen, wäre sie nicht tot. Das war doch wohl klar. Wenn sie nicht in diesem Bus gesessen hätte, dann...
Irgendwann zwang er sich, damit aufzuhören. Es war jetzt viel zu spät, um darüber nachzudenken, Was-wäre-wenn, und wenn nicht- sinnlos. Sie war tot, daran war nichts mehr zu ändern. Liebend gern hätte er alles dafür gegeben, sie noch einmal zu sehen, aber es war eben nur das- ein sinnloser Wunsch.
Langsam zog er die Feng-shui Münze aus der Tasche und betrachtete sie nachdenklich. "Made in Hongkong". Von wem sie das wohl bekommen hatte? Einem Freund? Ihrer Familie? Das würde er wohl nie herausfinden, da kaum mehr eine Chance bestand, ihre Großeltern zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Aber manche Geheimnisse blieben besser ungelöst, sonst rutschten sie ins Banale ab.
Hōtáru bezahlte und trat auf die Straße. Es war eiskalt, und bald würde es wieder schneien. Ungerufen stürmten ein paar unliebsame Erinnerungen auf ihn ein. Die Nacht... vor dem Krankenhaus... die Kinder, die ihn auf die Seite gestoßen hatten, und Káshira, der ihn halb nach Hause geschleppt hatte. Warum? Was hatte ihn nur dazu veranlaßt, einen Schulkollegen, den er nicht einmal besonders gut leiden konnte, nach Hause zu tragen?
Hōtáru glaubte inzwischen nicht mehr an Menschen, die einfach nur freundlich waren. Vermutlich hatte ihn Káshira später in der Klasse oder in seinem Sportclub so richtig lächerlich gemacht. Klar, war ja auch ein toller Scherz. "Hey, hast du schon gehört..." Ja, echt witzig.
"Hey, Suigín!" Tókui und die anderen eilten plötzlich auf ihn zu. "Hōtáru, wer war das kleine Mädchen neben dir?" Kiíchigo war außer Atem und zog eine beleidigte Grimasse. "Du mußt es mir sagen, wenn du mit irgendwem herumläufst! Ich muß das schließlich wissen!"
"Warum?" Kühl drehte er sich zu ihr und sah sie ohne zu lächeln an. "Ich darf wohl auch noch mein Privatleben haben, oder? Abgesehen davon kann ich Frauen, die tratschen, nicht ausstehen. Wenn du nicht aufpaßt, siehst du bald so aus wie die Gemüseverkäuferinnen auf dem Markt." "Hey, ihr solltet euren Ehekrach auf Zuhause verschieben." Káshira grinste. "Ziemlich gemein bist du zu Tsutsumí schon! Unfähig, eine solche Schönheit zu erkennen, was?"
Hōtáru wurde wütend. "Du erkennst auch keine Schönheit, das sieht man an deinen Freundinnen. Dir ist wohl Quantität allemal lieber als Qualität, hmm?" Káshira lachte nur. "Ich hatte jedenfalls schon Freundinnen, was man von dir ja nicht unbedingt behaupten kann. Du solltest wirklich mal zum Arzt gehen..." "Das reicht mal wieder für heute, okay, Leute?" Sachou lächelte nervös. Er konnte Streit nicht leiden. "Jetzt, wo wir uns getroffen haben, können wir ja noch irgendwo reingehen, oder? Uns auf den Sommer freuen. Du freust dich doch auch, ja, Hōtáru?" "Worauf? Um mit einer Horde von Leuten, die ich nicht leiden kann, eine einwöchige Schiffstour zu machen? Nein, danke." Kalt verabschiedete er sich und verschwand im plötzlich einsetzenden Schneegestöber, während Kiíchigo traurig aufseufzte und den Kopf schüttelte.
Der 22. Dezember wurde ein grauer, deprimierender, kalter Tag. Schnee lag in der Luft; und die Menschen bemühten sich, so schnell wie möglich ihre Besorgungen zu erledigen und dann wieder in warme Häuser zu kommen.
„Ich gehe noch woanders hin, Kiíchigo. Tut mir leid, aber es ist wohl am Besten, ich bringe dich jetzt wieder nach Hause." Hotáru hatte den ganzen Nachmittag mit seiner Verlobten verbracht und fühlte sich bereits ziemlich erschöpft. Abgesehen davon hatte er wieder einmal nächtelang wach gelegen und sah auch dementsprechend energielos aus.
„Was hast du? Die ganze Zeit redest du kaum ein Wort, und dann willst du mich auf einmal abschieben... eine Erklärung wäre nicht schlecht!" Kiíchigo war sauer. So einen trotteligen Versager konnte auch nur sie abkriegen... Wenn sie da an andere Männer dachte, die sie zu schätzen wussten...
„Nichts weiter, kein Grund zur Aufregung. Ich muß bloß noch ein paar Besorgungen machen, die wären für dich garantiert zu langweilig. Und in der Bibliothek – "
„Schon gut" fiel sie ihm gereizt ins Wort. „Hab's verstanden, Danke schön. Ich merke schon, wenn ich nicht erwünscht bin. Nach Hause brauchst du mich auch nicht zu bringen, ich gehe noch zu Tsurú- chan. Also dann... noch viel Vergnügen mit deinen... Büchern...."
Spöttisch lächelnd drehte sie sich um und winkte. Hotáru lächelte ebenso falsch und verneigte sich leicht. „Noch viel Spaß mit Tsurú- chan... Richte ihr schöne Grüße aus..."
Dann war sie schließlich verschwunden, und Hotáru konnte sich endlich wieder entspannen. Diese kleinen Spaziergänge mit Kiíchigo haßte er wie die Pest.
Langsam wanderte er zu einer Buslinie, die in Richtung Stadtrand fuhr. Er hatte sie nicht angelogen – heute hatte er noch etwas vor. Etwas, vor dem er sich am liebsten gedrückt hätte.
Außerhalb der Stadt lag ein kleiner chinesischer Friedhof; gleich daneben ein unscheinbares Blumengeschäft. Dorthin lenkte er seine Schritte. Es war das erste Mal, dass er es übers Herz brachte, diesen Ort zu betreten. Einer der Grabsteine gehörte Yún, und ihren Tod würde er am liebsten vergessen... verdrängen... Wenn es nur nicht unmöglich wäre...
„Ähm... ich hätte gerne acht Lotosblumen, bitte..." Der alte Verkäufer blickte erstaunt auf den jungen Mann, der blaß und mit tiefen Augenringen vor seinem Tresen stand. „Acht Lotosblumen? Sind sie sich sicher?" „Ja." Der junge Mann sah sehr entschlossen aus.
„Na dann..." Achselzuckend rief er seine Frau und schickte sie mit der Bestellung ins Lager. Dann wandte er sich wieder seinem Kunden zu. „Zu dieser Jahreszeit sind die aber nicht gerade billig..." „Das ist kein Problem." Gelangweilt schob ihm der Kunde eine Kreditkarte zu.
Mit den Blumen in den Armen trat Hotáru schließlich vor den Grabstein hin, unter dem die Urne des einzigen Menschen ruhte, der ihm je wirklich etwas bedeutet hatte.
Der Friedhof lag still und verlassen in der eisigen Winterluft da. Niemand außer Hotáru störte das frostklirrende Schweigen; nur einige Krähen hatten sich mitten auf den Gräbern niedergelassen, um an einigen der erst kürzlich hinterlassenen Sträuße zu picken.
Wortlos stand er vor dem schmalen Grabstein, in den für ihn schwer leserliche chinesische Zeichen gemeißelt worden waren. Nur ihren Namen konnte er ohne Mühe entziffern.
„Yún." Mehr als ein Flüstern bekam er nicht heraus. Seine Stimmbänder fühlten sich an wie zu Eis erstarrt. „Was..."
Die Lotosblüten rutschten aus seinen klammen Fingern und wehten über das Grab seiner toten Geliebten. Hotáru konnte sich nicht mehr fassen; verzweifelt sank er langsam auf die Knie und begann haltlos zu schluchzen. „Ich brauche dich... kann nicht leben ohne dich... der Tag ist eine einzige Qual... jeder Tag war eine einzige Qual... ich..."
In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als selbst unter solch einem Stein zu ruhen... keine Sorgen, kein Wissen mehr...
„Werden wir uns wiedersehen?" Sein Mund war trocken und selbst aus seinen Augen flossen keine Tränen mehr. „Vielleicht werden wir uns nie wieder sehen... nicht einmal im nächsten Leben..."
Nach etwa einer halben Stunde, die er am Boden kniend verbracht hatte, drang die Kälte des Tages wieder in sein Bewusstsein ein. Schwankend kam er wieder auf die Beine und sah sich auf dem immer noch menschenleeren Friedhof um. Die Lotosblumen waren inzwischen weit zerstreut und von den Vögeln zerpickt worden; nur eine einzige weiße Blüte schaukelte vor dem Grabstein leicht im Wind.
„Bitte... vergib' mir..." flüsterte er dem Grab noch ein letztes Mal zu, bevor er sich endgültig umdrehte und den Friedhof verließ, ohne noch einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Der Besitzer des Blumenladens sah den seltsamen Kunden vorübergehen.
„Ein komischer Kerl, was?" meinte er trocken zu seiner Frau, als Hotáru sich schon längst nicht mehr in seinem Blickfeld befand.
Als Hotáru Zuhause angekommen war, empfing ihn der Butler mit einem besorgten Blick. „Ihre Eltern sind nicht zu Hause. Allerdings hat Herr Ukí bereits einmal angerufen, um zu fragen, wie es Ihnen geht. Er macht sich große Sorgen um Sie..."
„Das interessiert mich nicht. Falls er noch einmal anruft, sagen Sie ihm, ich schlafe und möchte keinesfalls gestört werden. Ich bin sehr müde..."
„Ihre Hosen sind naß." Missbilligend betrachtete ihn der nur um geringfügig ältere Mann. „Haben Sie einen Schneemann gebaut?"
„Das geht Sie wohl kaum etwas an!" schnappte Hotáru entrüstet und ärgerte sich. Was sich dieser Kerl einbildete...
„Nicht nur Ihre Eltern machen sich Sorgen um Sie. Auch ich habe ein schlechtes Gewissen..." Der Butler hielt ihn plötzlich an der Schulter zurück und blickte ihn traurig an. „Seit Miß Yún– seit Sie..." „Schweigen Sie!" Heftig hatte sich Hotáru aus seinem Griff befreit und funkelte ihn mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung an. „Das hat damit absolut nichts zu tun! Und ich möchte Ihnen nicht raten, Sie noch einmal zu erwähnen, dieses Thema ist – gestorben, haben Sie das verstanden?"
Bleich und zitternd wandte er sich ab und rannte die Treppe nach oben, wo er sich in seinem Zimmer vergrub um den restlichen Tag – wie üblich – im Bett zu verbringen.
Der Butler blieb leicht verstört zurück und schalt sich innerlich. Noch nie hatte er es gewagt, seinen Dienstgebern anmaßend entgegenzutreten – und jetzt das... aber der Junge tat ihm leid. Er wirkte wie eine verängstigte kleine Katze, die man am liebsten auf den Arm nehmen würde, um sie tröstend zu streicheln.
