12. Kapitel
Fama (jhmh)
„Hey, Suigín! Du bist doch ein Freund von Hachí, oder? Kannst du mir einen Gefallen tun und das da bei ihm abliefern? Soweit ich weiß, ist er jetzt umgezogen, und ich komme dort nicht vorbei. Wäre nett, wenn du mir den Weg abnimmst!"
Ein Student der Kaikyō- Universität kam vor dem Schultor an Hotáru vorbei und drückte ihm ein paar Zettel in die Hand. Ohne auf seine säuerliche Miene zu achten, bedankte er sich schnell und verschwand eilig in der Menge der herausströmenden Schülerhorden.
„Aber es ist auch für mich ein Umweg, hey -" Sinnlos. Der Student war schon längst außer Hörweite, und Hotáru stand stocksteif und völlig überrascht mit den Kopien in der Menschenmenge, die ihn ärgerlich immer weiter zur Seite drängte.
„Toll, vielen Dank! Aber na gut- zu Hachí gehe ich noch lieber als zu irgendwem sonst... ob er wohl krank ist? Vielleicht hat ihn Kíngyo wieder einmal verprügelt..." Mit düsteren Gedanken machte er sich langsam auf den Weg. Freundlicherweise hatte ihm der Student die Adresse auf einen der Zettel geschrieben. Natürlich in einer solchen Klaue, daß es ewig dauerte, bis er es korrekt entziffert hatte. War ja klar. Wäre auch seltsam gewesen, wenn mal irgend etwas auf Anhieb geklappt hätte.
Über Hachí hatte man in letzter Zeit auch viele Gerüchte gehört... angeblich sollte er auf einmal eine Vorliebe für kleine Kinder gefaßt haben, deshalb wollte keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben... Fakt war jedenfalls, daß er überraschend und ohne weiteren Kommentar von seinem Posten als Kapitän des Volleyballteams zurückgetreten war. Auch Kíngyos Stelle schien vakant geworden zu sein, jedenfalls rätselte man bereits über seinen Nachfolger.
Kaum zu glauben, wie schnell zwei beliebte Schüler in Verruf geraten konnten. Überhaupt bei Hachí war es eine Schande... sonst hatte immer jeder seine Hilfe in Anspruch genommen, ohne sich viel dabei zu denken, und kaum tauchten ein paar lächerliche Gerüchte auf, wollte keiner mehr etwas mit ihm zu tun gehabt haben. Nur ein weiteres Zeichen für die Gedankenlosigkeit der Menschen.
Seit dem Valentinstag hatten sie sich auch in ihren jeweiligen Clubs nicht mehr blicken lassen, und die Uni konnten sie auch nicht allzuoft besucht haben, jedenfalls... irgendwie fehlte etwas. Auch im Photographieclub fehlte ihm das freundliche Lächeln, daß ihm Hachí immer schenkte... er war ja auch der einzige, der ihn zu mögen schien. Seit einem Monat fühlte er sich noch einsamer als sonst.
Heute war White Day, und er hatte keinem einzigen Mädchen etwas geschenkt, da ihm keine Einzige etwas bedeutete. Kiíchigo war beleidigt davonstolziert, nachdem er ihr mit der Holzhammermethode beigebracht hatte, daß sie langsam anfing, dick zu werden, was natürlich nicht stimmte. Kein Wunder; nicht viele Menschen dachten so oft ausschließlich an sich selbst und ihr Aussehen wie seine Verlobte. Aber so, wie er seine Eltern kannte, würden sie ihr vermutlich irgend etwas in seinem Namen schicken lassen, sie konnten sich ja schon denken, daß er es vermutlich nicht machen würde.
Seufzend stieg Hotáru in den Bus, der ihn laut Anweisung kurz vor Hachís neue Wohnung bringen würde. Hoffentlich mußte er keinen anstrengenden Fußmarsch hinlegen, das war heute nicht mehr drin. Seine Narbe schmerzte jetzt schon ziemlich stark.
Die Bushaltestelle befand sich mitten im Grünen, einige Meter von einer offensichtlich neuen Wohnsiedlung entfernt, die von einer riesigen Parkanlage umrahmt wurde. Hier leben zu können mußte wundervoll sein. Diese Stille... und der Park war wirklich groß... ein kleiner Wald lag gleich dahinter. Und mit dem Bus konnte man innerhalb weniger Minuten mitten im Stadtzentrum sein, alles in allem konnte eine Wohnung in diesem Komplex nicht billig sein. Aber Hachí mußte sich über Geld natürlich genauso wenig den Kopf zerbrechen wie er. Seine Eltern hatten Geld wie Heu.
Vor der Wohnungstür angekommen, blieb Hotáru einige Sekunden unschlüssig stehen. Am liebsten wäre er gleich wieder gegangen, obwohl er Hachí natürlich sehen wollte, aber sein Senpai würde es vielleicht für zu aufdringlich halten, wenn er einfach so daherkam und ihm irgendwelche Unterlagen brachte... warum war nicht einfach sein Studienkollege hier? Bei dem würde sich Hachí wenigstens nicht wundern, wenn er einfach so vor der Türe stand...
Irgendwann faßte er sich doch ein Herz und klingelte. Hoffentlich war Hachí nicht schlecht gelaunt... oder-
Die Person, die mitten im Türrahmen stand, war definitiv nicht sein Senpai. Es war Kíngyo.
„Äh... ähm..." Völlig verwirrt und einer Ohnmacht nahe, starrte Hotáru in ein Paar kalter roter Augen, die ihn gelangweilt musterten. Akári steckte in einem nachlässig geschnürten Morgenmantel, der sich sanft um seinen Körper schmiegte, in der rechten Hand eine brennende Zigarette. Er sah jedenfalls nicht so aus, als ob er gerade erst gekommen wäre.
„Was willst du?" Seine Stimme klang eiskalt wie immer und bewirkte wie eine kalte Dusche, daß Hotáru aus seiner Verwirrung erwachte.
„Oh, äh... hier sind ein paar... Kopien für... Senpai Hachí... ich...." Verzweifelt stotterte er herum. War das peinlich. Kíngyo war ja so schon nicht gut auf ihn zu sprechen, und jetzt würde er ihn völlig verachten... warum war er nicht gegangen, als es noch möglich gewesen war?
„Es wird nicht gut aussehen, wenn du auf dem Flur stehenbleibst, oder? Los, komm rein, komm rein, oder willst du hier Wurzeln schlagen?" Nachdrücklich schob ihn Akári in das Vorzimmer. Hotáru fühlte sich wie ein dummes Sonderschulkind und fühlte, wie sein Hals immer enger wurde. Oh nein, bitte nicht. Noch ein paar Sekunden länger mit Kíngyo, und er würde anfangen zu weinen, und diese Demütigung... nein...
„Kopien für Hachí- kun, ja? Na schön. Er schläft zwar gerade, aber ich werde ihn extra für dich aufwecken... nur damit er deine Mühe anerkennen kann..." Ein ausgesprochen boshaftes Lächeln spielte um seinen Mundwinkel, und er drückte seine Zigarette aus.
„Dann komm mal gleich mit, sein Zimmer ist gleich da vorne..."
Wie ein begossener Pudel trottet Hotáru völlig ratlos hinter ihm her. Warum trug er einen Morgenmantel? Und- was hatte er eigentlich hier zu suchen? Wirklich seltsam...
Das Rätsel löste sich, als sie sein Zimmer betraten. Hachí lag tief schlafend auf einem Futón und trug außer eine Decke, die um seine Hüften geschlungen war- nichts. Langsam begann es Hotáru zu dämmern.
„Aber... ihr beide habt doch nicht... nein, unmöglich -"
Akári grinste noch boshafter. „Glaub' es ruhig. So ist eben das Leben- unvorhergesehene Dinge passieren..."
Hotáru stand da wie angewurzelt und wußte nicht, was er sagen sollte. Das war wohl das Letzte, was er von Hachí erwartet hätte- mit Kíngyo, und überhaupt-
„Mmmh, was ist... ich bin so müde...." Nachdem ihn Akári sanft an der Schulter gerüttelt hatte, wachte Tsúyu widerstrebend auf und öffnete langsam die Augen. Das erste, auf das sein schlaftrunkener Blick fiel, war ein entsetzt dreinblickender Hotáru, der noch unschlüssig war, ob er sofort gehen oder erst noch auf eine Erklärung warten sollte.
„Hotáru- kun, bitte, ich weiß, was du jetzt denken mußt, aber ich möchte es dir noch erklären... könntest du dich nicht mit Akári kurz mal nach draußen setzen, er kann es dir auch erklären- bitte, ich komme gleich..."
Unter seinem flehenden Blick wurde Hotáru weich, und er drehte den Kopf zur Seite. „Ich weiß nicht... aber, na gut..."
Akári schien das Ganze großen Spaß zu machen, denn er bugsierte ihn grinsend in das Wohnzimmer und bot ihm ein Zabúton an. „Wenn du dein Gesicht sehen könntest- zum Totlachen! Als hättest du einen Geist gesehen..."
„Das ist nicht komisch! Ihr... ihr habt mir einen Schrecken eingejagt... ich... ich dachte..." Langsam verwandelte sich der Schock in Ärger. „Findest du das noch witzig? Ihr habt hier wohl schon seit Wochen euren Spaß, und ich Idiot habe mir noch Sorgen gemacht... ich..."
„Tsúyu- chan fühlt sich auch nicht halb so wohl, wie du denkst..." Sorgfältig zündete sich Akári noch eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Ohne ihn anzusehen, stützte er die Arme auf und starrte aus dem Fenster. „Du weißt sicher, daß er nicht mehr Kapitän des Volleyballclubs ist... und ich nicht mehr Kapitän des Handballteams... das alles nicht ohne Grund. Irgendwie ist das Gerücht unserer... hmm, Beziehung der Schulleitung zu Ohren gekommen, und daraufhin wurden wir beide mit sofortiger Wirkung unserer Posten enthoben. Wir beide sind moralisch keine Vorbilder mehr... wenn sie könnten, würden sie uns von der Uni schmeißen... und im Moment kursieren so viele bescheuerte Gerüchte um Tsúyu und mich, daß wir dankend darauf verzichtet haben, außer Haus zu gehen. Mir persönlich wäre es ja egal" er starrte Hotáru mit seinem üblichen Blick eiskalten Hochmuts an „aber Tsúyu- chan trifft die ganze Sache um einiges härter, also würde ich dich bitten, daß du ihn mit irgendwelchen Vorwürfen verschonst- die kann er jetzt wirklich nicht gebrauchen..."
„Ja... ja, klar..." konnte er gerade noch herauspressen, als auch schon Hachí erschien. Auch er hatte sich wie Kíngyo einen Morgenmantel angezogen, sah aber blaß und angegriffen aus, als er ein Stück Schokolade aus einer Schüssel, die mitten am Tisch stand, holte und sich zu ihnen setzte.
„Ähm... Hotáru- san..." begann er mühsam und wußte nicht mehr weiter. „Ich... ich möchte mich entschuldigen... für... für alles..." Stockend brach er ab und wirkte so hilflos, wie ihn Hotáru noch nie gesehen hatte.
„Ach- ist schon gut, Senpai, wirklich, du mußt dich dafür wirklich nicht entschuldigen, ehrlich, das geht mich auch überhaupt nichts an... im Gegenteil, mir tut es leid... ich... ich hätte mich melden sollen..."
„Nein, ich... der Direktor sagte, wir wären entsetzlich schlechte Beispiele... er... er sagte, wir wären eine Schande für die Schule..." Hachí schien den Tränen nahe.
Akári umarmte ihn heftig und zog ihn an sich. „Auf diesen verknöcherten Opa hörst du auch noch... ich habe dir schon einmal gesagt, jeder, der sich jetzt von uns abwendet, ist es einfach nicht wert, mit dir auch nur zu reden... und Suigín- kun findet es nicht schlimm, bitte, du hörst es doch selbst..."
Alle tröstenden Worte halfen nichts. Tsúyu schluchzte leise in den Kragen seines Liebhabers und konnte sich nicht mehr fangen. Hotáru saß verlegen daneben und wußte nicht, was er tun sollte. Akári sah ihm plötzlich schnurgerade in die Augen. Sie blitzten entschlossen.
„Wenn dir etwas an diesem Leben nicht gefällt, dann solltest du gleich gehen... und zwar wirklich sofort- ich dulde es nicht mehr, daß er ständig von irgendwelchen Leuten verletzt wird- also entweder du gehst, oder du akzeptierst es...wenn du ihn belügst, oder ihm weh tust, dann kannst du was erleben, das schwöre ich dir..."
„Nein, ich... so was ist mir egal... wenn es Senpai Hachí dadurch besser geht..." Hotáru stockte und schwieg. Ja, man konnte ja auf dem ersten Blick sehen, wie gut es ihm ging... trotzdem, wenn diese Phase erst vorbei war, und die meisten es akzeptiert haben würden, dann würde es ihm sicher besser gehen...
„Warum? Warum jetzt? Ich verstehe nicht... seit wann- äh, wißt ihr schon..." Seine Ohren färbten sich vor Verlegenheit rosa und er konnte ihnen nicht in die Augen sehen.
Akári gestattete sich ein schmales Lächeln und streichelte den Rücken seines Geliebten. „Willst du wissen, wann wir es nur- wußten, oder ab welchem Zeitpunkt wir es – hmm, aktiv zur Kenntnis genommen haben...." „Ähm- beides? Ich will damit natürlich keinem zu nahe treten... äh..." Hilflos stotterte Hotáru herum und kam sich immer dümmer vor, während Akári einen Teil seiner guten Laune wiedergefunden zu haben schien und nur knapp vor einem Lachanfall stand.
„Ach, Suigín- kun, es macht Spaß, wieder einmal Besuch zu haben... du bist so ziemlich der einzige, der sich noch in diesen Sündenpfuhl wagt.... Ein paar Gerüchte scheinen sich ja schon herumgesprochen zu haben, deshalb lassen uns jetzt auch alle brav in Ruhe..."
„Nicht alle sagen so etwas. Und auf die paar Idioten müßt ihr ja wirklich nicht hören..."
Hachí hob plötzlich ruckartig den Kopf und starrte ihn an. „Das ist nett von dir. Aber ich glaube, unsere Eltern sind die einzigen, die von den Problemen hier keine Ahnung haben... Ich habe ihnen nicht einmal erzählt, daß ich kein Teamkapitän mehr bin... das würde sie total kränken... und wenn sie von Akári- chan und mir erfahren, ist es sowieso aus... Am liebsten würde ich... ach, ich weiß nicht..."
„Davonlaufen bringt auch nichts" warf Kíngyo streng ein und drückte ihn noch fester an sich. „Ich will nicht so kindisch sein, daß ich sage, wir werden es gemeinsam schaffen oder so, oder wir werden für immer zusammenleben, ich glaube sowieso nicht, daß das länger hält... völlig unmöglich... aber..." Tsúyu nickte zustimmend. „Das wei ich ja, aber... ich... ich hasse diese Probleme..."
Unvermittelt mußte Hotáru auflachen. „Ihr beide seid einfach... ach ich weiß nicht, cool... das gefällt mir... So was Illusionsloses gibt es selten- warum seid ihr noch zusammen, wenn ihr wißt, daß es ja doch auseinandergeht?"
„Sinnlos, gleich aufzugeben, oder nicht? Wäre schade um die schöne Zeit, die wir verpassen würden, nur weil wir zuviel Angst vor Konsequenzen haben... auch wenn alles bald in die Brüche geht- ich glaube, dann müssen wir es trotzdem nicht bereuen..." Hachí hatte ruhig wie immer gesprochen, obwohl seine Lippen immer noch schwach zuckten. Akári küßte ihn schnell. „Na, ist ja nicht so schlimm..." Während er ihm beruhigende Worte ins Ohr flüsterte, begriff Hotáru erst so richtig, daß das hier ein ziemlicher Vertrauensbeweis sein mußte, und zwar von allen beiden. Vor Leuten, die sie nicht mochten, würden sie sich sicher nicht so benehmen... so- natürlich... In Gedanken versunken starrte er in seine Teetasse und dachte ganz kurz an Yún. So ähnlich hätte es mit ihnen beiden auch werden können- für eine gewisse Zeit nur, aber immerhin- Er war irgendwie dankbar, daß es offensichtlich noch zwei andere Menschen gab, die das Leben in dieser Hinsicht vernünftig sahen. Kiíchigos Blauäugigkeit in dieser Sache ging ihm schon seit langem auf die Nerven.
„Hmm, ähm, Hotáru- san, ich weiß, das ist jetzt ein blöder Vorschlag, und ich kann total verstehen, wenn du ablehnst, aber... äh..." Tsúyu stockte schon wieder und starrte Akári hilfesuchend an, der grinsend den Satz für ihn beendete. „Tsúyu- chan will wissen, ob du bei uns übernachten willst... die Tür kannst du natürlich absperren, also keine Sorge, daß wir dich in der Nacht... hmm, besuchen kommen... nicht wahr?" Offensichtlich amüsierte er sich köstlich.
Hotáru überlegte einen Moment. Warum eigentlich nicht? „Ja, gern, ich muß nur meine Eltern anrufen- mein Vater ist im Augenblick auf einem seiner „Ich sorge für meinen kleinen Sohn" Trips- und ich habe Kiíchigo nichts geschenkt, also hagelt es sowieso wieder Vorwürfe- und morgen ist keine Schule, also, okay, warum nicht... Wenn es keine Umstände macht" fügte er höflich hinzu. Tsúyu lächelte. „Nein, überhaupt nicht. Weißt du, wir haben in letzte Zeit absolut keinen Besuch- und es wäre so nett von dir..."
Akári schnitt beiden eine Grimasse und grinste. „Also, seid ihr euch endlich einig? Pah, schlimmer als Frauen..."
Sein Vater hatte erstaunlicherweise keine Einwände, und so stellte sich Hotáru auf eine Nacht in einer fremden Wohnung ein... eigentlich haßte er fremde Zimmer und fremde Menschen. Aber diesmal schien sogar der sonst so furchterregende Kíngyo richtiggehend menschlich zu sein... und ihre Beziehung erzeugte in ihm ein schrecklich sentimentales Gefühl, fast so, als wäre ihre Liebe die einzige, die noch „ehrlich" war... wenn er sich und Kiíchigo ansah... es war, als wäre ihr Mut der Beweis für die Wahrheit ihrer Zuneigung.
Ach, du liebe Zeit, was dachte er da eigentlich für sentimentale Dummheiten... so ein Unsinn...
„Was ist, sollen wir eine Runde Majan spielen? Darauf hätte ich jetzt irgendwie Lust..." Akári war ein guter Gastgeber, wenn er Lust hatte- er schaffte es, daß sich die Gäste niemals langweilten, und wenn man ihn erst näher kannte und er einen mochte, dann war er auch ein netter Mensch...
„Hotáru- kun, wo bist du mit deinen Gedanken? Magst du Majan nicht?" Freundlich blickte ihn Tsúyu an und lächelte. Anscheinend hatte er sich wieder etwas erholt.
„Äh... doch, aber ich bin nicht gut... überhaupt scheint heute der Vollmond... äh... ist vermutlich eine dumme Idee, aber wir könnten doch kurz mal nach draußen gehen... wenn ihr Lust habt..."
„Klar, warum nicht." Liebevoll grinste Akári in Hachís funkelnde braune Augen, die bewundernd auf den Vollmond geheftet waren. „Ich mag romantische Spaziergänge in der Nacht... obwohl sie nie wirklich romantisch werden..."
„Okay, laß' uns gehen!" Begeistert wie ein kleines Kind war Tsúyu aufgesprungen und fühlte die Blicke der beiden anderen auf sich ruhen. „Was ist?"
„Hmm, Tsúyu, Liebling, ich bin ja der letzte der was gegen dein Outfit hätte, aber die Nachbarn -" Akári lächelte anzüglich, und erst als er an sich hinuntersah, bemerkte Tsúyu, daß er noch immer den – recht freizügigen - Morgenmantel trug.
Schließlich traten sie – nun alle der doch recht kühlen Märznacht angemessen gekleidet – auf den Kiesweg, der direkt vom Hauseingang weg in den weitläufigen Park führte.
„Man kann das Meer riechen, es ist ganz nah" meinte Tsúyu wie ein alter Seemann und reckte die Nase in den Wind. „Als ich klein war, sind Papa und ich total oft an den Strand gegangen und haben Schrott wie Muschelschalen oder Möwenfedern gesammelt. Ein paar Sachen stehen sogar noch in meinem Zimmer Zuhause herum – keiner wirft sie weg, keine Ahnung warum." „Vielleicht bewahren sie deine Eltern als Erinnerung auf" warf Hotáru schüchtern ein. „Sentimentaler Quatsch" entgegnete Akári nüchtern. „Sie wollen die Erinnerung an ein Kind, das es ja doch nie gegeben hat, so wie meine Eltern. Vor Verwandten tun sie immer so, als wären meine Schwester und ich die idealen kleinen Engel gewesen, dabei waren wir zwei ausgemachte Teufel. Aber es ist vielleicht ganz gut so, möglicherweise vergessen sie dann den ganzen Mist, den wir schon produziert haben... „
Hachí lachte. „Ich kann mir vorstellen, daß du ein ziemlich schlimmes Kind warst- jedenfalls seit der Grundschule. Ich weiß noch, wie dich sogar einmal der Lehrer gerügt hat, weil du so vielen Mädchen das Herz gebrochen hast- und damals warst du erst zwölf..."
Akári wurde rot und kratzte sich am Kopf. „Ja, das ist wohl mein Markenzeichen..."
„Angeber!" „Pah, ich weiß noch, als ich 17 war, und wir beide einen ziemlich schlimmen Streit hatten- wir haben uns im Shíba- Park geprügelt, und gerade als ich dir eine runtergehauen hatte, ist mir klar geworden, wie hübsch du eigentlich bist..."
„Ach, deshalb bist du damals so schnell gegangen- ich habe mich schon gewundert..." versetzte Tsúyu grinsend und schmiegte sich an ihn. „Ich konnte nämlich noch laufen und aus beiden Augen sehen- ich dachte damals schon, du wärst krank..."
Sein Lächeln wurde nachdenklicher. „Ich glaube, bei mir war es so ziemlich um die gleiche Zeit- du weißt es nicht, aber damals habe ich einmal gesehen, wie du so eine kleine Katze von einem Baum geholt hast und sie vorsichtig auf den Boden gesetzt hast- dein Lächeln, als du ihren Kopf gestreichelt hast, war ganz anders als sonst..."
„Also konntet ihr euch beide leiden und habt trotzdem weiter herumgestritten?" Hotáru war völlig gebannt von der Erzählung und vergaß jegliche Zurückhaltung.
„Ja, klar... also, irgendwie schon... der Valentinstag war irgendwie der ausschlaggebende Faktor... auf eine kranke Art und Weise haben wir es ja schon beide gewußt, und deshalb -"
„- Haben wir uns beide ohne Wenn und Aber aufeinandergestürzt" vollendete Kíngyo ohne eine Spur von Verlegenheit zu zeigen. „Die Zeit war einfach reif."
Hotáru betrachtete beide verwundert und mußte plötzlich grinsen. „Ihr... ihr seid irgendwie total krank – das war ja wie ein- abgekartetes Spiel..."
Akári grinste spöttisch. „Naja, es gibt eben keine Zufälle... und wir dachten uns beide, ist doch sinnlos, wenn du dich ewig sträubst und hin- und herwindest... das Leben ist viel zu kurz, um vor der Wahrheit davonzulaufen... und irgendwie passiert es ja dann doch immer."
Hachí lächelte ihn zärtlich an. „Los, der Mond scheint so schön... gib mir einen Kuß..."
„Mit Vergnügen..." Akáris rote Augen leuchteten liebevoll, als er sich zu seinem Liebhaber beugte und ihm einen langen Kuß auf die Lippen drückte. Hotáru drehte sich taktvoll um und wanderte ein paar Schritte allein den silberhell erleuchteten Pfad entlang. Diese Nacht hatte etwas verzaubertes an sich... es war eine Nacht, in der er am liebsten Flügel gehabt hätte. Ach, wenn er nur in einem Märchen leben könnte...
Kaum ein Laut störte die Stille. Es war erstaunlich warm für diese Jahreszeit, und er stellte sich vor, wie es hier im Sommer sein mußte... dieser Park strömte Ruhe und Frieden aus. Er war wirklich froh, daß er sich dazu entschieden hatte, hierzubleiben... es waren Erlebnisse wie diese, für die man lebte. Was ist Glück, dachte er, während er den Weg entlangschlenderte. Für heute ist Glück die Tatsache, daß es Momente wie diese gibt.
„Hotáru- san, wir gehen schon mal nach oben, ja? Wenn du noch eine Weile hierbleiben willst, hier ist der Zweitschlüssel." Tsúyu hielt Kíngyo fest umschlungen und drückte ihm den Schlüssel in die Hand. Er nickte. „Ich komme später, okay?"
„Du schläfst in Akáris Zimmer, du weißt doch noch, welches das war, oder? Sonst – "
„Nein, keine Sorge, das finde ich schon." Hotáru grinste verschmitzt. „Ich will euch ja nicht stören..."
Überraschend fiel ihm Tsúyu um den Hals. „Wer dein Freund ist, kann sich glücklich schätzen, weißt du das eigentlich?" flüsterte er ihm ins Ohr. „Sieh zu, daß du so bleibst, wie du bist... dann bekommst du auch, was du dir wirklich wünscht."
Hotáru war völlig überrumpelt und blieb wortlos stehen. Das war jetzt wohl so ziemlich das erste Mal seit zwei Jahren, daß ihm jemand gesagt hatte, er wäre als Freund etwas wert.
„Öh... Senpai... ich – das ist ja gar nicht so – " „Doch, doch" flüsterte Tsúyu und richtete sich auf. „Das kannst du mir gerne glauben..."
Arm in Arm mit Kíngyo verschwand er schließlich zwischen den Bäumen und ließ einen recht verwirrten Hotáru zurück, dem sich plötzlich die Erinnerung an eine Dezembernacht aufdrängte – wie hilfsbereit Ryoki- kun gewesen war... Hastig schüttelte er den Kopf und verdrängte solche Gedanken. Unsinn. Ryoki war doch wie alle anderen auch- abgesehen davon, daß er ihn noch weniger leiden konnte als der Rest.
Der Mond ließ die Welt noch immer silbern schimmern, aber er bemerkte es nicht mehr. Wenn man so darüber nachdachte, hatte er in diesen zwei Jahren Menschen kennengelernt, die ihm mehr bedeuteten als er sich selbst... und zwei davon hatte er schon für immer verloren... allen voran natürlich Yún. Es tat immer noch schrecklich weh, an sie zu denken- über sie sprechen konnte er nicht. Wie eine schwärende Wunde war die Erinnerung an sie noch frisch und schmerzhaft. Und dann – Nanda Sein Sanda, das Mädchen an diesem Nudelstand – ob ihr Vater noch immer an der Pagode baute? „Lindere meinen Kummer". Er hatte ihre Bude zwar gesucht, aber nicht mehr wiedergefunden.
Und dann natürlich Senpai Hachí – der sogar den Mut hatte, die Verachtung und Feindseligkeit aller auf sich zu nehmen, nur um mit Kíngyo zusammenzusein – mit einem der Menschen, von denen er immer gedacht hatte, daß sie eher Steine statt Herzen in ihrer Brust trugen. Schon seltsam...
Langsam wurde es unangenehm kühl, und so beschloß er, wieder nach oben zu gehen. Abgesehen davon wurde er langsam müde und wünschte sich in ein weiches Bett.
In der Wohnung war es zum Glück ruhig – es wäre ziemlich peinlich gewesen, wenn man etwas gehört hätte – solche Dinge haßte er am meisten. Dann hätte er nicht mehr gewußt, wie er beiden in die Augen sehen sollte.
Einer von ihnen hatte ihm umsichtig einen Schlafanzug auf den gerichteten Futón gelegt, wofür er sehr dankbar war.
In dieser Wohnung herrschte eine sanfte Atmosphäre- er war nur dankbar, daß keiner seine momentanen Gedanken lesen konnte. Das wäre mehr als peinlich- gerade jetzt, wo er auf der sentimentalen Welle ritt.
Kíngyos Zimmer wirkte völlig gegensätzlich zu dem Eindruck, den sein Bewohner machte – er hätte von ihm eher erwartet, daß überall Pokale und Trophäen herumstanden um auf seine Erfolge hinzuweisen, oder ähnliches... aber dieser Raum wirkte sehr ruhig und viel reifer, als er erwartet hätte. Kíngyo schien eine Vorliebe für chinesische Kunst zu haben – Hotáru bemerkte kleine Statuen und ein paar Zeichnungen an der Wand. Sonst war das Zimmer, wie auch der Rest der Wohnung, in vorwiegend ruhigen, dunklen Farben gehalten.
Gerade als er mit nassen Haaren aus dem Bad trat, begegnete ihm Kíngyo, der rätselhaft lächelte. „Schon wieder da? Der Mond ist wunderschön heute, nicht wahr?"
Hotáru murmelte etwas Zusammenhangloses und wurde rot. Trotz- und alledem hatte er immer noch ziemliche Angst vor ihm. Womöglich hatte er ihn verärgert, und Kíngyo wollte es ihm jetzt heimzahlen...
„Stört es dich, wenn ich mich setze?" Noch während der Frage ließ sich Akári auf den Futón fallen und streckte die Beine aus. „Tsú- chan schläft jetzt... ich wollte noch einmal mit dir reden..."
„Habe... habe ich... wenn ich etwas falsch gemacht habe, tut es mir leid, ich konnte ja nicht wissen..." „Nein, darum geht es nicht. Du hast nichts falsch gemacht..." Akári starrte an die Decke „Ich glaube sogar, dass du ihm heute eine ziemliche Freude gemacht hast, als du uns nicht wie Aussätzige behandelt hast- das hat ihm gut getan. In letzter Zeit laufen die Dinge für uns beide nicht besonders... und wie ich meine Alten kenne, schleppen die mich garantiert zu einem Psychiater, wenn sie erst mal wissen, was los ist... „
„Senpai Hachí sieht sehr schlecht aus.." wagte Hotáru schüchtern einzuwerfen. „Ist er krank?"
„Hmm... so könnte man es nennen, ja..." Akári starrte ihn aus durchdringenden roten Augen an. „Seit er aus der Mannschaft- naja, nennen wir es „in Ehren entlassen" wurde, fühlt er sich miserabel- und das schlägt sich natürlich auf seinen Gesundheitszustand nieder. Und das er jetzt von allen im Stich gelassen wird, ist da natürlich auch nicht hilfreich- du verstehst."
„Aber solche Gerüchte- also, direkt über euch beide ist eigentlich noch nichts zu hören..." „Das ist nur eine Frage der Zeit." Kíngyo steckte sich eine Zigarette an. „Du rauchst ja nicht, oder? Also, kein Wunder, daß über uns beide noch nichts zu hören ist. Bei meinen Frauengeschichten ist das ja kaum vorstellbar- und Hachí traut das auch keiner zu. Aber dafür kursieren noch schlimmere Geschichten. Auf der Uni kriegen wir jetzt immer einen Platz – die tun alle so, als wäre die Luft um uns verpestet. Hat auch Vorteile – in der Vorlesung kriegen wir mehr mit als früher."
„Das tut mir leid." Hotáru hatte den Mut, ihm direkt in die Augen zu blicken. „Vorher wollte jeder Hilfe von Hachí- kun und dir, und jetzt – „
„Ist eben nicht zu ändern. Aber was ich dir eigentlich sagen wollte –" Akári zog an seiner Zigarette und schaute ihn nicht an „Ich... ich will mich entschuldigen... die Sache mit deinem Knöchel – " „Ach, schon gut- da war sowieso nichts mehr zu machen, das ist -"
„Ich war irgendwie – richtig eifersüchtig auf dich – wenn ich Tsúyu zuhören mußte, wie er dein Talent gelobt hat – und dann – als du mir gesagt hast, du wärst bereit alles, aber auch wirklich alles zu tun, damit wir gewinnen könnten – da war mir klar, daß Tsúyu immer Recht gehabt hatte, und ich wurde noch wütender... und jetzt tut es mir leid, jetzt, wo es zu spät ist.." Er hatte alles ruckartig hervorgepreßt und schien direkt erleichtert. „Tsú- chan hat das Richtige in dir gesehen – aber es mußte wohl so kommen. Und ich bin Mitschuld an allem. Aber – Tsúyu hält so viel von dir – das war – wie... als ob du ihn bekommen könntest und ich... ich bin ein ekelhafter eifersüchtiger Mistkerl, und ich kann verstehen, wenn du mich haßt..." Ruckartig erhob er sich und eilte aus dem Zimmer. Hotáru gewann den kurzen Eindruck, daß seine Schultern leicht bebten.
„Gute Nacht" sagte er leise in den Raum, als Akári schon längst verschwunden war.
