15. Kapitel
MondlichtDunkelheit senkte sich über das provisorische Lager, dass von den Pfadfindern auf der Lichtung aufgebaut worden war. Eigentlich war es nicht viel mehr als eine Kochstelle, da sich zum Glück im oberen Teil des Amphibienfahrzeugs Stockbetten befanden. Ein wirklich nützliches Fahrzeug; es war für den Landaufenthalt in Tomakomai gedacht gewesen.
Im Inneren langweilte sich gerade die gesamte Gruppe, ausgenommen Hōtáru und Watarí, die mit rauchenden Köpfen über ihre Karten gebeugt in einer Ecke saßen und sich die Art und Weise, sich nach den Sternen zu orientieren, in ihre Gedächtnisse zurückzurufen versuchten.
„Das hier ist Corvus... und das hier das Sternbild der Andromeda..." „Du irrst dich, das kann nicht sein... zeig' mal her..." „Cassiopeia... Sagittarius... hier ist – "
Durch ihr dumpfes Gemurmel wurden die anderen rasch müde. Káshira bemerkte es und sprang auf die Beine. „Los, ihr Schlafmützen! Bald geht der Mond auf, und dann wissen wir endlich, wo wir sind..."
Aufgeregt drängelte die Gruppe, durch die Worte wieder etwas munterer, aus der Tür und stellte sich auf den Platz vor dem Wagen. Mit bleichen Gesichtern und einem unangenehmen Gefühl im Magen bezogen schlussendlich auch Hōtáru und Watarí Stellung. Gleich würde der Mond aufgehen...
„Hey, was ist denn das alles auf der Karte da?" Káshira hatte sich hinter Hōtáru geschlichen und linste neugierig über seine Schulter. „Kapier' ich nicht..."
Nicht so unfreundlich, wie er eigentlich vorgehabt hatte, wandte Hōtáru seinen Kopf zur Seite und zeigte ihm eine der Karten. „Hier, die nördliche Hemisphäre. Mit Hilfe der Sternbilder können wir zuerst einmal erkennen, auf welcher Seite der Erde wir uns überhaupt befinden. Wäre schon mal eine Hilfe. Hier – Andromeda, Pegasus – " sein Finger glitt weiter über das Papier. Káshira beobachtete ihn fasziniert. „Cassiopeia, Draco, Ursa minor – "
"Interessant, ehrlich…" "Der Mond geht auf!" Haná war begeistert und hüpfte auf und ab. „Heute ist sogar Vollmond, toll! Da kann man alles sehen, als wäre es mitten am Tag..."
Wie gebannt beobachteten alle die funkelnde Scheibe, die langsam über den Himmel zu wandern begann. Hōtáru senkte kurz den Blick, um noch einmal seine Karten zu prüfen, aber als er wieder den Mond betrachtete –
Es war nicht mehr „ein Vollmond", sondern zwei. Für eine Sekunde hätte man sogar eine Stecknadel auf den lehmigen Boden fallen hören können.
Hōtáru ließ seine nutzlosen Papiere fallen und trat vor lauter ungläubigem Schreck einen Schritt zurück, wobei er seinen Fuß ausgesprochen ungeschickt bewegte. Ein lautes Knacken ertönte, und wenn Káshira nicht zufällig hinter ihm gestanden und ihn aus Reflex aufgefangen hätte, wäre er längelangs auf die Erde geknallte. Beide saßen auf dem Boden, wobei ihn Káshira nicht losließ.
Den Schmerz fühlte er nicht einmal. Monde. Zwei Monde. Entweder, er wurde verrückt, oder sie befanden sich nicht mehr – okay, er wurde langsam verrückt.
„Siehst du, was ich sehe?" murmelte ihm Káshira leise und ungläubig ins Ohr. „Ist das irgendein kranker Scherz oder so? Oder sind wir in einer Show?" Er stöhnte. „Vielleicht sollte ich auch nur eingeliefert werden..."
„Du siehst sie auch?" Mehr fiel Hōtáru nicht ein. Das war auch nicht nötig. Nach Momenten der Stille begannen sich die Pfadfinder zu regen.
„Was soll das?" „Ich will heim!" „Das muß eine Fernsehsendung sein!" „Mama!!"
Haná begann lauthals zu heulen, während Hiyokó stumm die Tränen über die Wangen flossen. Kamomé schien ihren Augen nicht zu trauen und starrte mit zusammengepressten Lippen in den Himmel, als ob sie dort die Lösung des Problems finden könnte.
Kagamí hingegen wirkte mehr interessiert als beunruhigt. Zwar waren auch seine Augen weit aufgerissen, dennoch spielte ein leichtes Lächeln um seine Mundwinkel.
Auch die Zwillinge begannen, eng aneinandergeklammert, lauthals zu schluchzen. Der Rest starrte sprachlos zu den Monden oder begann sinnlose Worte vor sich hin zu murmeln.
„Komm", flüsterte Káshira nach einer Weile leise in Hōtáru's Ohr. „Ich verbinde deinen Knöchel." Hōtáru warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Schon gut, ich – "
Ohne jedoch auf seinen Einwurf zu achten, erhob sich Káshira hastig und packte seinen Arm, um ihn zu stützen. „So wie das geklungen hat, muß er sehr weh tun..."
Sein Gesicht war sehr blaß, und er wirkte abwesend. Vermutlich, so dachte Hōtáru benommen, sah er selber nicht viel besser aus. „Warte, ich will gleich schlafen gehen. Hier war doch irgendwo ein Fluß oder so was, oder? Schon gut, du musst mir nicht – "
„Der Wald hier könnte gefährlich sein. Alles könnte gefährlich sein. Ich begleite dich."
Káshira wirkte entschlossen und durch seine Blässe richtiggehend unheimlich. Hōtáru schien es, als würde er ihn durch eine transparente Wand beobachten. Er war soweit weg...
„Bleib' du hier, ich hole dein Zeug." Káshira riss ihn plötzlich aus seinen Gedanken und ließ ihn auf den Boden der Lichtung gleiten. „Du siehst ganz furchtbar aus."
Hōtáru war erstaunt. Er fühlte sich nicht schlecht – nur sehr, sehr müde. Und seine Gedanken flossen zäh wie Nebel, als müssten sie zuerst durch eine Wand aus Watte. Seinen Knöchel fühlte er nicht. Da tat eigentlich gar nichts weh.
„Bin wieder da." Káshira hebelte ihn wieder hoch und hakte sich unter. „Soll ich dich tragen?" „Mir fehlt nichts." „Sei nicht so stur, ist doch nichts dabei." „Mir geht es wirklich gut. Du solltest lieber zu den anderen gehen. Die – " „Ich kümmere dich jetzt um dich. Abgesehen davon hast du deine Karten fallen lassen." „Ist doch sowieso egal." Zu seiner eigenen Überraschung lachte er bitter. „Das war doch klar, dass unser „toller Plan" nichts wert ist, oder? Ist das nicht immer so?" „Was meinst du?" Káshira warf ihm einen seltsamen Blick zu. „Es war eine gute Idee." „Aber eine nutzlose", warf Hōtáru ruhig und eigenartig zufrieden ein. „Ist immer dasselbe. Ich glaube, in meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas richtig gemacht. Allen bin ich nur ein Klotz am Bein – "
„Jetzt tust du dir selber leid." „Und wenn schon. Lieber tue ich mir selber leid, als das ich daran denke, was aus unserem Ausflug geworden ist. Und das alles nur deshalb, weil ich zu blöd zum Steuern bin – " Klatsch. Káshira rieb sich den Handrücken, und Hōtáru betastete vorsichtig seine Wange. Das gab morgen sicher einen blauen Fleck. „Und jetzt sei endlich still. Wenn du noch einmal so was von dir gibst, dann kannst du mit ein paar ausgeschlagenen Zähnen rechnen." „Hier gibt es doch sicher nicht mal einen Zahnarzt." Plötzlich musste er aus einem unerfindlichen Grund lachen, bis er nicht mehr konnte, obwohl das gar nicht lustig war... Káshira betrachtete ihn eine Weile mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen Angst, Zorn und Mitleid angesiedelt war und fiel ihm unerwarteterweise um den Hals. „Oh, sei still... sei still..." Seine kräftigen Schultern begannen leicht zu beben, und Hōtáru fragte sich erstaunt, ob Káshira wohl weinte. Er legte vorsichtig eine Hand auf seinen Rücken und tätschelte ihn unsicher. Sagen konnte er nichts. Sachen wie „Wird schon wieder" „Alles wird gut" und Ähnliches passten wirklich nicht zu ihrer derzeitigen Situation. Der Nachmittag fiel ihm wieder ein –
„Hey, morgen gehen wir zu eurem Dorf, oder der Stadt, oder was immer ihr von da oben gesehen habt. Wo immer wir auch sind, es gibt hier Menschen – es kann nicht so schlimm sein – "
Káshira blieb noch eine Weile in der Umarmung und löste sich dann heftig. In seinen dunklen Augen glitzerten noch einige Tränen. „Wenn du das hier irgend jemandem erzählst, dann..."
Seine Stimme klang rauh und verlegen. Hōtáru senkte den Blick und zupfte leicht an seinen Haarspitzen. „Keine Sorge." „Wirklich niemandem, Suigín!" „Ehrenwort." „Gut."
Ohne ihn anzusehen, half ihm Káshira wieder auf die Beine.
Nach seiner Ohrfeige hatte Hōtáru das Gleichgewicht verloren und war wieder auf unfreiwillige Tuchfühlung mit der schweren Erde gegangen.
„Dein Kragen ist ganz feucht. Blutest du?" „Nein, das kommt von vorhin. Da fällt mir ein – " Mit einer Hand zog er den Streifen Verbandszeug von seinem Kopf und zog das Pflaster ab. „War sowieso bloß ein dummer Kratzer."
Nach einigen Metern erreichten sie endlich den kleinen Fluß. Glücklicherweise lag er nahe an der Lichtung und wirkte jedenfalls im Schein der Monde sehr ruhig und klar.
Hōtáru hockte sich hin und streifte seine Schuhe ab. Dann wandte er sich ziemlich verlegen an Káshira. „Ähm, würde es dich stören, wenn du – äh, ein kleines Stück weggehst? Oder – "
„Soll ich mich umdrehen?" Er grinste. „Aber dann darfst du auch nicht hersehen, okay?" Káshira knöpfte, immer noch grinsend, sein Hemd auf und legte es auf die Erde. „Ich werde jetzt auch besser schlafen gehen. Da leiste ich dir gleich Gesellschaft – "
Hōtáru fühlte, wie sein Gesicht immer röter wurde. Gemeinschaftsbäder hasste er wie die Pest.
Das Wasser war angenehm lauwarm und offensichtlich süß. Káshira probierte ein bisschen davon und fühlte einen Stein von seinem Herzen rollen. Wenigstens verdursten würden sie nicht. Vielleicht gab es ja doch einen Ausweg aus diesem Dilemma.
Etwas entspannter drehte er den Kopf, um den Fluß und seine Umgebung zu betrachten, dabei geriet Hōtáru in sein Blickfeld. Er war gerade untergetaucht, und jetzt fielen seine tropfnassen blonden Haare über sein Gesicht, was ihm das Aussehen eines kleinen Kätzchens gab. Wider Willen musste Káshira beinahe zärtlich lächeln. Hōtáru bemerkte es. „Was ist, habe ich einen Käfer im Gesicht?" „Nein, nichts weiter. Hey, ich habe etwas entdeckt, hier – " Neben dem Ufer wuchsen einige Pflanzen. Káshira rupfte eine davon aus und hielt sie Hōtáru hin. „Sieht aus wie Seifenkraut..." „Was ist das?" „Hab' ich von meinem Vater gelernt – der steht auf Überlebenstraining und so was. Und das da sieht aus wie Seifenkraut, damit kann man sich waschen. Mit der Wurzel jedenfalls, denke ich, die schäumt, wenn man sie ins Wasser hält." Hōtáru wirkte plötzlich aufmerksam und etwas misstrauisch. „Káshira... soweit ich weiß, gab es im Jura keine Blütenpflanzen. Die traten erst in der Kreidezeit auf. Und der Allosaurus war ein Dinosaurier des Jura, da bin ich mir sicher. Und Mángetsu hat das selbe gesagt, und der Kleine kennt sich auf dem Gebiet ziemlich gut aus, glaube ich. Vielleicht..."
„Da leuchten zwei Monde am Himmel." Káshira verschränkte die Arme und biss sich auf die Lippen. „Wenn wir irgendwo auf einem – okay, ich weiß, wie blöd das klingt, aber trotzdem – fremden Planeten oder so gestrandet sind, wie auch immer das geschehen ist, vielleicht durch das Gewitter – also, wer weiß, ob die Grenzen nicht leicht verwischt sind? Die Evolution ist sowieso erstaunlich ähnlich, hier und auf der Erde. Und Menschen brauchen Blütenpflanzen, da bin ich mir sicher. Man muß etwas essen und so."
„Ja, du hast recht", meinte Hōtáru leise und nahm ihm die Pflanze aus der Hand. „In der Vergangenheit sind wir jedenfalls nicht, was uns die Stadt aus der Ferne beweist. Schade. Aber vielleicht können wir irgendwie zurück – schließlich sind wir auch hergekommen..."
Káshira griff nach hinten und förderte ein Stück Seife zutage. „Hier, nimm das, ich habe keine Ahnung, wie man mit dem Kraut umgeht. Das können wir vielleicht Aranámi fragen, die weiß über solche Dinge sicher Bescheid. Und dann sehe ich mir deinen Knöchel an. Und deine Jacke kannst du mir auch gleich geben, ich wasche sie aus..."
Hōtáru wurde rot. „Das ist doch nicht nötig, morgen mache ich das schon selber..."
„Nein, bitte laß' mich das machen, okay? Arbeit beruhigt mich immer, und ich fühle mich heute nicht so besonders."
Während Hōtáru seinen Körper einseifte, machte sich Káshira eifrig daran, die Blutflecken aus dem Uniformkragen zu entfernen. Während sich seine Hände bewegten, schweiften seine Gedanken ab. Eigentlich drehten sie sich immer wieder nur um eine einzige Sache.
„Wie sind wir bloß hierher gekommen? Und wie kommen wir hier wieder weg?" Beide Fragen platzten nahezu verzweifelt aus ihm heraus, noch bevor er sie aufhalten konnte.
Hōtáru wandte sich ihm zu, noch einen Schaumtupfen auf der Wange. „Ich weiß nicht... das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Wir müssen zuerst mal sehen, ob und welche Menschen es hier gibt. Dann können wir sicher etwas über unser Problem erfahren."
„Ich will nach Hause." Verbissen senkte Káshira nach diesen Worten den Kopf und beugte sich wieder über seine Arbeit. „Ich mache mir Sorgen um Kitsuné. Er kommt alleine so schwer zurecht..." Hōtáru lehnte sich nach hinten gegen einen Uferstein und verfolgte den Weg einiger Schaumberge, die flussabwärts trieben und sich langsam im Wasser auflösten.
„Um Kitsuné und Kiíchigo muß ich mich besonders kümmern. Ich habe es meinen Eltern versprochen – sie müssen gesund nach Hause, um jeden Preis."
„Jeden Preis? Wo ist die Grenze?" Káshira warf ihm einen fragenden und gleichzeitig leicht spöttischen Blick zu. „Die Grenze liegt in den Grenzen meiner Kraft." Wider Willen war Káshira von dieser entschlossenen Antwort beeindruckt und bemühte sich eilig, es mit Spott zu überspielen.
„Na, Selbsterhaltungstrieb wirst du ja wohl noch haben." „Mein Versprechen zählt mehr als das." Ruhig kämmte Hōtáru seine schulterlangen, blonden Haare mit den Fingern durch, um etwaige Knoten zu entfernen, während er leise diese Antwort gab. Für ihn war dieser Punkt völlig klar und selbstverständlich; deshalb überraschte ihn Káshira's ärgerlicher Ausruf. „Ach ja, du Idiot? Würdest du denn für jemand anderen auch sterben, hä?"
„Natürlich." Kühl richtete sich der blonde Junge auf und begann langsam, sich abzutrocknen, während Káshira von der Einfachheit der Antwort für einige Sekunden lang verblüfft sprachlos war. Dann allerdings setzte er ein ärgerliches Grinsen auf und begann die Jacke auszuwringen. „Ja, ja, da spricht unser kleiner Held, der als einziger von uns allen die wahre Größe besitzt, sich selbst opfern zu wollen... Wie können wir nur die Nähe eines solch edelmütigen Geistes ertragen..." Mit seiner Stimme hätte man durch zentimeterdickes Metall ätzen können. Hōtáru zuckte allerdings lediglich leidenschaftslos mit den Achseln. „Glaub' doch, was du willst." Auch Káshira trocknete sich hastig ab und begann sich ebenso wie Hōtáru in seinen Schlafanzug zu zwängen. Während er damit beschäftigt war, riskierte er einen Seitenblick zu ihm. Die ruhige Miene, die sich ihm so im Profil darbot, ärgerte ihn unbewusst und stachelte an, noch mehr Dampf abzulassen, was er dann allerdings doch sein ließ. Hōtáru stand sehr unsicher und mit einem gequälten Ausdruck in den Augen auf seinem linken Bein; die dunkle Narbe hob sich selbst im fahlen Mondschein scharf von seiner ungewöhnlich weißen Haut ab. Káshira merkte erst jetzt, wie lange sie eigentlich war. Kurz entschlossen ging er auf ihn zu und nahm ihm den Kleiderberg ab. „Sieh' lieber zu, dass du zum Fahrzeug kommst. Den Kram hier nehme ich." „Ich kann das gut selber tragen. Danke, aber – " „Du kannst ja kaum gehen." Káshira hatte es eigentlich nicht böse gemeint, aber Hōtáru sah dennoch rot. „Was bildest du dir eigentlich ein? Ich kann auf dein falsches Mitleid gerne verzichten! Nerv' doch jemand an – " Klatsch. Wieder hatte ihm Káshira etwas ins Gesicht geschlagen; diesmal war es sein eigenes, nasses Hemd. „Wenn du unbedingt etwas tragen musst, dann nimm' das hier! Wenn ich darauf warten muß, bis du mit dem Zeug den Wagen erreichst, dann wird es übermorgen! Also sei gefälligst nicht so stur!" Verletzt schloss Hōtáru daraufhin den Mund und beschloss zu schweigen. Wie nett von Káshira, ihm mit er Holzhammermethode beizubringen, dass er eine lahme, watschelnde Ente war.
Schweigend erreichten sie das Fahrzeug und stiegen ein. Unter der Treppe, die zu den beiden Schlafräumen führte, streiften sie die Géta, welche sie für den lehmigen Weg zum Fluß benutzt hatten, ab und schlüpften in die Suríppā, die neben ihren gewöhnlichen Schuhen standen. Káshira bemühte sich, die eisige Atmosphäre etwas aufzulockern. „Hey, jeder hat hier drei Paar Schuhe, ist das nicht krankt? So viele..." Er lächelte schwach. Hōtáru warf ihm lediglich einen beleidigten Blick zu und schwieg beharrlich weiter. Sollte Ryōki doch sehen, wie er zurecht kam. „Ich brauche deine Hilfe nicht, danke", ließ er am Ende der Treppe kalt hören und wies mit ausdruckslosen, eiskalten Augen zur Tür. „Du hast sicher Besseres zu tun, als deine Zeit mit einem halben Krüppel wie mir zu verschwenden."
„Streitet ihr?" Beide wandten überrascht die Köpfe und bemerkten jetzt erst Kitsuné, der sich in seinem Bett verkrochen hatte. Er wirkte blaß, sehr erschöpft und den Tränen nahe. Hōtáru musterte ihn besorgt. „Komm her, Kitsuné. Warst du schon beim Fluß?" Der Kleine erhob sich und wanderte zu seinem Bett. „Ja, aber dann sind schon die anderen gekommen- ich war hinter einem großen Stein, da haben sie mich nicht bemerkt." Er zögerte kurz. „Zum Glück." „Was ist los? Hast du dich gestritten?" Hōtáru blickte seinem Bruder aufmerksam in die Augen. „War jemand nicht nett zu dir?"
„Nein, doch, ich- „ Plötzlich löste sich all seine Zurückhaltung in Nichts auf und er begann jämmerlich zu weinen. „Wir können nicht nach Hause, weil hier zwei Monde sind- weil wir nicht wissen, wie es geht- und Aya- in zwei Wochen kommt ein neues Spiel auf den Markt- und – Mama..." Von heftigem Schluchzen geschüttelt ließ er ausnahmsweise zu, das ihn Hōtáru an sich zog und ihm tröstend über den Kopf strich. Mittlerweile hatte Káshira den Erste- Hilfe Kasten geplündert und packte resolut seinen linken Fuß. Als Hōtáru etwas sagen wollte, legte er den Zeigefinger auf seine Lippen und schüttelte den Kopf. „Shhh... Nicht reden, hilf ihm lieber." Als Hōtáru sich daraufhin zwar ärgerlich, aber doch, von ihm ab- und seinem Bruder zuwandte, grinste er beinahe fröhlich vor sich hin. Suigín konnte machen, was er wollte- das letzte Wort hatte immer noch er.
„So, fertig..." summte er munter vor sich hin, als er den Verband fixiert hatte und Hōtáru's
Knöchel wieder losließ.
Kitsuné hatte sich inzwischen etwas beruhigt und wischte sich mit seinem Unterarm die letzten Tränen aus dem Gesicht. „Ich gehe jetzt schlafen." „Okay, und keine Sorgen mehr, ja? Wir finden schon eine Lösung, versprochen." Hōtáru tätschelte ihm noch einmal auf den Kopf und sah ihm nach, wie er zu seinem Stockbett wankte. Dann drehte er sich wieder um und musterte Káshira, der immer noch vor ihm hockte, halb düster, halb verlegen. „Danke, aber das wäre nicht nötig gewesen." verkündete er steif. Obwohl das Gelenk langsam anfing, höllisch zu schmerzen, blieb er stur. „Mir fehlt ja eigentlich gar nichts."
„Oh, natürlich nicht.", antwortete Káshira rätselhaft lächelnd und erhob sich, nachdem er ihm noch eine Haarsträhne aus dem Gesicht gewischt hatte. „Gute Nacht, und träum' was Schönes..." Immer noch lächelnd machte er sich auf den Weg zu seiner Koje und kletterte die kleine Leiter nach oben.
„Hmm... Gute Nacht." Hōtáru war schon wieder rot geworden und ärgerte sich darüber über alle Maßen. Verlegen kuschelte er sich in die Decke und schloss die Augen.
Nach und nach trudelte auch der Rest der Pfadfinder ein. Keiner sprach viel; die Ereignisse des Tages hatten sie verwirrt, erschöpft und verängstigt. Daran, dass sie sich auf einem fremden Planeten befanden, auf dem Dinosaurier herumliefen, wollte keiner denken. Das alles mußte portionsweise verarbeitet werden und würde einiges an Zeit in Anspruch nehmen. Nach einer kurzen Weile lagen alle in ihren Betten und schwiegen. Niemand hatte nach diesem Tag noch Lust, viel zu reden. Morgen würden sie weitersehen.
Auch im kleinen Mädchenschlafraum, der durch eine dünne Holzwand, die man zur Seite schieben konnte, wenn man nach draußen wollte, war es schon ruhig geworden. Die kleinen Nachttischlampen, die hinter jedem Kopfteil einer Koje in der Wand integriert worden waren, waren bereits erloschen und glühten noch schwach vor sich hin. Lediglich Kamomé blätterte im Schein einer kleinen Taschenlampe in einem Buch. Kiíchigo bemerkte es und ärgerte sich plötzlich maßlos. „Hey, Aranámi! Kannst du nicht einmal aufhören, so eine ekelhafte Streberin zu sein? Da wird einem ja schlecht!" Kamomé machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Das wurde bereits durch Tókui für sie erledigt. „Also ehrlich, Kiíchigo, laß Kamomé doch in Ruhe. Sie und Mángetsu sind die Einzigen, die uns in der Situation hier helfen können. Abgesehen davon sollten wir jetzt schlafen. Es war ein harter Tag." Ohne lange zu diskutieren hatte sie somit den drohenden Streit erstickt. Unzufrieden vor sich hinmurmelnd drehte sich Kiíchigo schließlich um und schloss missvergnügt, aber folgsam die Augen. So kehrte zu guter Letzt auch in der Mädchenabteilung endgültig Stille ein.
