22. Kapitel
Gewagte FluchtHotáru rannte so schnell er nur konnte durch die verwinkelten Gassen. Er musste Káshira finden, bevor die Soldaten es taten. Wenn er nur wüsste, wo er sich jetzt befand! Sankhya war so riesig. Und er war nur allein.
Sein Herz hämmerte wie verrückt, als er in eine dunkle Seitengasse einbog, in der sich mehrere Hafenkneipen befanden, und mit einem jungen Mann zusammenstieß, der sich nach einer hastig gemurmelten Entschuldigung wieder aufrappelte und eilig in der pechschwarzen Nacht verschwand.
„So, so, ich hatte also recht. Du bist einer von denen, die von Mosar gesucht werden." Das Mädchen, welches, soweit Káshira in der Dunkelheit überhaupt etwas erkennen konnte, zu einem Knoten gewundene violette Haare besaß, lächelte zufrieden und steckte das leicht gekrümmte Schwert wieder in die lederne Scheide zurück. „So, die Frage ist jetzt, was machen wir mit dir? Ich könnte dich natürlich zu Mosar bringen..." Sie grinste boshaft und wiegte den Kopf unschlüssig hin und her. „Aber dann würde ich dem König einen Gefallen tun, und das muß ja auch nicht unbedingt sein." Plötzlich wurde Káshira von einem kleinen Schatten, der über das Hausdach zu ihnen huschte, abgelenkt. „Hey, da – da kommt was auf uns zu!" Die junge Frau starrte ihn erstaunt an und rührte sich um keinen Millimeter von der Stelle. „Hä? Was meinst du?" „WAAH!" Der dunkle Schemen hatte die Frau nun ganz erreicht und segelte mit einem heftigen Sprung auf ihre Schulter. „Uh..." Káshira wollte nicht hinsehen und schlug die Arme vor sein Gesicht. Als er weder Todes – noch Kampfschreie hörte, wagte er es wieder, seine Augen zu öffnen. Die Szene, die er nun vor sich sah, war mehr als skurril. Das junge Mädchen kicherte und gab dem kleinen Saurier, der es sich auf ihrer linken Schulter bequem gemacht hatte, einen kleinen Klaps auf die Schnauze. „Lóng, wo um alles in der Welt warst du denn nur, hmm, du fauler Bursche? Jetzt hat so ein Ahimsa- Kerl doch glatt diesen dämlichen Trottel Huǒjù beklaut... wir hätten besser auf ihn achten sollen..." „Ähm... k... kann ich jetzt gehen, bitte?" Káshira stand der Angstschweiß auf der Stirne, als er den kalten Augen des kleinen Raubsauriers begegnete, die ihn interessiert zu mustern schienen. „Wo willst du denn hin, kleiner Gejagter? Zwei Meter weiter, und die Soldaten fangen dich. Hast du nicht bemerkt, dass seit unserem kleinen Gespräch immer und immer mehr von denen hier in die Gassen gequollen sind?" „Ja, aber – was soll ich denn deiner Meinung nach tun?" „Folge mir. Ich bringe dich über die Dächer zu Samadhis Haus." „Aber – woher weißt du, dass ich dort wohne?" Das Mädchen lächelte geringschätzig über solch eine dumme Frage. „Aber Junge. Solche Gerüchte verbreiten sich doch wie ein Laubfeuer; wir wussten zwar nicht, wen Samadhi da bei sich aufgenommen hatte, aber das jemand bei ihr untergekrochen war, das wurde bald stadtbekannt. Also, was ist? Willst du ewig quatschen und uns der Gefahr aussetzten, entdeckt zu werden, oder kommst du mit mir? Entscheide dich schnell, auch ich habe nicht ewig Zeit." Káshira stand einige Sekunden regungslos da, während in seinem Hirn die Gedanken im Kreis rasten und doch keinen Entschluss fanden. Sollte er sich wirklich dieser Fremden und ihrem gefährlichen Saurier anvertrauen? Andererseits wimmelte es in den Straßen nunmehr von Soldaten. Sie hatte recht; nach wenigen Schritten würden sie ihn gefangen haben, und er konnte ja auch nicht ewig auf den Dächern bleiben.
„Ja... gut. Hilf mir bitte." „Fein." Sie strahlte erfreut. „Dann nimm' meine Hand und tu genau, was ich dir sage." Zögernd legte Káshira seine Finger in ihre zarte Hand, die sie so heftig schloss, dass er vor Schmerz beinahe aufgeschrieen hätte. Offensichtlich sollte man die junge Dame lieber nicht unterschätzen; und dieser Saurier Lóng schien ihn boshaft anzugrinsen.
Die folgenden Augenblicke, die nicht länger als eine Viertelstunde gedauert haben konnten, kamen Káshira wie eine Ewigkeit vor, in der er lediglich mit geschlossenen Augen hinter dem Mädchen herlief – und hüpfte, denn sie zeigte ihm den schnellsten Weg über die Dächer. Leicht wie eine Feder glitt sie dahin und schaffte es sogar, den kleinen Dinosaurier auf ihrer Schulter zu balancieren, während sich Káshira wie ein plumper Idiot vorkam, der beinahe heulend hinter ihr von Dach zu Dach sprang und vor seinen zusammengekniffenen Augen nur blutrote, sich unaufhörlich drehende Spiralen erkennen konnte. Bloß nicht die Augen öffnen. Sonst bemerkte er vielleicht, dass er haltlos in der Luft schwebte und gerade in Begriff war, nach unten auf die gepflasterte Straße zu stürzen.
„Halt! Hey! Was ist denn das für ein Verkehr heute? Ist auf den Dächern laufen Mode?" Das Mädchen ließ seine Hand los und sprach offensichtlich heftig mit jemandem, der aber keine Antwort gab, sondern – Káshira riss die Augen auf und konnte gerade noch sehen, wie die junge Frau einem dunklen Schatten einen brutalen Tritt verpasste, der daraufhin einige Meter nach hinten geschleudert wurde und sich nur noch durch pures Glück mit beiden Händen an die Dachrinne klammern konnte. „So, das wäre Nummer zwei. Wie heißt du, und woher kommst du? Warum kletterst du auf diesem Dach herum wie ein gemeiner Dieb?" Das junge Mädchen hatte wieder sein Schwert gezückt und hielt die zitternde Spitze gegen die Kehle des Unbekannten, der immer noch ebenso wie sie selbst in der Finsternis verborgen und dadurch kaum auszumachen war. „I – Ich suche jemanden. Bitte nicht zuschlagen.", keuchte der Schatten, den Káshira plötzlich an seiner Stimme erkannte, leise. „Hotáru- kun! Was tust du hier?" rief er erstaunt laut aus, ohne daran zu denken, dass sie sich auf einem Dach befanden und es unter ihnen vor Soldaten nur so wimmelte. „Shh – shhh, hüte deine Zunge! Oder willst du im Kerker landen? Kennst du den Kerl?" fragte ihn das Mädchen streng, während sie ihr Schwert senkte und mahnend den Kopf schüttelte. „Ja, klar doch, wir gehören doch zusammen! Hotáru- kun, was willst du denn hier? Das ist gefährlich, die Soldaten werden dich finden!" „Die Soldaten... Der General hat Manua schon gefangengenommen – Die suchen uns jetzt, wir müssen verschwinden! Die Anderen... sind schon beim Wagen, falls sie es geschafft haben – ich wollte dir sagen..." Hotáru atmete schwer und hockte sich auf das sanft geneigte Dach, wo er völlig erschöpft und zitternd sitzen blieb, die Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Der heftige Tritt hatte ziemlich weh getan, und der Schock saß ihm immer noch in den Knochen. „So, da hast du ja Glück gehabt, dass du ihn überhaupt gefunden hast. Die Stadt ist ja nicht gerade klein..." Sie lächelte und verpasste Káshira einen kräftigen Hieb auf den Rücken, der ihn einige Schritte auf Hotáru zu taumeln ließ. „Soll ich euch vor die Stadt bringen, wo ihr noch einigermaßen sicher seid? Wo befindet sich euer Gespann überhaupt?" „Äh... das ist nicht so einfach..." Káshira grinste schief und stöhnte innerlich. Wie sollte er diesem Mädchen bloß erklären, dass sie – aus einem anderen Land kamen, in dem es Wagen gab, die ohne die Kraft vorgespannter Saurier fuhren? „Weißt du, vor der Stadt gibt es einen alten Brunnen, dort sind wir eingestiegen und irgendwo in Manuas Haus wieder herausgekommen – aber wie wir dorthin kommen sollen, weiß ich nicht – " „So, so, ein alter Brunnen also." Das Mädchen legte den Kopf schief und schien angestrengt zu überlegen. „Ich glaube, den kenne ich. Das dürfte der „Súukhaa" – Brunnen sein, so nennen ihn die Einheimischen hier. Soviel ich weiß, befinden sich mehr als nur ein Geheimgang dort drin, mindestens drei oder vier. Zu einem davon kann ich euch bringen, von dort aus müsst ihr aber alleine weiter, ich hab' nicht ewig Zeit." „O – Okay, aber dann bitte schnell, ja?" fiel Hotáru mit immer noch schwacher Stimme ein. „Bitte, die Anderen warten schon auf uns – " Noch immer hatte er ihr Gesicht noch nicht richtig gesehen, bis zu dem Augenblick, in dem sie mit einem eleganten Sprung die Distanz überwand und ihm geradewegs in die Augen blickte.
Im ersten Augenblick dachte Hotáru noch, er hätte durch den Beinahe- Sturz vielleicht eine kleine Hirnerschütterung und folglich leichte Halluzinationen, denn das Gesicht des Mädchens kam ihm beängstigend bekannt vor, was sich auch nicht änderte, als er seine Augen ungläubig zusammenpresste und kopfschüttelnd wieder öffnete. Vor ihm stand Yún.
Zuerst wollte er es gar nicht glauben. Vermutlich spielten ihm seine überreizten Nerven einen bösen Streich – hier auf diesem Planeten konnte es gar keine Yún geben...
„Bist du – bist du das wirklich?" Vorsichtig richtete er sich auf und starrte ihr forschend in die Augen. Sehr gut konnte er sie zwar nicht erkennen, aber es genügte. Die Ähnlichkeit war ungewöhnlich groß. Besser gesagt, er stand hier vor Yún, sie musste es einfach sein. In seinem verstörten Gemütszustand ließ Hotáru jegliche Logik beiseite und streckte zögernd die Hand aus, ohne sie aber zu berühren. „Warum bist du hier? Warum erst jetzt? Warum hast du mir nie Bescheid gesagt?" Das Mädchen blickte ihn mit einer merkwürdig ruhigen Miene an und lächelte sanft. „Ich bin nicht die, für die du mich zu halten scheinst." Sie schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. „Jetzt muß ich gehen, verzeiht mir bitte. Den Brunnen erreicht ihr, wenn ihr durch die Falltüre in dem kleinen Innenhof zwei Häuser weiter steigt und von dort aus immer geradeaus durch den Tunnel kriecht. Ja nicht abbiegen, sonst landet ihr in einem anderen Hof, das wäre nicht gerade günstig, oder? Na denn – " Gewandt drehte sie sich auf dem Absatz um und trat zum Ende des Firsts, um von dort aus auf das nächste Haus zu springen, was Káshira mit Schrecken bemerkte. „Hey, du willst uns doch jetzt nicht alleine lassen, oder? Bitte, du musst uns helfen! Und wie heißt du überhaupt, hä?"
„Wenn wir uns wiedersehen, wirst du meinen Namen wissen." Mehr schien das Mädchen nicht mehr sagen zu wollen, denn sie lächelte noch einmal und winkte abschiednehmend. „Lebt wohl, ich hoffe, ihr erreicht euer Ziel! Mögen He Xianggu und Lu Dongbin mit euch sein und eure Wege segnen!" Und schon war sie durch einen kraftvollen Sprung in der Dunkelheit verschwunden, ihre Schritte nur noch ganz kurze Zeit leise auf dem Dach zu hören. „Nein, warte! Du kannst nicht gehen!" fuhr Hotáru plötzlich panikerfüllt auf und schien ihr wie wahnsinnig nachspringen zu wollen. Káshira konnte ihn nur noch mit enormer Anstrengung am Ärmel packen und mühsam zurückhalten. „Ja, bist du denn verrückt geworden? Was willst du denn von der? Woher kennst du sie überhaupt? Willst du dir den Hals brechen?" „Laß mich los! Sie darf nicht gehen! Nicht noch einmal!" Hotáru wehrte sich mit all seinen Kräften gegen den um vieles stärkeren Káshira, der seine Arme nach hinten gebogen und ihn fest an sich gezogen hatte, um ihm keine Chance zur Flucht zu geben. „Du bleibst hier! Glaubst du vielleicht, ich beerdige dich dann und fliege in den Kerker, nur weil du dich in so ein Weibsstück verliebt hast? Kommt nicht in Frage!" „Bitte! BITTE!!" Hotáru schrie beinahe und fühlte sich hilflos der Stärke seines Kameraden ausgeliefert, der ihm hastig eine Hand auf den Mund presste und den Griff auf seine Arme intensivierte. „Spinnst du? Was soll denn das? Sei still, verdammt!" zischte ihm Káshira wütend ins Ohr und schüttelte ihn heftig, bis Hotáru nach einiger Zeit erschöpft aufgab und sich nach hinten sinken ließ. Káshira bemerkte es erleichtert, denn obwohl Hotáru ziemlich krank und schwach aussah, besaß er noch reichlich Kräfte, die gar nicht so leicht zu bändigen waren.
„Beruhigt? Wird ja auch Zeit." Káshira lockerte seinen Griff und ließ schließlich die Hände sinken, als Hotáru keine Anstalten mehr machte, der unbekannten Schönen zu folgen. „Was sollte das denn? Es gibt sicher noch mehr hübsche Mädchen hier, und außerdem bist du verlobt, also laß dich mit unbekannten Schönheiten lieber erst gar nicht ein." „Das ist es nicht." Verzweifelt schüttelte Hotáru seine Hände ab und erhob sich hastig. „Was ist es dann?" „Du würdest es nicht verstehen."
Schweigend machten sie sich schließlich auf den Weg in den Innenhof, den ihnen die Frau noch gezeigt hatte, bevor sie so eilig über die Dächer verschwunden war. Káshira warf einen besorgten Seitenblick zu Hotáru, der mit verschlossener Miene neben ihm herging und seine Umgebung mit keinem Blick mehr würdigte. „Was hast du denn? Bist du wütend auf mich? Es tut mir ja leid, aber das Mädchen hättest du nie wieder eingeholt, in tausend Jahren nicht! Weißt du, wie die über die Dächer gesprungen ist? Schlimmer als ein Teufel, das sage ich dir! Und vielleicht hätte sie dich mit ihren Mörderschwertern einfach in der Mitte durchgesäbelt!" „Schon gut, ich bin dir nicht böse.", antwortete Hotáru gleichgültig und sah ihn dabei nicht einmal an. „Ich hätte sie nicht eingeholt."
Als sie den Innenhof erreicht hatten, bemühten sie sich, so lautlos wie möglich nach unten zu gelangen, um durch die Falltüre wieder das Amphibienfahrzeug und ihre Kameraden zu erreichen. Der kleine Hof lag in völliger Stille da; kein einziger Soldat schien auf die Idee gekommen zu sein, ihn zu durchsuchen. Neben einem von Schlingpflanzen überwuchertem Brunnen, in dessen trüben Wasser, das durch eine winzige Laterne, die an seiner Spitze befestigt war, einige kleinere Münzen zu erkennen waren, lag die Falltür. Auch an ihr hatten sich die Ranken verfangen, konnten aber durch Káshira's tatkräftige Arbeit wieder geöffnet werden. Hotáru schien in eine Art Delirium gefallen zu sein, denn er bemerkte nichts mehr um sich herum; Káshira musste ihn mit aller Gewalt in den schmalen Gang zerren und von dort aus unter kräftigem Fluchen hinter sich herschleppen. Er konnte nur hoffen, dass die Soldaten oder wer auch immer nicht plötzlich unter sich lautes Gekeife hörten und sich an den Geheimgang erinnerten. Aber es gab eben nichts Besseres, um sich ein wenig abzukühlen.
„Weichling! Trottel! Mit so was muß ich mich herumschlagen..."
Nach einer Stunde, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, schien sich der Gang etwas zu heben und eine frische Briese wehe ihnen um die Nase. „Yeah, geschafft! Endlich aus dieser Grube hier raus!" Káshira jubelte begeistert auf, während Hotáru mit starrem Blick Unverständliches vor sich hinmurmelte, ihm aber brav folgte.
„Hey, da seid ihr ja! Wir dachten schon, die Soldaten hätten euch erwischt!" Frohlockend sprangen Tókui und Chujitsu auf sie zu und fielen Káshira um den Hals, während sich die anderen neugierig um sie drängten und mit Fragen bestürmten. „Wie habt ihr es bloß geschafft, die Soldaten zu umgehen? Seid ihr zu Manua zurückgegangen und dort in den Geheimgang eingestiegen?" Káshira wehrte sie lachend ab und schüttelte den Kopf. „Lasst uns erst mal fahren, ja? Sonst werden wir doch noch erwischt. Dann muß ich euch eine Geschichte erzählen, das werdet ihr nicht glauben – "
„Suigín- kun, ich muß dir was sagen – " Kamomé war aufgetaucht und beugte sich zu ihm. Unbeachtet von den anderen war er auf dem Boden sitzen geblieben und schien den Tränen sehr nahe zu sein; seine Augen schweiften ziellos umher. „Bist du krank? Dann könnt ihr euch gleich beide ins Bett legen, Kitsuné fühlt sich nämlich nicht wohl und laboriert im Wagen vor sich hin." „W – Was?" Hotáru hatte nur mit einem Ohr hingehört und hob nun alarmiert den Kopf, während ihn Kamomé kühl musterte, wie es nun mal ihre Art war. „Krank ist er?" fügte er mit schwacher Stimme hinzu. „Was fehlt ihm?" „Das weiß ich nicht so genau. Er hat ein bisschen Fieber und Kopfschmerzen, aber woher das kommt? Das musst du ihn selbst fragen, er weigert sich nämlich zu sprechen." „Ich komme schon."
Während sich Hotáru um seinen kleinen Bruder kümmerte, der lustlos auf der Bank lag und auf seinem Handheld herumdrückte, stiegen Moko und Káshira in die Fahrerkabine und fuhren mit dem Wagen tiefer in den Dschungel hinein, um nicht von den Truppen des Generals gefasst zu werden. Unterdessen hockten sich Tókui und Sachou zu ihnen und erzählten aufgeregt von Manuas Gefangennahme. „... Und der General will sie morgen köpfen lassen! Das haben Kiíchigo, Hiyokó und die Zwillinge ganz deutlich gehört, ist das nicht furchtbar – " „WAS? Köpfen lassen? Wann?" Káshira hatte sich umgedreht und starrte die Zwei entsetzt an. „Wir müssen sie retten, ist euch das klar?" „Ja schon, aber wie?" Tókui war skeptisch. „Da können wir nicht noch mal hin, es wimmelt nur so von Soldaten!"
„Das ist egal. Manua hat uns geholfen, als wir in Not waren, und deshalb können wir sie jetzt nicht hängen lassen." Káshira schlug bestimmt mit der Faust auf das Armaturenbrett, tatkräftig unterstützt von einem nickenden Sachou. „Meine Rede! Wir müssen Manua- san einfach retten, koste es, was es wolle!" „Pah." Tókui schnaubte misstrauisch. Diesen Kerlen war ja auch einfach alles zuzutrauen...
„Kitsuné." Hotáru packte seinen Bruder um die Hüfte und hob ihn hoch. „Was hast du denn?"
„Nichts." „Ja, klar." Kopfschüttelnd trug er ihn ein wenig zur Seite, um Kagamí, der eifrig einige Decken und einen Polster auf die Bank legte, nicht zu behindern. „Da bleibst du jetzt erst mal, und ich passe auf dich auf. Du musst schnell gesund werden!"
„Mir doch egal." Störrisch drehte Kitsuné seinen Kopf zur Seite und schloss die Augen. „Kannst ja gerne machen, was du willst." „Du bist dickköpfiger als ein Esel." Ärgerlich legte ihn Hotáru auf das provisorische Lager, auf das er und Kamomé sich geeinigt hatten, um die anderen in der Nacht nicht zu stören. „Versuch jetzt mal zu schlafen. Ich bin immer da, und die kleine Lampe lasse ich auch brennen, du brauchst also keine Angst zu haben." „Hab' ich sowieso nicht." „Na, dann ist ja gut."
Während die vier Freunde vorne in der kleinen Kabine einen Plan ausheckten, um Manua zu retten, kuschelten sich die Kinder behaglich in ihren Stockbetten, und Hotáru hielt bei seinem kranken Bruder Wache. Nicht weit von den Stadttoren Sankhyas entfernt, von den dichten Blättern der Farne im Dschungel verborgen, warteten die Pfadfinder das Morgengrauen ab, Káshira und die anderen Drei einen fertig ausgearbeiteten Plan in ihren Köpfen. Der morgige Tag würde auf jeden Fall sehr aufregend werden.
„Komm, Manua. Wir wollen beten." Báraf Saféd, eine schlanke, ruhige Frau, blickte ihre weinende Tochter mit sanfter Miene an und strich ihr beruhigend über den Kopf. Sie war so schnell wie möglich von ihrem Ausflug in den Wald zurückgekommen, als ihr ein aufgeregter kleiner Dorfjunge beinahe schluchzend die schrecklichen Neuigkeiten erzählt hatte.
„W – Wir dürfen doch gar nicht nach draußen – der General wird es uns doch sicher untersagen, oder – " Manua hockte auf dem Boden ihres Schlafzimmers und weinte herzzerreißend. „Der General wird es uns erlauben, denn ich frage ihn sofort. Ein letztes Gebet kann er nicht verbieten." Resolut verließ Báraf Saféd den großen Raum und kehrte wirklich einige Minuten später mit dem nicht sehr begeistert wirkenden Mosar zurück. „General Mosar wird uns zusammen mit seinem Hauptmann begleiten, damit wir keine Fluchtversuche wagen. Das ist sehr großzügig, General.", meinte sie mit einer angedeuteten Verbeugung in seine Richtung. „Schon gut. Es sind ja nur noch wenige Stunden.", knurrte er missgelaunt und streifte die Frau mit einem ärgerlichen Blick. „Auch wenn ihre Tochter Hochverrat begangen hat, bekundet der Göttlich Erhabene´ seine grenzenlose Güte und erlaubt ihnen den Gang in den Tempel..." „Gut." Báraf nickte und blickte dem General fest in die Augen. „Meine Tochter wünscht sich noch umzukleiden, bevor sie den heiligen Tempel betritt. Würdet Ihr daher die Freundlichkeit haben und – " „Natürlich." Mit einem Schlag hatte er seine gute Laune wiedergefunden und lächelte Manua zweideutig zu. „Dann werde ich Sie alleine lassen... Rufen Sie mich, wenn Sie soweit sind..." Mit einer spöttischen Verbeugung verließ er das Zimmer, während ihm Báraf stirnrunzelnd nachblickte und sich dann mit einem Achselzucken wieder ihrer Tochter zuwandte. „Nun, Manua, was willst du denn tragen..."
Kurze Zeit später verließen beide Frauen in der Begleitung von General Mosar und Hauptmann Matandua das Anwesen in Richtung Suuriyodáy – Tempel, den „Tempel des Sonnenaufgangs", vor dem sich ihnen auch noch Oberleutnant Pul anschloss. „Beten schadet nie.", knurrte der Alte grimmig und versetzte Mosar einen heftigen Schlag auf den Rücken. „Geleitet unser General die junge Dame in den Tempel?" „Psst." Mosar war ärgerlich. Der verkalkte alte Kauz musste sich natürlich gerade hier herumtreiben... „So behandelst du also deinen alten Meister. Ich muß schon sagen – " Leise vor sich hinmurrend humpelte Pul hinter der kleinen Gruppe her. „Beten ist auch gut für mich..."
Manua kniete sich vor den steinernen Altar und blieb dort die ganze Nacht nahezu reglos sitzen. Die wenigen Besucher, die sonst noch Trost an diesem Ort suchten, musterten die junge Frau neugierig. Natürlich hatten sie alle den Anschlag der bevorstehenden Hinrichtung, den Mosar noch in der selben Nacht hatte anbringen lassen, genauestens studiert und so erfahren, dass aus der Tochter des beliebten Bürgermeisters eine Verräterin des ganzen Reiches geworden war.
Die Stunden verrannen zäh. Mosar hatte sich bereits zum fünften Mal eine andere Sitzposition ausgesucht, da seine Knie auf dem harten Marmorboden langsam anfingen zu schmerzen.
Der alte Pul schien eifrig in ein Gebet vertieft, schlief aber in Wirklichkeit tief und fest, und Hauptmann Matandua musterte den Tempel mit großer Neugier. Obwohl er nun schon seit neun Jahren in diesem Königreich lebte, das sich über einen ganzen Kontinent erstreckte, war er immer noch über die Tempel und Heiligtümer erstaunt und davon beeindruckt. Es war alles so anders als in seiner früheren Heimat, in die er wohl nie wieder zurückkehren würde. Selbst wenn der König es bewilligt hätte – die Überfahrt war einfach viel zu lang und gefährlich. Niemand würde es wagen, sich den riesigen Seemonstern entgegenzustellen.
Kurz bevor die Nacht zu Ende ging, erschienen ihr Vater und ihr Bruder im Eingang des Tempels und knieten ebenfalls nieder. Patthár setzte sich neben seine kleine Schwester und neigte sich leicht zu ihr. „Um aller Götter Willen, Manua, was hast du nur getan? Warum musstest du Hochverrat begehen?" „Das würdest du nicht verstehen." Sie blickte starr auf den Altar und bewegte kaum ihre Lippen. „Ich habe es für die Saurier getan – und für eine Gruppe Unschuldiger."
Nach weiteren Stunden stummen Gebets erhob sich Mosar energisch und blickte aus dem großen Fenster des Tempels. Im Süden erschienen bereits die ersten Streifen Morgenrot, die den kommenden Tag ankündigten. Im Falle Manua würde es ihr letzter Tag werden.
„Bitte folgt mir nun, Fräulein Samadhi. Der Henker wird alles vorbereiten – wir wollen ihn doch nicht warten lassen, oder?" Mosar zeigte ein ausgesprochen boshaftes Lächeln, als er zu Manua trat und sie an der Schulter packte, um sie aus ihrer Gebetshaltung zu lösen. Erstaunlich ruhig wandte sie den Kopf und lächelte beinahe. „Jetzt habe ich keine Angst mehr, General. Die Götter werden gnädig mit mir sein – das weiß ich jetzt..."
Schweigend führte sie Mosar aus dem Tempel, gefolgt von einer stummen Prozession, bestehend aus ihrer Familie und seinen Soldaten sowie Schaulustigen, die bereits ungeduldig auf die Hinrichtung warteten und sich ihnen daher angeschlossen hatten.
Der Henker hatte die Guillotine bereits aufgestellt und wetzte gerade sein riesiges Beil, mit dem er später das Seil durchtrennen wollte. Ein alter Mann mit vernarbtem Gesicht begrüßte Mosar und Matandua zuerst förmlich und wandte sich dann Pul, der sein Nickerchen gerade noch rechtzeitig beendet hatte , um ihnen zu folgen, vertraulich zu. „Na, Pul, alter Knabe? Das wird eine Hinrichtung, wie sie schon lange nicht mehr zu sehen war! Um das junge Fräulein ist's natürlich schade. Aber sieh mal, wie viele Leute schon gekommen sind!" Tatsächlich quoll der Platz nahezu über. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein, um dieses einzigartige Schauspiel nur ja nicht zu verpassen. Mosar drehte seinen Kopf zu Matandua und verzog angeekelt das Gesicht. „Da, seht sie Euch an, Hauptmann. Wie die Tiere – dumm und lenkbar. Es ist eine Schande..."
Grinsend vollführte der Henker die vorgeschriebene Probe der Guillotine vor den Augen der gebannten Masse. Lautlos glitt die scharfe Klinge in der hölzernen Führung nach unten und teilte die ananasähnliche Frucht mit einem leisen Knall in zwei saubere Hälften. Manua, die alles aus einiger Entfernung mitangesehen hatte, schauderte leicht, bevor sie sich wieder fangen konnte. Wenigstens würde es schnell gehen.
Die beiden Soldaten, die sie in die Mitte genommen hatten, zerrten sie unerbitterlich immer weiter in Richtung Tribüne, auf der man den Apparat aufgebaut hatte. Ein letzter Blick in die Menge – dort hinten stand Garíibii mit ihrer Schwester und weinte... Manua schenkte ihr ein tapferes Lächeln und fühlte, wie einer der Soldaten ihren Kopf packte und erbarmungslos in den unteren Teil der Kopfhalterung drückte. Dann schloss sich der zweite Teil um ihren Hals und ließ nun auch den letzten Rest aller Hoffnung auf eine wundersame Rettung ersticken. Manua Maya weinte noch eine letzte Träne und fühlte die Blicke der Menge auf sich gerichtet. Sie warteten auf ein Schauspiel, das ihnen ein bisschen Abwechslung in ihr sonst so ruhiges und einigermaßen beschauliches Leben brachte – von den vereinzelten Saurierangriffen hin und wieder abgesehen –
Jede Furcht war endgültig vergangen; zurück blieb nur ein Gefühl der Stärke, wie sie es von ihren langen Gebeten her noch im Sinn hatte.
„Die Tochter des ehrenwerten Bürgermeisters Samadhi, Manua Maya, wird heute wegen Hochverrats gegen die Krone hingerichtet werden – " Der Henker las den Text aus einer endlos langen Schriftrolle ab, Manua hörte schon nicht mehr hin. Es war ja doch schon egal – da hob er auch schon sein Beil, um den Strang zu durchtrennen –
Plötzlich ertönte ein lauter Knall, und die Axt wirbelte aus den Händen des zu Tode erschrockenen Scharfrichters, der sich verdutzt umsah. Irgendeine Macht hatte den Stiel des großen Beil getroffen und aus seinem Griff geschleudert... Kurz darauf explodierte wieder etwas unter lautem Krachen; die ganze Gegend um die Tribüne versank in dichtem, beißenden Rauch. Mosar hustete entsetzt und sah sich hastig in der Gegend um, viel erkannte er ja nicht. Aber dennoch genug.
„Hier geblieben! Ich hätte es mir ja fast gedacht!" An der Apparatur machten sich zwei undeutliche Gestalten zu schaffen, unzweifelhaft mit der Absicht, die Verurteilte zu befreien.
Der junge General ergriff sein Schwert und erreichte die Guillotine mit einem einzigen Satz.
„Ach, du liebe Zeit! Wie kriegt man dieses Ding bloß auf?" Angespannt werkelten Káshira und Tókui an der Halterung, von einer ungläubigen Manua beobachtet. „Wie kommt ihr denn hierher? Seid ihr wahnsinnig? Die Soldaten werden euch töten, wenn sie euch finden!"
Káshira grinste. „Pah, keine Sorge! Durch den Rauch können die nichts sehen. Und außerdem kann uns das ja – " Mit einem lauten Quietschen löste sich endlich der erste Teil aus der Verankerung und ließ sich anheben. „Los, raus da, Manua- san! Und dann nichts wie weg!"
„Uh!" Manua kreischte entsetzt auf und deutete auf einen Schemen, der durch den dichten Rauch immer näher und näher auf sie zu kam. „General Mosar!"
„Tókui, du nimmst Manua und verschwindest mit ihr! Ich kümmere mich um ihn!" „Sei doch nicht so heldenhaft! Wie willst du das machen, hä?" „Damit." Grinsend zog Káshira ein langes Schwert aus dem Gürtel, das Tókui in der ganzen Aufregung gar nicht bemerkt hatte. „Wo hast du das her?" „Einem Soldaten abgenommen, der lag da so am Boden rum, hat wohl den Rauch nicht so gut vertragen – ich bin ja so was von froh, dass wir dieses dämliche´ Schreckschusszeug mitgenommen haben – man sieht ja jetzt, wie gut das war – "
Mittlerweile hatte Mosar sie beinahe erreicht und sein Schwert aus der Scheide gezogen. Tókui bemerkte es mit Sorge. „Káshira – " „Verschwinde jetzt ganz schnell, ich komme nach. Zum Glück sind die anderen Soldaten nicht so fix wie er..."
Mit zitternden Fingern zog er ebenfalls das Schwert und trat Mosar beherzt entgegen, äußerlich zwar gefasst, aber innerlich – „So, du willst also gegen mich kämpfen? Dummer Junge! Dafür bezahlst du!" Der General hatte keine Lust mehr, Rücksicht auf diese Gören zu nehmen. Diese Samadhi flüchtete zwar gerade, aber er würde sie bald wieder eingeholt und gefangen haben – keiner konnte ihm für längere Zeit entkommen –
„AU!!" Klirrend schlug das Schwert am Boden auf, als es Mosar bereits mit dem ersten Hieb gelang, den ungeübten Káshira zu entwaffnen, der daraufhin mit schmerzverzerrter Miene am Boden hockte und seine geprellte Hand rieb. „Na gut, du hast mich – " „NEIN!" Hotáru war urplötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht und stellte sich schützend vor seinen Kameraden, nachdem er hastig das Schwert aufgehoben hatte und sich in Position stellte. „Sieh zu, dass du wegkommst! Ich halte ihn solange hin!" „Glaubst du, besser zu sein als dein Freund?" Mosar lächelte hinterlistig und hob drohend seine Waffe. „Ich werde euch ja doch finden, auch wenn es einigen deiner erbärmlichen Truppe gelingt, zu fliehen, was ich bezweifle. Ihr seid ja so schwach und erbärmlich – aber wenn du es nicht anders willst..." Ohne Vorwarnung führte er blitzartig einen heftigen Stoß gegen Hotáru aus, dem dieser wie durch ein Wunder ausweichen konnte. Offensichtlich machten sich die vielen, widerwillig besuchten Kendō- Stunden nun doch bezahlt. Erleichtert bemerkte er, dass sich Káshira offensichtlich aus dem Staub gemacht hatte. Aber sein Glück hielt nicht lange an; denn bereits der nächste Schlag warf ihn beinahe zu Boden, und nach dem dritten war es vorbei. Zitternd wich Hotáru keuchend vor Anstrengung immer weiter nach hinten, während ihm Mosar lächelnd folgte. Noch ein Hieb, und auch dieser Junge wäre besiegt – und ihn würde er fangen –
„Uh..." Krachend war Hotáru über den Rand der Tribüne geschleudert worden und rollte nun in den Straßensand, während seine Waffe irgendwo klappernd zu Boden fiel. Es war sowieso egal. Der letzte Schlag hatte ihm das Schwert aus der Hand geprellt und sie zu allem Überfluß auch noch verletzt. Schützend schlug er nun die Arme vor sein Gesicht und wartete auf den letzten Hieb, der wie durch ein Wunder ausblieb; statt dessen packte ihn jemand am Ärmel und schüttelte ihn heftig. „Los, komm schon, Hotáru!" „Aber – " „Keine Sorge, der Typ ist gerade ziemlich mit sich selbst beschäftigt!" Erstaunt wagte Hotáru einen Blick und erkannte Moko und Káshira, die sich gerade grinsend über ihn beugten und auf die Tribüne deuteten, auf der sich General Mosar gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden krümmte, die Hände vor seine Augen gepresst.
„Das Insektenspray wirkt doch wirklich Wunder. Nie wieder werde ich mich über den Gestank beklagen..." pfiff Moko gut gelaunt vor sich hin und half Hotáru, wieder auf die Beine zu kommen. „Komm mit, wir müssen uns beeilen. Sachou ist mit den Nerven sicher schon am Ende, wenn er solange auf uns warten muß – zum Glück ist die Menge so dicht, dass uns die Soldaten nicht sofort finden – "
Wieder einmal machte sich bezahlt, dass ihnen Manua unauffällige Kleidung besorgt hatte. Unerkannt huschten die Drei durch die Menge und wichen in einen kleinen Innenhof aus, den Káshira und Hotáru schon von der vorherigen Nacht kannten – es war ein Eingang in den Tunnel, vor dem sie bereits von den ungeduldigen Kindern im Amphibienfahrzeug erwartet wurden. Sachou weinte beinahe vor Anspannung. „Was habt ihr solange gemacht, hmm? Die Soldaten hätten uns erwischen können!" „Haben sie aber nicht." Káshira zog ihm eine Grimasse und grinste Kiíchigo zu. „Siehst du, wir haben Manua befreit – verdiene ich da nicht ein kleines Küsschen?" „Klar doch." Äußerlich ein beleidigtes Gesicht ziehend, innerlich dagegen strahlend, begann sie bereits wieder an die Zukunft zu denken. Wenn mit diesem Langweiler Hotáru nichts wurde, dann würde sie eben Káshira um ihren Finger wickeln. Schließlich war er wenigstens ein richtiger Mann, der genau wusste, was er an ihr hatte...!
„Na, haben diese Tranfunzeln es nun doch noch geschafft, dich zu befreien? War aber in letzter Sekunde, was?" Sénsō kicherte meckernd und entkam nur durch Glück einem Kopfstüber von Kagamí, der ihm einen strengen Blick zuwarf. „Du musst noch sehr jung sein, so, wie du dich benimmst!"
Nun ging ihre Flucht also mit Manua an Bord weiter, die ihnen unter Tränen tausendmal dankte und ihnen ihre ewige Treue und Dankbarkeit gelobte, was Tókui in Verlegenheit brachte. „Manua- san, als wir in größter Gefahr waren, da hast du uns ja auch gerettet. Also ist es nur fair, wenn wir uns mal revanchieren..."
„Kitsuné." Langsam begann der Abend zu dämmern, und die meisten der Kinder waren bereits auf dem Weg ins Bett; nach diesem anstrengenden Tag kein Wunder. Auch Manua hatte sich bereits zum Fluß, bei dem sie Halt gemacht hatten, begeben und feierte ihre „zweite Geburt" wie sie zu sagen pflegte. „Soll ich dir etwas bringen? Was zu trinken? Oder hast du vielleicht Schmerzen?" Liebevoll kümmerte sich Hotáru um seinen kleinen Bruder, mit der Zeit immer mehr an dessen Schweigen verzweifelnd. „Tut dir etwas weh?" Nichts. Kitsuné zog es vor, mit geöffneten Augen an die Decke zu starren und auf keine Ansprache zu reagieren. Hotáru fühlte sich elend und vergrub das Gesicht in beide Hände. „Es ist meine Schuld, nicht wahr?" Kitsuné reagierte nicht, aber das war ihm nur recht. Vielleicht schlief der Kleine ja schon. „Ich habe Vater versprochen, das ich auf dich aufpasse. Auf dich und Kiíchigo. Aber ich kann das nicht, ich kann nicht. Und ich will nicht mehr." Plötzlich und ohne seinen Willen begannen Tränen über seine Wangen zu laufen. „Weißt du, ich habe dich gern. Und ich will dir auch helfen. Aber – " Mechanisch wischte er mit dem Ärmel über das Gesicht. „Kannst du dich noch an Yún erinnern? Ich – ich weiß ja, wie dumm das klingt, aber ich glaube, ich – hier gibt es – " Weiter ging es nicht. „Ich hab's satt, Kitsuné, einfach alles. Am liebsten würde ich mich ins Bett legen und nie wieder aufwachen. Ist doch sowieso alles Sinnlos. Ich werde nie so werden, wie ich sein sollte. Jeder verlangt etwas anderes von mir."
Verzweifelt legte er seinen Kopf auf Kitsuné's Decke und ließ die Tränen einfach laufen. „Ich habe mir ja auch geschworen, nie mehr zu weinen. Und dabei heule ich mehr als fünf von Tsubomí's Sorte zusammen..." Langsam übermannte ihn der Schlaf, und seine Augen fielen immer öfter zu. „Ich... will nicht..." brachte er noch heraus, bevor er endgültig den Kopf zur Seite legte und einschlief. Kitsuné rührte sich nicht, sondern betrachtete weiterhin die Decke, bis überraschend eine andere Stimme zu hören war. „Hey, Suigín, schläfst du etwa? Dafür gibt es Betten!" Káshira war aufgetaucht und trat auf das Krankenlager zu. Nachdem er den schlafenden Hotáru eine Weile mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid und sanftem Spott betrachtet hatte, bemerkte er Kitsuné's geöffnete Augen. „Du bist ja wach! Brauchst du etwas? Soll ich dir was bringen?" „Mmmh... nein, danke.", flüsterte Kitsuné leise und warf einen Blick auf seinen kreidebleichen, völlig erschöpften Bruder. „Aber Hotáru kannst du helfen, er fühlt sich nicht gut, glaube ich... und er hat schon seit zwei oder drei Tagen weder gegessen noch geschlafen ..." „Wie immer.", flüsterte Káshira mit strenger Besorgnis und fasste einen Entschluss. „Ich lege ihn ins Bett, so geht das nicht mehr weiter. Ich werde Watarí sagen, er soll sich um dich kümmern, okay? Das macht dir doch nichts aus, oder?" „Nein, schon gut. Aber – " Kitsuné hustete kurz und sah Káshira bittend in die Augen. „Wenn er wieder Alpträume hat, dann musst du ihn trösten, ja? Wirst du das tun?" „A – Aber sicher doch, ich weiche nicht von seinem Bett, bis er nicht ein paar Stunden geschlafen hat, keine Sorge.", antwortete Káshira leicht überrascht und packte den immer noch Schlafenden resolut um die Schultern und unter den Kniekehlen. „Und du werde auch bald gesund, ja? Ich werde Watarí wecken."
Hotáru wachte abrupt auf, als er sich plötzlich in die Luft gehoben und eine Stiege nach oben getragen fühlte. „Was soll das? Was machst du da?" zischte er verschlafen, während Káshira lediglich grinste. „Du gehst jetzt ins Bett, was dachtest du? Aber zuerst – " An der Koje angekommen lud er ihn ziemlich unsanft ab und ignorierte seine Protestschreie. „Jetzt kriegst du noch was zu Essen, und dann werden die Augen zugemacht und du schläfst mal ein paar Stunden, klar? Ich bleibe solange hier." Während sich Hotáru murrend in die Decke wickelte, weckte Káshira den verdutzten Watarí mit einem Hieb auf den Rücken und schickte ihn zu Kitsuné nach unten, wo die beiden ein ziemlich kompliziertes Gespräch über Schachzüge begannen. Unterdessen wärmte Káshira eine Schüssel Reissuppe für seinen persönlichen Patienten auf und brachte ihn nach oben, wo Hotáru die Kost nicht gerade begeistert hinunterwürgte. „Mir ist jetzt übel. Darf ich schlafen?" „Aber gerne." Mit verschränkten Armen setzte sich Káshira neben ihn und gähnte demonstrativ. „Ich passe solange auf dich auf." „Kannst du dir gerne sparen!" murrte Hotáru müde und schloss die Augen. „Auf deine Fürsorge kann ich verzich – " Und schon war er eingeschlafen.
Káshira seufzte und betrachtete ihn beinahe zärtlich. So ein Dummkopf. Ständig ruinierte er sich selbst, und wenn keiner auf ihn acht gab, dann würde er wohl irgendwann vor die Hunde gehen.
Hotáru schlief nicht lange gut. Schon bald wurde er von heftigen Alpträumen, bei denen er ständig irgendwelche Abgründe schnurstracks nach unten stürzte oder von riesigen Raubsauriern verfolgt wurde, gequält. Wenn er wieder einmal mit einem entsetzten Schrei aufwachte, gab es immer Káshira, der ihn in die Arme nahm und vorsichtig seinen Rücken streichelte, bis er wieder einschlief. Allerdings hätte er sich liebend gern von allen Sauriern dieser Welt jagen lassen, als ihr wieder zu begegnen. Der Traum begann eigentlich harmlos; Hotáru befand sich in einem kleinen Teehaus, vor sich zwei gefüllte Schalen. Draußen regnete es sehr stark, aber dennoch war der kleine Raum nahezu leer, bis auf zwei alte Leute, die weit entfernt auf einem Tisch saßen und sich schweigend fixierten. Leise öffnete sich die Tür; beinahe hätte er gar nicht den Blick gehoben, um zu sehen, wer das Lokal betrat. Es war Yún; sie trug einen zusammengerollten Regenschirm über dem rechten Arm und lächelte ihm zu. „So trifft man sich wieder. Jetzt haben wir uns schon so lange nicht mehr gesehen – eine Ewigkeit. Aber leider habe ich nicht viel Zeit." „Wohin gehst du?" Er blickte sie fragend an.
„Ich muß bald wieder weg. Der Bus wartet schließlich nicht auf mich.", fügte sie zärtlich lächelnd hinzu. Hotáru wurde aufmerksam. „Fahr nicht mit dem Bus. Es ist gefährlich."
Yún musterte ihn verdutzt. „Gefährlich? Wieso?" Plötzlich begann sie zu lachen. „Ich weiß schon; du möchtest, dass ich länger bleibe. Aber das geht nicht. Ich muß noch ein paar Sachen besorgen." Anmutig erhob sie sich und winkte ihm verabschiedend zu. „Ich werde mich melden, sobald ich zuhause bin. Du wirst auf mich warten, nicht wahr? Also dann." Sie wandte sich zur Tür und öffnete sie, während Hotáru auf einmal ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf schoss. Natürlich. Heute würde sie sterben.
„Warte! Geh nicht!" Er sprang so heftig auf, dass der kleine Tisch mitsamt Schalen und Kanne umkippte und ihm strafende Blicke einbrachte. Aber das war jetzt egal. Er musste sie finden und zurückhalten; sonst war es für immer vorbei. „Warte! So warte doch!" Verzweifelt rufend rannte er ihr hinterher. Aber schon war sie nicht mehr zu sehen; erstaunlich, wie weit sie in der kurzen Zeit gekommen war. Hotáru blieb hilflos stehen und wusste ganz genau, dass es bereits viel zu spät war, um noch etwas auszurichten. Erstaunlich warm strömte der Regen über sein Gesicht nach unten und verschwand irgendwo in seinem Kragen.
Als er nach diesem Traum erwachte, blieb er regungslos liegen und fühlte wie sein Kissen immer feuchter und feuchter wurde. Sein Kopf schien völlig leer und taub zu sein, jedenfalls spürte er im Moment gar nichts. Er war nur wieder einmal zu spät dran gewesen.
„Ja, aber, Suigín- kun! Was soll denn das werden?" ertönte plötzlich eine leise, besorgte Stimme, und Káshira beugte sich über ihn, die Tränen mit seinen Fingern abtrocknend. „Also, so viele Alpträume wie du hat ja kein Mensch in einer Nacht. Weißt du was, am besten – " Gähnend streckte er sich erst einmal und schob Hotáru dann energisch zur Seite. „Komm, mach Platz. Ich will da nicht die ganze Nacht sitzen, mein Rücken tut mir jetzt schon weh genug." Und bevor Hotáru eigentlich so richtig wusste, was er von ihm wollte, war Káshira schon neben ihm ins Bett geglitten und hatte sich dort genüsslich eingerollt. „Mmmhh... wenn du wieder schlecht träumst, bin ich wenigstens sofort zur Stelle..." „So was – " Hotáru war milde verärgert und kuschelte sich dann an seinen ungewollten Bettgenossen. Schließlich war diese Pritsche furchtbar eng, und er sehr müde.
Als er sich so an seinen Kameraden schmiegte, bemerkte er so nebenbei, wie warm und weich sich Káshira eigentlich anfühlte. Im Gegensatz zu Kitsuné passte er sich viel besser seiner persönliche Körperform an, was zum Glück seinen Schlaf um einiges begünstigen würde.
Natürlich begann er bald darauf wieder zu träumen, aber keine Alpträume wie zuvor, sondern noch viel absurdere Geschichten, für die er sich sogar im Schlaf noch ein wenig schämte.
Es begann mit dem Gefühl sanfter Wärme auf seiner Haut, die davon herrührte, dass er am Fuße einer hohen Palme auf einem ausgedehnten, menschenleeren Sandstrand saß und ungehindert auf ein azurblaues, friedliches Meer blickte. Zufrieden schloss er einige Sekunden lang die Augen und bemühte sich, an nichts anderes außer den Empfindungen seines Körpers zu denken. Die Luft war so mild und warm – man konnte sogar das Salz des Meeres riechen. Plötzlich hörte er hinter sich leise Schritte im weichen Sand, und noch bevor er sich umdrehen konnte, hatte ihm der Unbekannte die Arme zärtlich um den Hals geschlungen und begann nun damit, seine Schultern zu massieren. Hotáru hielt ganz still und lehnte sich leicht nach hinten, aber sehr vorsichtig, um den anderen nicht zu erschrecken. „Mmmh... bitte, nicht aufhören..." flüsterte er leise und drehte sein Gesicht seinem geheimnisvollen Wohltäter zu, der sich als liebevoll lächelnder Hachí entpuppte. „Aber Senpai – " „Shhh" flüsterte Tsúyu zärtlich und schüttelte den Kopf. „Nicht reden – nicht fragen..." „Aber – " begann Hotáru und musste abbrechen, denn sein Senpai begann ihn völlig unerwartet sanft zu küssen und die Finger behutsam unter sein Hemd zu schieben. „Aber – was – " flüsterte er verwirrt, schob Hachí aber nicht von sich weg. „Warum tust du das?"
„Ich wollte dich vom ersten Moment an haben – als ich dich im Sportunterricht spielen sah – da wusste ich, dass es mir gelingen musste, dich in mein Team zu kriegen – " Tsúyu brach ab, um zärtlich seinen Hals zu küssen und vorsichtig an den Hemdknöpfen zu zupfen.
Hotáru stöhnte und konnte kaum noch sprechen. „Was... warum ich?" „Weil ich – weil ich dich liebe – dich haben will – " Tsúyu lächelte verschmitzt und zog Hotáru zu sich hinunter, um ihm dann mit einem Ruck das Hemd zu öffnen und über die Schultern nach unten zu ziehen. „Jetzt ist es wohl zu spät, um noch „Nein" zu sagen..." „Mmmh..." Hotáru beugte sich abrupt nach vorne und küsste Hachí ungestüm auf die Lippen. „Das würde ich auch nicht tun..."
„So, so..." Tsúyu musste wieder lächeln und zog ihn fest an sich, während er bedächtig die Hand tiefer gleiten ließ, was Hotáru dazu bewog, seine Finger heftig in Hachí's Schultern zu krallen und seine Beine weit auseinander zu spreizen. „Weißt du eigentlich, was du da tust? Ich meine – " stöhnte er auf und presste sich im selben Moment impulsiv an ihn. „Nicht - nicht aufhören..." „Gefällt es dir?" flüsterte Tsúyu, als er langsam damit begann, Hotáru's Hose über seine Oberschenkel vorsichtig abwärts zu ziehen und seine Zunge sachte über die Innenseiten wandern zu lassen. „Deine Haut ist so heiß..." „Uh..." Hotáru stöhnte und ließ sich willenlos nach hinten sinken. Unterdessen hatte sich auch Hachí seiner störenden Kleidungsstücke entledigt und kniete nun, ebenso wie sein erwartungsvoller Liebhaber nur noch in Unterwäsche, über ihm. „Worauf – worauf wartest du noch? Mach doch weiter..." flüsterte Hotáru leidenschaftlich und schlang seine Arme um Tsúyus Oberkörper, den er sehnsüchtig küsste und die Fingerspitzen zärtlich über seine Schultern gleiten ließ. Hachí reagierte prompt und drehte ihn geschickt auf den Bauch. „Na, so ungeduldig? Du kannst es wohl nicht mehr erwarten, was? Also gut..." Gemächlich schob er seine Finger unter den Bund der Unterhose und streifte sie langsam ab, während Hotáru seinen Oberkörper etwas aufgerichtet hatte und ihn nun erregt beobachtete. „Wird es – wird es weh tun?" In seiner Stimme schwang etwas mit, dass Tsúyu dazu bewog, den Kopf zu heben und ihn überrascht zu mustern. „Keine Angst, ich werde ganz vorsichtig sein – es tut nicht weh, wenn du dich nicht zu sehr verkrampfst..." „So, meinst du?" flüsterte Hotáru, aber es war schon zu spät, um sich jetzt noch viele Sorgen darum zu machen. Bestimmend packte ihn Tsúyu an den Hüften und beugte sich über seinen Rücken. Zärtlich glitt seine Zunge den Weg des Rückgrats nach, was Hotáru beinahe zur Raserei brachte. „Uh..." Verzweifelt bemühte er sich, dem Griff zu entkommen, aber Tsúyu war zu stark. „Nicht – ich will – " „Du wolltest doch vorhin, jetzt kannst du nicht mehr zurück.", flüsterte Hachí aufgeräumt und kicherte. „Warum bist du auch hier geblieben?" „Weil ich – weil ich – " „Weil du es genauso willst wie ich." „Nein, ich – " Aber Ausreden nützten hier nichts mehr. Hotáru krallte seine Finger tief in den lockeren Sand und bewegte sich ausweichend hin und her, was Hachí lediglich ein leises Lachen kostete. „Bist du ein Mann oder eine Maus? Wovor – hast du denn Angst? Ich denke, deine Eltern erziehen dich wie einen kleinen Samurái, jedenfalls hatte ich immer den Eindruck..."
„Ja – Nein – Ich – " Hotáru bemerkte, wie weich und sanft sich die Glieder des Senpai an seinen eigenen Körper schmiegten. Eigentlich wollte er sich gar nicht wehren – dafür waren sie beide schon viel zu weit gegangen. Und abgesehen davon schienen die feinfühligen Hände genau zu fühlen, wo seine empfindsamsten Stellen lagen, denn Hachí schaffte es mit jeder Streicheleinheit, seine Haut wieder und wieder zärtlich zu verwöhnen. Schließlich begann sich Hotáru langsam zu entspannen und ließ Tsúyu freie Hand, während er selbst seinen Kopf auf den weichen, gelben Sand legte und seine Hände ziellos über den Boden wandern ließ...
„Hach!" Entsetzt fuhr Hotáru aus dem Schlaf und setzte sich zitternd im Bett auf. Zu aller Überfluss hatte sich Káshira auch noch fest an ihn geschmiegt und wachte murrend auf, die Augen beinahe noch fest geschlossen. „Was war denn nun schon wieder? Du schläfst aber unruhig." Brummig packte er ihn an der Schulter und zog ihn zurück ins Bett, was Hotáru nach diesem Traum nicht gerade sehr angenehm war. „Es ist so kalt in der Nacht, ich will schlafen, und das ist jetzt schon dein achter böser Traum. Also sei still und – " jammerte Káshira verschlafen, während er bereits ins Land der Träume unterwegs war. Hotáru seufzte betreten und kuschelte sich wieder in die Decke, während er noch ein wenig über sein – recht ungewöhnliches – Traumerlebnis nachdachte und trotz allem bald darauf wieder einnickte.
