23. Kapitel

Dissonanz

Plötzlich, und ohne dass er gewusst hätte warum, fand sich Hotáru vor einem kleinen, eisenbeschlagenen Tor wieder, direkt in einem kalten, feuchten und sehr moderig riechenden Gang. Er trug erstaunlicherweise eine Art Uniform, schwarz und glanzlos. Sie schien sogar das geringe Licht um sich herum aufzusaugen. Vorsichtig tastete er nach seinem Kopf. Ja, auch eine Uniformmütze besaß er, ebenfalls schwarz, wie sein ganzer Aufzug. Lediglich eine kleine, blutrote Taschenklappe auf seiner Brust unterbrach die Monotonie. Hotáru begann sich langsam vor sich Selbst zu fürchten. Was tat er hier? Und in diesen seltsamen Kleidern...

Langsam trat er auf die Türe zu, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, was ihn hier erwarten würde. Wer war er eigentlich?

Knarrend schwangen die eisernen Beschläge auf und gaben den Blick auf eine Gefängniszelle frei, in dem sich ein einzelner Gefangener befand, die Arme in eiserne Ketten gelegt. Ohne dass er es eigentlich wollte, zog er einen langen Schlagstock aus seinem Gürtel und näherte sich dem Häftling mit einem boshaften Grinsen auf dem Gesicht. „So, jetzt siehst du ja, was du von deiner Dummheit hast – den ganzen Ärger hättest du dir wirklich ersparen können, wenn du von Anfang an kooperiert hättest – " „Mit jemandem wie dir kooperiere ich nicht.", erscholl es leise aus der Ecke. „Lieber sterbe ich – " „Kannst du haben.", entgegnete Hotáru kalt und lachte gefühllos, während er sich der Gestalt im Zellenwinkel immer weiter näherte und dabei bedrohlich seinen Schlagstock hin- und herschwingen ließ. Als er ihn vollends erreicht hatte, erkannt er ihn endlich. Es war Káshira, blaß und ausgezehrt, und voller Striemen, aber seine Augen blitzen dennoch ungebrochen. Die wuchtigen Ketten hatten bereits tiefe Wunden in seine Handgelenke gescheuert, was Hotáru mit Entsetzen bemerkte. Aber über diesen Körper hatte er keinerlei Kontrolle; er war lediglich ein unbedeutender Zuschauer, der diesen anderen Hotáru nicht von seinem Tun und Lassen zurückhalten konnte, ja nicht einmal bemerkt wurde. „Du bist ja soo tapfer." Er lachte kalt und packte Káshira brutal an den Haaren, wodurch er ihn zwang, ihm in die Augen zu sehen. „Ach, und du wehrst dich also immer noch so heftig wie am ersten Tag... das werden wir ändern müssen, nicht wahr?" Bevor Káshira etwas erwidern konnte, hatte sich Hotáru schon nach vorne gebeugt und seine Lippen auf die halb geöffneten des Gefangenen gepresst. Er genoss dieses Gefühl der Macht, denn Káshira konnte sich nicht rühren; die schweren Fesseln hinderten ihn daran. „Und wie ist das? Soll ich weitermachen?" Boshaft lächelte er den entsetzten Káshira an, der wie betäubt in seinen Ketten hing und ihn fassungslos anstarrte. „Was – was tust du denn da?" stöhnte er leise. „Nichts, was meinst du? Habe ich etwas gemacht?" entgegnete Hotáru gespielt unschuldig und grinste. „Ach, du bist ja so s..." Abrupt öffnete er die Hand und ließ den Schlagstock achtlos zu Boden fallen, während er aus der Oberschenkeltasche seiner Uniformhose ein langes Messer zog und sich damit über seinen vor Schreck erstarrten Gefangenen beugte. „Was soll denn das werden? Bringst du mich jetzt um?" flüsterte Káshira gefasst und befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge. „Aber nein, wo denkst du hin? Ich habe etwas ganz anderes mit dir vor..." Energisch packte Hotáru sein Hemd und begann es trotz der heftigen Gegenwehr vorsichtig entlang der Naht aufzuschneiden, bis schlussendlich nur noch einige Fetzen neben Káshira zu Boden flatterte, der ihn mit einer Mischung aus Abscheu und Haß, gepaart mit einer Art Vorfreude, musterte und plötzlich lächelnd den Kopf schüttelte. „Sieh einer an, so was hast du also mit mir vor – leider wird es dir nicht gelingen, dass ist furchtbar schade..." „Ach ja? Und wer soll mich aufhalten? Du etwa?" Hotáru lachte höhnisch auf, während Káshira lediglich sanft den Kopf schüttelte und urplötzlich nach vorne schnellte, was unmöglich war, denn seine Ketten –

Hotáru erstarrte fassungslos. Die eisernen Fesseln sprangen klirrend von den geschundenen Gelenken ab und rollten hell tönend zu Boden, wo sie neben dem ehemaligen Gefangenen langsam zur Ruhe kamen. Káshira hob den Kopf und musterte Hotáru mit einem seltsamen, gefährlichen Lächeln, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Bevor er aber noch reagieren konnte, war es bereits zu spät – mit einer blitzschnellen Bewegung wurde er gepackt und fühlte sich brutal zu Boden gepresst. „Damit – damit kommst du nicht durch! Die Wachen werden dich fangen und zu Tode foltern – selbst wenn du mich tötest, gewinnst du nichts dadurch – " „Ach nein?" entgegnete Káshira schwer atmend, während er sich damit abmühte, die schweren Armringe über die Handgelenke des sich heftig wehrenden Hotáru zu schieben. „Ich werde dich nicht töten, sondern der ewigen Schande aussetzen, so dass du dir selber das Leben nehmen musst, wenn du nicht jede Stunde deines erbärmlichen Lebens leiden willst – was, glaubst du wohl, werden deine Untergebenen sagen, wenn sie erst einmal erfahren, wie man ihren Vorgesetzten gefunden hat – in Ketten und von einem Gefangenen überwältigt?" „Das würdest du nicht wagen!" keuchte Hotáru entsetzt, als ihn Káshira wieder freigab und er bemerkte, dass diese Ketten nicht zu öffnen waren – jedenfalls konnte er es nicht. „Ach, ich würde es nicht wagen? Im Gegenteil. Ich werde es jetzt tun!" schrie Káshira triumphierend auf und packte das Messer, dass während der ganzen Sache auf den steinernen Zellenboden gefallen war, fester. „Du wirst diesen Tag noch verfluchen, und ich wette, dass deine Seele morgen schon auf dem Weg zu den Göttern ist. Aber zuvor – " Er grinste bestialisch und riss die Uniformjacke mit kräftigen Zügen auf. Leise klappernd fielen die Knöpfe zu Boden und rollten nach allen Seiten auseinander. Verzweifelt wimmerte Hotáru auf, als Káshira lächelnd damit begann, seinen Gürtel aufzuschneiden. „Bitte – ich lasse dich frei, aber – tu es nicht, ich bitte dich!" „Jetzt bittest du? Wie erbärmlich du doch bist. Wärst du ein Mann, dann würdest du es mit Anstand tragen – aber nein, du winselst wie ein Hund..."

„Nein, ich – Bitte, bitte, NEIN – " Halb wahnsinnig vor Entsetzten warf sich Hotáru heftig in den Ketten hin – und her, aber es nützte alles nichts. Höhnisch lachend packte Káshira seine Hüften und riss mit einem Ruck die Fetzen seiner Uniform nach unten. „Daran bist du ganz alleine schuld – "

Mit einem entsetzten Laut fuhr Hotáru aus seinem Traum und bemerkte, dass er bereits halb aufgerichtet im Bett saß – Káshira hatte ihn unter den Achseln gepackt und fest an sich gezogen, während er – Hotáru erstarrte und riss seine Augen weit auf, als er in seinem Mund etwas Merkwürdiges fühlte – so warm und weich –

Nach den ständigen Störungen in dieser Nacht war Káshira schließlich doch noch traumlos eingeschlafen und spürte plötzlich eine unruhige Bewegung neben sich. Noch völlig von der Tiefe des Schlafes benebelt, bildete er sich ein, eine seiner zahlreichen Freundinnen neben sich zu haben – vielleicht Uhyō oder Kokemómo...

Als sie sich wieder heftig regte, wachte er halb auf und packte sie verschlafen um die Taille. „So was Unruhiges! Kannst du nicht schlafen, oder was ist los?" Zärtlich drückte er ihr einen Kuß auf die Lippen und streichelte sanft ihren Körper, als ihm plötzlich etwas Seltsames auffiel...

„AARGH!" Entsetzt fuhren die beiden Übeltäter auseinander, als sie im selben Augenblick bemerkten, was sie da eigentlich im Begriff waren zu tun. Für einige Sekunden saßen sie sich wie vom Donner gerührt gegenüber, bis sich Káshira unerwartet beide Hände vor das Gesicht presste und fassungslos stöhnte. Aus seiner Nase quoll ein ganzer Blutstrom... Hastig sprang er auf und fegte nach unten, um sein Gesicht im Fluß zu waschen.

Unterdessen presste sich Hotáru verstört wieder in sein Kissen zurück und zog verzweifelt die Decke über den Kopf. Na wunderbar. Vermutlich wurde er nun dank Káshira zum Gespött der ganzen Gruppe – wenn er doch nur zu Hause wäre...

Nachdem Káshira eine ganze Weile lang im lauwarmen Wasser gesessen war und sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte, beschloss er in Zukunft Hotáru am besten zu ignorieren und diesen peinlichen Zwischenfall nie mehr zu erwähnen. Das würde seinem Kameraden auch vermutlich das Liebste sein, da war er sich sicher. Armer Hotáru. Káshira tauchte sein Gesicht unter Wasser und ließ die Atemluft in kleinen Bläschen entweichen. Er hatte ihn sicherlich furchtbar erschreckt.

Als er schließlich genug mit sich und der Welt gehadert hatte, schlüpfte er eilig in die Kleidung, die sie noch von Manua bekommen hatten. Vielleicht konnten sie sich ja irgendwo was Neues kaufen, das kam darauf an, wie hoch die Gefahr einer Entdeckung im Moment war.

„Senpai Káshira, du bist aber spät aufgestanden! Hast wohl verschlafen, was?" kicherte Haná vorlaut, die überraschend hinter ihm aufgetaucht war und Sénsō im Arm heftig hin – und herschwang. „Das Frühstück ist ja schon längst fertig, fast jeder hat schon gegessen!" „Ja..." Káshira wusste nicht, was er sagen sollte. „Wie geht es denn Kitsuné?" fragte er schließlich nach einer längeren Pause. „Och, der ist schon wieder auf den Beinen! Moko kümmert sich gerade um ihn, er hat ihm Reissuppe gekocht und misst sein Fieber. Aber ich glaube, er hat schon keines mehr." Gelangweilt hüpfte sie von einem Bein auf das andere, den apathischen Pteranodon in ihren Armen. „Ich gehe jetzt zu den anderen, vielleicht spielen die Zwillinge ja etwas Lustiges..." Und schon war sie hinter einer Gruppe riesiger Farne verschwunden. Káshira sah ihr kopfschüttelnd nach und machte sich auf den Weg zurück zum Fahrzeug, das Moko wie üblich auf einer Lichtung geparkt hatte. Unterwegs begegnete er Kiíchigo, die ihn begeistert anlächelte und bis zu Mokos provisorischem Herd neben ihm herlief. „Kommst du gerade vom Fluß? Die nassen Haare stehen dir echt super, ehrlich!" „Ähm, Danke, Kií- chan. Aber – " „Ich muß dir etwas sagen, Káshira- kun. Was echt Vertrauliches – " „Okay..." Überrascht folgte er ihr an den Rand der Lichtung, wo sie durch einige Felsblöcke vor etwaigen neugierigen Blicken geschützt waren. Elegant ließ sie sich auf einen flachen Stein gleiten und blinzelte ihn aus großen, unschuldigen Kulleraugen an. „Káshira- kun..." „Ja?" „Ich – ich weiß ja, du – ach – " Geknickt brach sie ab und seufzte leicht auf. Káshira lächelte ihr aufmunternd zu und tätschelte sachte ihr Knie. „Na, was hast du denn auf dem Herzen, hmm? Komm schon, mir kannst du es ja sagen..." „Ach, weißt du..." Bekümmert wandte sie sich ab und seufzte lauter. „Ich bin ja nur ein einfaches Mädchen, weißt du – ich könnte nie erwarten, dass du mich – mich vielleicht etwas – nur ein kleines bisschen – magst..."

Káshira zögerte einen Moment, was Kiíchigo dazu brachte, ein wenig weiterzubohren. Unschuldig zwinkerte sie aus dem Augenwinkel unter langen, weichen Wimpern zu ihm hin. „Ich... ich muß dir sagen, Hotáru ist ja so was von einem Versager – er wird nie so werden wie du – so – so männlich..." „Also ehrlich, Kií- chan... soo ist es ja nun auch wieder nicht..." „Oh, doch! Wenn du wüsstest – weißt du, manchmal glaube ich fast, die Gerüchte aus der Schule stimmen und er ist – na ja, vom – anderen Ufer..." Unschlüssig starrte sie ihn aus großen Augen an. Langsam nickte er und schloss die Augen. „Ja, manchmal denke ich das auch... er ist schon ziemlich seltsam, nicht wahr?" Kiíchigo klagte plötzlich laut auf. „Oh, ich wusste es! Oh nein, ich hatte es ja immer schon im Gefühl, aber nun – " Gekonnt begann sie bühnenreif zu schluchzen und wurde von Káshira zärtlich in den Arm genommen. Nach einer kurzen Pause, in der er an die Geschehnisse des Morgens denken musste, fasste er sie heftig um die Hüften und begann damit, sie stürmisch zu küssen, was sie sich einige Sekunden lang entzückt gefallen ließ, sich dann aber scheinbar aufgebracht von ihm löste. „Also wirklich, ich bin doch ein ehrbares Mädchen, und nicht so Eine! Was, wenn uns jemand sieht, was – " „Schon passiert, Kiíchigo." Mit einem bitteren Zug um den Mund tauchte plötzlich Hotáru hinter einem der Felsblöcke auf und musterte die beiden Ertappten mit einem unbeschreiblich verächtlichen Blick, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Danach wandte er sich schweigend um und verschwand so plötzlich wieder hinter den Findlingen, wie er gekommen war.

Kiíchigo sprang entsetzt auf und wollte ihm folgen, als sie Káshira am Arm packte und wieder zurück auf seinen Schoss zog. Gelangweilt tätschelte er ihr Handgelenk.

„Vergiß' ihn doch einfach! Wen kümmert's schon, was er wieder für Mucken hat." Káshira zog sie fest an sich, während er immer wieder Hotáru's wütenden Blick vor Augen hatte und ihren kleinen Morgenkuss nicht vergessen konnte. Na wunderbar; da hatte er sich ja in eine tolle Sache hineinmanövriert. Kiíchigo seufzte verzweifelt und zog plötzlich einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche. „Sieh mal, das habe ich mitgenommen – ob es wohl je wieder so wird wie früher?" „Was ist das?" Káshira nahm ihr das Ding, das sich als Fotografie entpuppte, aus der Hand und betrachtete es neugierig. „Cool! Du, Suigín und ein schönes Haus samt Pool! Und, wo war das?" „Auf O- shimá. Seine Eltern haben mich eingeladen, mit ihnen den Sommerurlaub zu verbringen, die haben dort ein Haus, ich sage dir..."

Káshira schwieg einen Augenblick gedankenverloren, dann erhob er sich abrupt und schob sie von sich herunter. „Ich will jetzt gerne was essen, okay?" „Ja, aber – " Sie war verwirrt über seine plötzliche Stimmungsänderung und schob das Foto wieder zurück in ihre Tasche. Was er wohl hatte?

Ärgerlich über sich selbst wanderte Káshira wieder zu Moko's Herd zurück und griff nach einer der Schüsseln, die bereits dort zur Verfügung standen, um sich eine Portion Kenchinjiru zu holen. Anscheinend hatte schon jeder gegessen und vergnügte sich auf seine Art und Weise;  die Zwillinge, Haná und Chujitsu spielten weit entfernt mit Sénsō, und die anderen waren nicht zu sehen. Plötzlich griff eine Hand nach seinem Arm und zwang ihn, sich umzudrehen. Hinter ihm stand Hotáru und musterte ihn mit finsterer Miene. „Du hast mich zuerst geküsst, das wollte ich bloß noch mal feststellen." „So?" Káshira warf ihm einen undurchschaubaren Blick zu. „Glaub' mir, eine hässliche Kröte wie dich würde wohl keiner bei wachem Verstand küssen – kein Wunder, dass ich keinen Hunger habe. Arme Kiíchigo – Sie ist mit so was wie dir geschlagen – " „Kiíchigo – " Hotáru lachte verächtlich auf. „Du kannst sie gerne haben. Es ist wohl klar, dass wir uns nicht im Geringsten verstehen – ich will ihr Leben nicht noch schlimmer machen, als es schon ist. Deshalb – " Er seufzte leicht. „Deshalb löse ich die Verlobung, und zwar gleich. Je eher, desto besser. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende – obwohl es für sie sowieso ein Ende mit Jubel sein dürfte – " Káshira musterte ihn erstaunt. Das Hotáru so was tun würde –  „Wirst du sie trösten, ja? Aber bitte – " Die blonden Haare wehten durch eine leichte Brise zart über sein blasses Gesicht. „Du darfst sie nicht genauso behandeln wie deine ganzen anderen Freundinnen – das erträgt sie nicht so leicht, denke ich." Er lächelte schwach und ließ Káshira verwirrt zurück.

„Wo warst du?" Watarí trat unerwartet aus der Tür des Wagens und packte Hotáru an der Schulter. „Willst du denn gar nicht wissen, wie es Kitsuné geht?" „Wie geht's ihm denn?" entgegnete er abgelenkt, denn gerade hatte er Kiíchigo erspäht, die langsam auf das Fahrzeug zukam. „Besser, aber – " Watarí sprach nur noch zu seinem Rücken. Hotáru eilte auf seine Verlobte zu und fasste ihr Handgelenk. „Kiíchigo, wir müssen reden, und zwar jetzt sofort." „Aber – " Eigentlich hatte sie nicht die geringste Lust dazu, aber sein Griff war ziemlich fest, und er zog sie bereits, ohne ihre Antwort abzuwarten, auf den Rand der Lichtung zu.

„Was ist denn? Was hast du?" Etwas ängstlich starrte sie ihn an und versuchte in den grünen Augen zu lesen. Ob er wegen der Sache von vorhin noch wütend war? Verdenken konnte sie es ihm ja nicht...

„Kiíchigo, ich muß dir etwas Wichtiges sagen. Ich weiß, ich war die ganze Zeit unehrlich zu dir – aber das weißt du ja, du musst es wissen." Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus; er schien dieses Gespräch schon seit langer Zeit führen zu wollen. Kiíchigo bekam es langsam mit der Angst zu tun. „Was weiß ich? Wovon redest du überhaupt?"

„Ich liebe dich nicht, ich habe dich nie geliebt, ich mag dich nicht einmal gerne. Diese ganze Verlobungsgeschichte war eine dumme Idee meiner Eltern, und auf diesem Planeten, denke ich, brauchen wir diese Maskerade nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Du bist eben so – "

Er stockte kurz und holte dann tief Atem. „Weißt du, wenn man einmal – einmal einen richtig wertvollen Menschen kennengelernt hat, dann ist es nicht mehr so einfach, ebenso belanglose Menschen wie einen Selbst zu ertragen. Dann sucht man immer nach jemanden, der – " „Du willst die Verlobung lösen? Ist es das? Wegen Aranámi, hmm? Oder? Die Kuh hat's dir wohl angetan, dann hast du immer jemanden, mit dem du dich ach so klug unterhalten kannst!" Kiíchigo weinte nahezu; Hotáru betrachtete sie jedoch ohne jeglichem Mitgefühl. „Du bist ebenso wertlos wie ich. Am Anfang dachte ich noch, das wäre schon in Ordnung, aber mittlerweile kann ich es nicht mehr ertragen. Dich nicht und mich nicht. Sei mir nicht böse, aber ich – ich kann einfach nicht so leben, wie ich soll, bloß weil es deine und meine Eltern glücklich machen würde." „Aber – aber das kannst du doch nicht tun! Wir – wir waren doch irgendwie glücklich miteinander, oder – oder etwa nicht?" Jetzt heulte sie so richtig los. Riesige Krokodilstränen kullerten aus ihren großen Augen und hinterließen schimmernde Spuren auf ihrem schönen Gesicht. „Glücklich? Du hast doch keine Ahnung, was Glück ist. Für dich ist es Schmuck, oder schöne Kleider. Oder, dass du vor deinen Freundinnen angeben kannst. Aber Glück? Nein, du weißt nicht, was das ist." Er lächelte bitter und ignorierte ihr immer lauter werdendes Schluchzen. „Glück ist doch nur von kurzer Dauer. Irgendwann wird es alltäglich, und dann ist es vorbei. Und manchmal – " Hotáru stockte kurz. „Manchmal endet es viel zu früh, und keiner bemerkt es." „Ach, hör doch auf, so was Dummes daherzureden! Du – du willst doch nur mit dieser Kuh zusammenkommen!" kreischte sie schrill auf und warf ein zufällig daliegendes Holzstück nach ihm. Mühelos wich er aus und begann wieder auf die Lichtung zurückzugehen. „Es tut mir leid, wenn ich dich aufgeregt habe. Aber das alles musste einfach mal gesagt werden – besser früher als zu spät."

Kiíchigo blieb sitzen und weinte herzzerreißend, bis sie plötzlich eine vertraute Stimme hörte. „Ja, was hast du denn, Kií- chan? Warum weinst du?" Tókui war mit erschrockener Miene zu ihr getreten und legte die Hand auf ihre Schulter. „Oh, Hotáru ist so gemein zu mir! Wenn du wüsstest, was er zu mir gesagt hat – wie er mich behandelt – " Sie konnte nicht aufhören zu schluchzen, während das rothaarige Mädchen sanft ihre Schulter tätschelte und sie mit besorgter Miene musterte.

„He, Kitsuné- chan! Wie geht's dir denn?" fragte Chujitsu neugierig, als er leise durch die Tür des Fahrzeugs schlüpfte und den schon recht gesund aussehenden Patienten musterte, der aufrecht im Bett saß und ziemlich erstaunt über den unerwarteten Besuch wirkte.

„Hmm... Besser. Ich habe kein Fieber, sagt Moko.", antwortete Kitsuné und wagte ein schmales Lächeln. „Willst du was von mir?" „Ooch, ich wollte bloß so mal vorbeischauen, wie es dir geht. Möchtest du was spielen oder so? Draußen – " „Ich mag nicht draußen spielen," erwiderte der kleine Junge mit den orangen Haaren leise und bestimmt. „Das gefällt mir nicht." „Oh." Chujitsu war für einige Sekunden aus dem Konzept gebracht und schwieg nachdenklich. „Hey, weißt du was, Kitsuné? Sag' mal, hast du eigentlich schon mal ein Mädchen – also, du weißt schon – " „Nein, was?" Kitsuné war verwirrt und starrte Chujitsu, dessen Ohren eine rötliche Färbung annahmen, ratlos an. „Na, du weißt schon – hast du schon mal ein Mädchen – also, geküsst?" „Nein." Jetzt war es Kitsuné, der vor lauter Verlegenheit rot anlief. „Möchtest du es mal – probieren?" flüsterte Chujitsu kühn und wagte vor lauter Anspannung gar nicht, seinen Gegenüber anzusehen, der zwar verlegen, aber der Idee nicht sonderlich abgeneigt zu sein schien. „Und – mit wem? Mit dir?" „Hmm... warum nicht? Aber du musst den Mund aufmachen." „Hmm." Mit puterroten Ohren näherten sich ihre Gesichter immer weiter, bis sie zu guter Letzt ihre Lippen auf die des anderen pressten. Mitten hinein in diese rührend unschuldige Szene platzte das Klappern der Tür. Entsetzt fuhren die zwei Jungen auseinander und starrten auf eine entgeisterte Haná, die sich nach wenigen Sekunden sprachlos umdrehte und den Wagen verließ. Draußen lief sie auch sofort Kamomé in die Arme, die sie an beiden Schultern packte und streng musterte. „Was rennst du hier so sinnlos herum? Hast du denn nichts Besseres zu tun?"

„Uh, äh! Kitsuné und Chujitsu küssen sich!" kreischte die Kleine entzückt und versuchte, aus dem resoluten Griff zu entkommen, was ihr nicht gelang. Das ernste, blauhaarige Mädchen sah ihr beschwörend in die Augen und verstärkte den Druck ihrer Hände. „So, und du hörst mir jetzt mal ganz genau zu. Ich will, dass du keinem davon erzählst, ist das klar? Und wenn ich keinem sage, dann – " „Aber – " begann Haná zuerst enttäuscht und brach ab, als sie Kamom's ernste Miene sah. „Mmh – okay." Murrend trottete sie von dannen und murmelte noch eine Weile dumpf vor sich hin, bis sie hinter einem dichten Büschel Palmfarne verschwunden war. „Puh." Kamomé seufzte erleichtert auf und strich ihr Haar zurück. Das war ja noch mal gutge- „WAS? Mein Bruder hat Was?" Entsetzt brach Káshira zwischen zwei Schachtelhalmstämmen hindurch und starrte sie entgeistert an. „Was soll denn das, Aranámi? Das ist doch wohl – " „Mein Bruder würde nie so was machen. Das ist doch wohl klar.," ertönte prompt eine andere, leisere Stimme. Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich Hotáru und runzelte ärgerlich die Stirne. „Die Kleine hat wohl schon Wahnvorstellungen – " Beunruhigt musste Kamomé bemerkten, wie sich die Beiden zuerst wütend gegenseitig anstarrten und sich dann wie auf Kommando gleichzeitig in Richtung Wagen drehten. „Nein, halt – " Aber es hörte keiner der Beiden auf sie. Mit schnellen Schritten erreichten sie das Fahrzeug und rissen gemeinsam die Türe auf, hinter der ihre kleinen Brüder hockten und sie mit entsetzt – ertappter Miene beäugten. „Uhm – was wollt ihr denn – " „Sag' ihm, dass du gar nichts gemacht hast! Haná rennt draußen herum und erzählt Lügenmärchen – " schrie Káshira aufgebracht und legte seinem Bruder beschützend die Arme um die Schultern. „Pah, deinem verruchten kleinen Bruder ist doch alles zuzutrauen! Wenn er was gemacht hat, geht's auf jeden Fall nur auf sein Konto!" brüllte Hotáru ärgerlich zurück und packte Kitsuné.    

„Aber – " bemühten sich die Zwei, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Leider vergebens. Wütend beschimpften sich ihre großen Brüder gegenseitig, bis es Beide nicht mehr aushielten. „Seid doch still! So war das doch gar nicht!" kreischten die Kleinen schließlich und befreiten sich ruckartig aus den Umarmungen ihrer Brüder, die allerdings nicht auf sie achteten, sondern lediglich damit beschäftigt waren, sich immer gehässigere Schimpfwörter an den Kopf zu werfen. Still nahm Chujitsu schließlich Kitsuné an der Hand und zog ihn mit sich. „Komm, gehen wir nach draußen. Sollen die ihre Sachen doch untereinander ausmachen, hier geht es ja gar nicht um uns." „Okay." Der orangehaarige Junge nickte zustimmend und folgte ihm eilig.

„So, das ist ja wohl das Letzte! Dein elender kleiner Bruder hat – " „Das musst ja du gerade sagen! Du hast ja selber – " Sie hatten nicht einmal bemerkt, dass sie sich nun ganz alleine in dem kleinen Vorraum befanden. Káshira bemerkte es als erster und sah sich suchend um. „Die Kleinen sind weg." „Na toll, jetzt hast du sie verjagt.," antwortete Hotáru brummig und blitzte seinen Gegenüber wütend an, der plötzlich die Beherrschung verlor und ihn am Kragen packte. „Hey, was – " „Du gehst mir so auf die Nerven, dass ich schon gar nicht mehr weiß, was ich tun soll." Ärgerlich versuchte Hotáru, sich aus seinem festen Griff zu befreien, doch Káshira, der ihn an die Wand gedrückt hatte, war einfach zu stark. „In Zukunft soll dein Bruder Kitsuné einfach in Ruhe lassen, okay? Und was dich betrifft, du – " „Mmmh..." Der braunhaarige Junge hatte sich einfach nach vorne gebeugt und drückte ihm nun einen zärtlichen Kuß auf die Lippen. Hotáru erstarrte zwar vor Schreck, aber nicht genug, um diese Szene nicht doch ein bisschen zu genießen. Dann allerdings machte er sich von Káshira los und stieß ihn heftig von sich weg. „Du bist genauso wie dein Bruder, nicht? Machst du das absichtlich, damit ich mich mal wieder so richtig schlecht fühlen soll?" „Nein." Sein Gegenüber hob plötzlich die Hand und gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Ich wollte mir nur noch mal das ekelhafteste Gefühl in meinem ganzen Leben zurück in den Sinn rufen." Höhnisch lächelnd verabschiedete er sich, während Hotáru seine Hand an den Mund presste um den dünnen Blutfaden, der über sein Kinn tropfte, abzuwischen und seinem Gegner fassungslos hinterher zu starren. Aus Káshira wurde er einfach nicht schlau; aber wenigstens war klar, dass sich die beiden Brüder in der Beziehung sehr ähnelten.

„Seid ihr jetzt alle da? Manua- san hat uns was Wichtiges zu sagen!" trompetete Sachou geräuschvoll über die Lichtung. Murrend folgten die Kinder seinen auffordernden Rufen und versammelten sich lustlos in einem Halbkreis um die schwarzhaarige Frau. „Was ist denn los? Wir haben gerade so schön gespielt!" murmelte Haná, während sie Kamomé einen ärgerlichen Blick zuwarf und vor lauter Ärger am liebsten auf den lehmigen Boden geschlagen hätte. Pah. Jetzt hatte sie mal eine echt tolle Neuigkeit, und dann durfte sie nicht mal was erzählen. Aber um gegen ihren Aufforderung zu handeln hatte sie viel zu viel Angst vor dem blauhaarigen Mädchen. Mit Aranámi war nicht gut Kirschen essen, wenn man nicht tat, was sie wollte. „Also, hör mal alle zu. Mir ist gerade eine gute Idee gekommen, wo man euch vielleicht noch helfen kann. Uerū ist ja doch ein Stück weit weg, und ohne Schiff kommen wir nicht weiter. Aber dafür gibt es einen Schrein, der unter dem Namen „Te Hihiri" bekannt ist. Dort walteten die Götter und brachten ihren Segen über unsere Welt. Jedenfalls sagt man so." „Wie weit ist er von hier entfernt? Wie kommen wir ungesehen dorthin, und wer kann uns dort helfen?" fragte Kagamí eifrig und linste zu Kamomé, die im Moment ziemlich abwesend wirkte und leicht Hotáru's Hand tätschelte, während sie ihm leise zuzusprechen schien.

Kiíchigo dagegen schien von der erhöhten Aufmerksamkeit, die ihr Káshira zuteil werden ließ, mehr als entzückt zu sein, denn sie würdigte ihren Exverlobten keines Blickes. Auch die beiden Streithähne beachteten sich nicht mehr, sondern sahen kalt aneinander vorbei und schienen fest entschlossen, einander zu vergessen.

„Tja, den Weg weiß ich, es gibt einige Schleichpfade durch den Wald, da dürfte uns kaum jemand sehen. Wer allerdings der Hüter des Schreins ist, kann ich euch nicht sagen, aber ich denke, einen Versuch ist es allemal wert, oder?" Geflissentlich blickte Manua in die Runde und lächelte aufmunternd. „Auch wenn es dort nichts wird, so ist es doch eine Möglichkeit. Vielleicht erhaltet ihr dort wertvolle Informationen, wie ihr wieder in euer Land kommen könnt, ohne von den Seemonstern gefressen zu werden!"

Sachou seufzte innerlich und senkte den Kopf. Noch immer hatten sie Manua noch nicht erzählt, woher sie tatsächlich kamen, und er wollte sich lieber nicht ausmalen, was sie dazu sagen würde. Noch dazu hatten sie ihr immerhin ziemlich dicke Lügen aufgetischt, und ob sie ihnen das verzeihen würde... Fraglich.

„Na gut, dann brechen wir mal auf, oder? Wozu hier ewig festsitzen." Tatkräftig sprang Káshira auf die Beine und zog Kiíchigo mit sich. „Los, Tókui! Wollen wir zwei fahren?" „Klar doch.," antwortete der Rotschopf und folgte ihm eilig. „Dann können wir uns wenigstens mal in Ruhe unterhalten."

Als sie bereits seit etwa einer halben Stunde im Fond des Wagens saßen und sich an Manuas Wegbeschreibung hielten, beschloss Tókui, endlich reinen Tisch zu machen und hub vorsichtig zu sprechen an. „Ja, sag' mal, Káshira- kun... wie ist denn das so zwischen Hotáru und dir? Wollt ihr euch nicht endlich vertragen?" „Hmm?" Káshira tat, als hätte er nichts gehört. „Wen meinst du?" „Na, Suigín. Du weißt doch genau – " begann Tókui erstaunt und wurde von ihrem Beifahrer kühl unterbrochen. „Wenn du diesen Idioten meinst, für mich existiert er nicht mehr. Meinetwegen soll er doch den Löffel abgeben, ist mir so was von egal." „Er gehört zu unserer Gruppe." „Na und? Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst."

„Also – " fuhr sie mehr erstaunt als ärgerlich auf und verstummte, als sie sein Gesicht sah. Káshira starrte kalt vor sich hin, ohne auch nur einen Muskel zu rühren. „Soll er doch verschwinden und sterben, das wünscht er sich doch, so wie er sich benimmt, dieser Idiot." Káshira schien jeder weiteren Unterhaltung über dieses Thema abgeneigt und begann von anderen Dingen zu reden. „Ob wir in dem Schrein wohl jemanden finden, der uns hilft..."

„Suigín- kun." Kamomé sprach nur zu seinem Rücken, denn Hotáru hatte sich mit dem Gesicht zur Wand in seiner Koje eingerollt und weigerte sich, jemanden anzusehen oder zu sprechen. „Was hast du? Ist was los?" Schweigen. Sie seufzte und strich ihr hellblaues Haar zurück. „Wirst du jetzt krank, wie dein Bruder? Soll ich – "

„Nein.," erklang es plötzlich mit erstickter Stimme von der Pritsche her. „Warum, Aranámi? WARUM?" Hotáru hatte zu zittern begonnen und starrte die metallisch schimmernde Wand vor sich so durchdringend an, als hätte sie eine Antwort für seine Fragen parat.

„Warum was?" „Warum kann mich keiner leiden, Aranámi? Warum bin ich – bin ich bloß so hassenswert?" „Was redest du denn daher?" fragte sie kopfschüttelnd und beugte sich leicht über ihn. „Ich finde dich nicht hassenswert.," fuhr sie fort, als sie einen leichten Kuß auf das wirre, blonde Haar drückte und beruhigend seine Schulter tätschelte.

„Wir sind da! So schnell, in nur einem Tag!" jubelte Manua glücklich und lächelte Sachou strahlend an, der daraufhin in einen regelrechten Glückstaumel fiel und fortan nur noch mit einem breiten Grinsen am Gesicht zu sehen war. Tókui seufzte leise, als sie es bemerkte. Dieser Trottel...

Der Schrein strahlte in der Abendsonne eine hoheitsvolle und ehrfurchtgebietende Stimmung aus, die von den Kindern angemessen gewürdigt wurde. „Ohh... wie wunderschön!" seufzten alle, mit Ausnahme der beiden Streithähne, die sich immer noch die kalte Schulter zeigten. Diesmal schien es allerdings ernster als sonst zu sein, denn alle beide hatten beschlossen, sich nun ein für allemal zu ignorieren, was sowohl Tókui wie auch Kamomé mit Sorge beobachteten. Es war wirklich, als wäre für den einen der andere nicht da; sie stritten nicht, sahen sich nicht an und sprachen nicht miteinander, einfach so, als wären sie Luft.

Den Übrigen fiel es nicht sonderlich auf, sie waren zu sehr damit beschäftigt, den Schrein zu bestaunen, der aus dunklem Basalt gebaut worden war und sich inmitten einer düsteren, wilden Dschungellandschaft erhob. Der ganze Ort wirkte wie ein unendlich schönes, verbotenes Terrain, das keinem Sterblichen Zutritt gewährte. Und dennoch waren sie hier.

Stumm schritt die Gruppe, angeführt von Manua, die breite, von Schlingpflanzen überwucherte Treppe entlang, die sich wie eine Brücke über einen kleinen See spannte, in dem sich einige Fische zu tummeln schienen, denn man konnte, wenn man genau hinsah, ihre schuppigen Leiber unter der klaren Wasseroberfläche erkennen, wie sie eilig hin – und herhuschten.

Hoffnungsvoll betraten die Kinder den stillen Tempel und riefen laut, um die Aufmerksamkeit eines möglichen Priesters zu erregen. Leider vergebens; schon seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten schien niemand hier gewesen zu sein. Schlingpflanzen hatten sich ihren Weg in das Innere des Schreins gebahnt und viele der Statuen und Gegenstände umgeworfen oder zerbrochen; in einer Ecke entdeckten sie sogar ein menschliches Skelett, an dem noch einige Fetzen von Kleidung hingen. Tókui hielt die Kleinsten davon fern und betrachtete angeekelt die traurigen Überreste. „Das war wohl der Priester, was?" meinte Watarí und war über den lauten Nachhall seiner Stimme erschrocken. „Ja" antwortete Manua ruhig und begann langsam hin – und herzugehen. „Eigentlich sind diese Orte tabu für gewöhnliche Leute wie uns. Ich hoffe bloß, der Hohenpriester und seine Schergen fangen uns nicht; ich hasse ihn." „Hey, lasst uns mal sehen, was es hier so alles gibt! Ich bin ja so was von gespannt..." Ohne viel aufeinander zu achten, begann sich die Gruppe aufzuspalten um neugierig den Tempel zu erkunden. Alle Versuche Sachous, die wilde Meute aufzuhalten, halfen nichts, und so gab er es schließlich auf. „Na, dann macht eben, was ihr wollt...!"

„Sieh mal, da ist was, das sieht aus wie eine Kommandozentrale oder so!" kreischte Chujitsu entzückt auf, als er einen großen Saal betrat, in dem sich ein riesiger, runder Springbrunnen befand, der ebenso wie der restliche Schrein aus dem dunklen Basaltgestein geschaffen worden war. Das exakt kreisrunde Becken war leer; schon seit Jahrhunderten schien hier kein Wasser mehr eingefüllt gewesen zu sein. Wozu dieser riesige, beinahe drei Meter hohe Brunnen einmal gedient hatte, konnte sich keiner vorstellen, Manua am allerwenigsten. Der Säule, aus der vermutlich einmal eine vier – bis fünf Meter hohe Wasserfontäne gequollen war, hatten die Erschaffer dieses Tempels die Form einer Frau gegeben, die eine Wasserschale in ihren Händen hielt und mit einer Art Sari bekleidet war.

Das ruhige, aber dennoch sehr willenstarke Gesicht erinnerte Káshira an jemanden –

„Sieh mal, Aranámi, das könntest fast du sein, bloß älter und stilisierter! Findest du nicht?"

„Nein.," antwortete sie kühl. „Das sieht mir wohl überhaupt nicht ähnlich – "

Inzwischen spielte Kitsuné unentschlossen ein wenig an einem steinernen Pult, das man über eine Treppe erreichen konnte, in das einige gläserne Stäbe eingelassen waren, und zog kurzentschossen an einem der glitzernden Stöckchen. Plötzlich begannen sich tief unter dem Brunnen uralte Mechanismen in Bewegung zu setzen, und aus der steinernen Wasserschale quoll ein Strom dunklen, brackigen Wassers, dem nach und nach Kristallklares folgte. „Was hast du bloß getan? Was ist das hier?" rief die Gruppe nach oben und eilte zu ihm. Bevor sie allerdings auch nur die Treppe hinter sich gebracht hatten, geschah etwas sehr Seltsames.

Das Wasser schien eine Art Wand zu bilden, auf der sich etwas zu regen begann – wie auf einer riesigen Kinoleinwand –

Starr vor Erstaunen und wie gebannt von dem unheimlichen Geschehen taumelten die Kinder wieder zurück und stellten sich vor die Wasserwand; auch Kitsuné verließ seinen Platz am Pult und gesellte sich zu ihnen. Langsam bildeten sich verständliche Formationen, zu denen urplötzlich eine Art Ton stieß –

Die Projektionswand zeigte unscharfe Silhouetten von einer Gruppe Menschen in weißen Kleidern, die offensichtlich begeistert in die Kamera sprachen. Leider war nicht sehr viel zu verstehen; lediglich Bruchstücke.

„... Welt... liegt in den letzten Zü...en.... aben ... neue Welt gesch..ffen... Nennen sie... oa... ie... elt der Freiheit... der W... ohne Tab... ohne Beschränkung... Frei...t..."

Das Bild flimmerte und wurde noch unschärfer als zuvor; die Silhouetten verschwammen und vermischten sich zu einer Masse aus Formen und Farben. Nur die Stimme einer Frau war noch unter starkem Rauschen zu hören. „...ach Jahren Arbei... schaffen... eues Leben... .... Evoluti... Projekt.. No...  Wir haben beschlo.... die Te... zu verb.... durch kybern... Rob...alle achz.. Jahr........." Dann rissen Stimme und Rauschen so plötzlich ab, wie sie erklungen waren; nur Stille blieb.

Fassungslos starrte alles auf den Brunnen, aus dem immer weniger Wasser floss, bis der Strom schließlich versiegt und auch die letzten Pfützen im runden Basaltbecken ausgetrocknet waren.

„Puh, was war das denn? Ein – eine Art Kino, oder was? Total irre! Habt ihr verstanden, was diese Typen da gequatscht haben? Krank!" Verwirrt und aufgeregt rannten die Kinder um die große Statue herum und betrachteten sie von allen Seiten. Nun allerdings schwieg sie; obwohl Chujitsu und die Kleinen eifrig damit begonnen hatten, die Stäbchen hin – und her zu stecken, rührte sich nichts mehr. Nur Kamomé bewegte sich nicht; still und starr blieb sie vor dem großen Brunnen stehen und betrachtete das ruhige Gesicht des Pfeilers. Die Augen dieser Frau schienen sich in sie hineinzubohren und sie an etwas zu erinnern – und diese Stimme – ein Hall aus der Vergangenheit – der Zukunft –

„Aranámi, komm schon, steh nicht da wie angewurzelt! Was ist denn los mit dir? Hörst du denn nichts?" Hotáru packte sie entsetzt am Arm und schüttelte sie heftig. „Der Tempel bebt!" „Suigín!" Ihre Stimme klang belegt, und als er in ihre Augen sah, konnte er mit Erstaunen ein heftiges Glitzern darin erkennen. „Kamomé..." besorgt sah er sie an und nahm sie unvermittelt in die Arme. „Kamomé... was hast du..." „Ich fühle mich so... so traurig..." Obwohl sie lachte, konnte er das Schluchzen tief in ihrer Kehle hören. „Kamomé- san..." Tröstend strich er über ihr feines blaues Haar und wiegte sie zärtlich hin und her.

„Könnt ihr das vielleicht lassen? Dieser Tempel stürzt ein!" Ärgerlich packte sie Kiíchigo an den Schultern und zog sie wütend schnaubend hinter sich her.

Der Schrein bebte; ob das Gewerke an den Kristallen daran schuld war, oder ob es sich um ein natürliches Erdbeben handelte, war im Moment nicht ersichtlich. Sicher war lediglich, dass der gesamte Bau zusammenzubrechen drohte; plötzlich kam Hotáru sein kleiner Bruder in den Sinn.

„Kiíchigo! Wo ist Kitsuné?" Besorgt bemühte er sich, die bebende Halle zu überblicken. „Weiß ich doch nicht!" rief sie zurück, was ihn wie ein Stich ins Herz traf. „Das musst du doch WISSEN!" „Nein!" Kiíchigo schüttelte ärgerlich ihren Kopf.

„Warte draußen auf mich, Kamomé! Ich suche Kitsuné, okay?" Noch bevor er ihre Antwort abgewartet hatte, löste er sich von den beiden Mädchen und rannte in den Schrein zurück. Schließlich kannte er seinen Bruder; und wie erwartet, hatte dieser sich verzweifelt in einer Ecke zusammengekauert, ohne auf die Idee zu kommen, die Flucht zu wagen. Große Steinblöcke lösten sich aus der Decke und prallten auf dem Boden auf, gewaltige Staubfontänen hinter sich herziehend.

Die anderen hatten den Schrein längst verlassen und drängten sich nun zitternd im Wagen zusammen, der zum Glück gut verborgen unter einer Gruppe Schachtelhalmbäume stand. Die Letzten waren Kamomé und Kiíchigo, die sich immer wieder suchend umdrehten, als würden sie auf jemanden warten.

Unterdessen packte Hotáru seinen kleinen Bruder am Arm und lächelte ihm aufmunternd zu. „Das schaffen wir jetzt, Kitsuné. Du musst nur laufen, und achte nicht auf die Steine. Nur laufen, ja?" Der kleine Junge nickte mit Tränen in den Augen und reichte ihm die Hand. „Laufen wir." „Ich hab' dich lieb, Kitsuné." Hotáru lächelte wieder und strich ihm leicht über die Wange. „Vergiß' das niemals."

Dann erhoben sie sich und rannten einfach los, ziellos durch die Halle, dem Ausgang zu, im Zickzack, um den dröhnend aufschlagenden Blöcken zu entgehen. Irgendwie schafften sie es, obwohl weder er noch sein Bruder später hätten sagen können, wie. Zitternd blieben sie vor den zusammengebrochenen Säulen stehen und schöpften entsetzt nach Atem, als Hotáru aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte –

„HALT!" Ein Heer von Schwertspitzen schien auf sie beide gerichtet zu sein, und ein Entkommen war unmöglich –

„Kitsuné, du musst weglaufen, hörst du, du stehst hinter mir, kriech' zwischen den zwei Säulenstücken durch, sie werden dich nicht sehen – " würgte er zwischen den Zähnen hervor, während er die Hand des Kleinen, der zum Glück halb von Schlingpflanzen und Bruchstücken verdeckt direkt hinter ihm stand, losließ. „Ja, aber – " warf dieser leise ein, wurde aber von Hotáru sofort zum Schweigen gebracht. „Tu, was ich dir sage! Lauf zu den anderen, und dann haut ihr ab! Ist das klar? Lauf jetzt! JETZT!" brüllte er plötzlich laut und trat abrupt zur Seite, um Kitsuné Deckung zu geben. Ein schrecklicher Fehler.

„Er will abhauen! FANGT IHN!" brandeten Rufe aus der Truppe auf, und von irgendeiner Seite her schwirrte etwas hell Blitzendes, unglaublich Schnelles und Scharfes auf ihn zu – 

„AAAH!" Mit einem immer lauter werdenden Schrei brach Hotáru in die Knie und schlug schmerzerfüllt die Hände vor das Gesicht, zwischen denen plötzlich eine regelrechte Blutfontäne hervorschoss und sich mit dem lehmigen Boden vermischte. Das Messer hatte ihn gestreift und eine tiefe Wunde in seine rechte Gesichtshälfte gerissen; der Schmerz ließ ihn halb wahnsinnig werden. „Verdammt! Wer hat euch befohlen, die Kinder zu verletzen! Könnt ihr denn keine Befehle befolgen?" Aufgebracht tobend bahnte sich der junge General mit seiner Gerte den Weg durch die Soldaten, dicht gefolgt von Hauptmann und Major, die ungewohnt kleinlaut wirkten. „Haltet ihn fest, er verletzt sich sonst selbst!" schrie Mosar durchdringend und packte in dem Moment Hotáru's Kinn, als Matandua nach den Armen griff, um den Jungen daran zu hindern, sich vor lauter Schmerz zu kratzen oder gar zu schlagen. Sanft hob der General den Kopf höher und wischte die blutverklebten blonden Haare zur Seite, um das Ausmaß der Wunde zu begutachten und das rechte Augenlid nach unten zu ziehen. Matandua musste für einen kurzen Moment den Blick abwenden, als sich Hotáru schreiend in seinem Griff hin – und herwand und in Ohnmacht fiel, als er den Schmerz nicht mehr ertragen konnte. „Ich bringen ihn zu Heilerin Talingo, sie ist die Einzige, die hier helfen kann." Mosar erhob sich resolut und streifte seinen Umhang ab, den er hastig um den Ohnmächtigen wickelte. „Mein Saurier ist der Schnellste, und hier ist keine Zeit zu verlieren."