24. Kapitel
Itámu
Der große Innenhof des Königsschlosses war in gleißenden Sonnenschein gehüllt, grell, aber noch nicht so heiß wie es erst zur Mittagszeit sein würde. Eine junge Géisha trat aus einem Seitentor und streckte die Nase in die Luft, während ihre rechte Hand unablässig einen Fächer hin – und herschwang und ihr Blick unruhig über die durch den Hof eilenden Menschen glitt. Sie hatte so ein unbestimmbares Gefühl –
„Oh, Mosar! Jīngtǐ, du bist wieder hier! Oh!" Hellauf entzückt eilte sie plötzlich auf eine hochgewachsene Gestalt zu, die sich deutlich von der sie umgebenden Menge abhob. „Na, wieder bei den Konkubinen gewesen, hmm? Schon so lange warst du nicht mehr bei – " Abrupt brach sie ab, als sie sein Gesicht sah, und nahm ihn beruhigend an der Hand. Er überragte sie um einiges, aber das nahm ihr nichts von ihrer Autorität. „Komm, wir gehen erst mal ins Haus, da bekommst du eine schöne Tasse Tee. Und dann erzählst du mir, was – " Erneut stockte sie, als sie das Blut auf seinem Harnisch sah. „Oh, bei den Göttern! Musstet ihr kämpfen? Wer hat euch angegriffen?" Mosar schüttelte nur stumm den Kopf und sah sie mit einem traurigen Zug um den Mund an. „Liebste, können wir nicht ins Haus gehen und dort weitersprechen? Ich – ich habe etwas getan, auf das ich nicht stolz bin – "
In ihrem Wohnzimmer angekommen warf er sich, nachdem er seine Rüstung ordentlich ausgezogen hatte, sofort auf eines ihrer kleinen Liegesofas und schloss müde die Augen. Yamanéko brühte inzwischen eine Schale Tee auf und setzte sich zu ihm, während er die Schale vorsichtig in die rechte Hand nahm und nachdenklich hin – und herdrehte.
„Was ist denn los, Jīngtǐ? So schweigsam kenne ich dich ja gar nicht. Und warum hast du Schuldgefühle? Musstet ihr denn jemanden tö – " „Shh, shhh, Yamanéko. So ist das nicht, ich muß dir das von Anfang an erzählen." Mit erschöpftem Gesicht sah er sie an und zwang sich zu einem Lächeln. „Die Fremden – von ihnen habe ich dir ja schon erzählt. Nun, gestern konnten wir sie beinahe fangen – sie befanden sich gemeinsam mit dieser Verräterin Samadhi im Te Hihiri – Schrein, der dann unerwartet durch ein Erdbeben einstürzte, noch bevor wir selbst hineingelangen konnten. Die meisten der Kinder ebenso wie Samadhi konnten entfliehen, aber – " Er schluckte und bemerkte dankbar, dass Yamanéko zärtlich damit begonnen hatte, seine Schultern zu massieren. „Zwei von ihnen kamen erst später nach draußen. Zuerst dachten alle, es wäre bloß einer, da der andere völlig verdeckt hinter ihm stand – er konnte fliehen. Den anderen fingen wir. Aber leider konnte einer meiner Männer seine Finger nicht im Zaum halten und musste natürlich ein Messer nach ihm werfen, das ihm mitten im Gesicht traf – nein, nicht was du denkst, er lebt noch, es ist am Wangenknochen abgeprallt, aber trotzdem – Ich wollte ihm helfen und ritt die ganze Nacht durch, um rechzeitig hier zu sein – vor einer halben Stunde habe ich ihn zu Heilerin Talingo gebracht, aber er hat Fieber – hohes Fieber, sagt sie. Sie ist nicht sicher, ob er es schafft."
„Das war aber nicht deine Schuld.," warf die junge Géisha sanft ein, nachdem sie während des gesamten Monologs nicht einmal den Mund geöffnet hatte. „Es war nicht dein Messer – " „Aber einer meiner Soldaten, Yamanéko! Ich hatte die Verantwortung, und, bei den Göttern, ich wollte den Fremden niemals weh tun! Und wenn jetzt einer ihrer Gruppe stirbt, dann – " „Heilerin Talingo ist eine fähige Frau. Sie wird ihm helfen, da bin ich mir ganz sicher." „Hmm." Er wirkte skeptisch, sagte aber nichts, sondern nahm lieber noch einen Schluck Tee. „Ich habe ein schlechtes Gewissen. Diese Fremden sind keine Kämpfer – das konnte ich sehen, als sie Samadhi befreit haben. Der Junge konnte sich nicht wehren."
„Soll ich später zu Talingo gehen und sie um Auskunft bitten? Du legst dich jetzt erst mal hin und schläfst eine Weile, zum Fürchten siehst du aus, ganz blaß und abgezehrt."
Energisch packte sie einige Kissen und schichtete sie unter seinen Kopf, dann zupfte sie an seiner Bekleidung. „Zieh das aus, ja? Mit Kleidern geht man nicht ins Bett."
„Ooch." Etwas brummig begann er sich langsam aus seinen Sachen zu schälen, nicht ohne ihr vorher noch einen schmollenden Blick zugeworfen zu haben, den sie lächelnd ignorierte.
„Zufrieden?" Mosar saß nur noch mit einem Lendenschurz bekleidet vor ihr und löste langsam seinen langen Haarzopf auf. „Mmh... schon besser." Yamanéko grinste und drückte ihn auf das Sofa zurück. „Und jetzt wird geschlafen.," meinte sie noch, als sie eine dünne Decke über seinen Körper legte und ihm einen Kuß auf die Stirne drückte.
Als Hotáru erwachte, war die Welt um ihn herum nicht so, wie er sie kannte. Nicht nur, weil er weder Zimmerdecke noch Bett vertraut fand, sondern weil mit seinen Augen etwas nicht stimmte. Seine rechte Gesichtshälfte fühlte sich steif und leer an, und ebenso leer war sein Blickfeld auf dieser Seite. Wenn er versuchte, den Kopf zu drehen, erfasste ihn ein so heftiger Schwindel, dass er es lieber bleiben ließ. Wo um alles in der Welt befand er sich bloß?
Plötzlich stürmten die Geschehnisse der letzten Nacht explosionsartig auf ihn ein. Ja, natürlich. Ein Messer hatte ihn getroffen und vermutlich das Auge verletzt, so schwer verletzt, dass es blind geworden war. Anders konnte es ja gar nicht sein. Als er verzweifelt und stumm zu schluchzen begann, beugte sich ein unbekanntes Gesicht über ihn, dass ihn aus ernsten Augen ansah. „Die Tränen schaden der Wunde.," war das Letzte, das er noch bei Bewusstsein hörte; dann versank er für die nächsten Stunden wieder in einen ohnmachtähnlichen Zustand.
„Und? Wie geht es ihm?" fragte Tókui leise, als Kamomé und Watarí in den Schlafraum traten. „Nicht so gut. Zuerst wollte er gar nicht mehr zu weinen aufhören; ständig meinte er, er wäre schuld an dem ganzen Unglück, was natürlich Unsinn ist. Aber Chujitsu ist zu ihm ins Bett gekrochen, und jetzt schlafen sie wenigstens beide ein bisschen." „Der Arme.," setzte Kamomé hinzu und schüttelte den Kopf. „Was für ein Pech." Erst jetzt bemerkte Tókui, wie blaß und abgekämpft sie und Watarí aussahen, aber das galt heute wohl für die gesamte Mannschaft. Jeden hatte die Nachricht, die Kitsuné schluchzend und schreiend überbracht hatte, erschreckt und getroffen. Obwohl kaum jemand Hotáru wirklich gut leiden konnte, so hatte sich doch keiner so etwas gewünscht. Als sein kleiner Bruder in Kamomé's Armen hervorstammelte, die Soldaten hätten ihn mitgenommen, aber er sei nicht einmal sicher, ob sein großer Bruder überhaupt noch am Leben sei – da war nicht nur Tókui eine kalte Schauder über den Rücken hinabgelaufen. Im Schein ihrer Taschenlampen, die von Manua stumm bestaunt worden waren, hatten sie nur noch einige Blutspuren und aufgewühlte Erde entdeckt. Hotáru war fort und entweder tot oder in der Gewalt des Generals, was auch immer das bedeuten mochte.
Stumm legten sie sich in ihre Betten und schlossen die Augen, aber schlafen konnten nur die wenigsten. Haná, Hiyokó, die Zwillinge und Kagamí schlummerten einigermaßen friedlich, ebenso wie Manua. Káshira dagegen hielt es nicht lange unter der Decke; nach einigen wachen Stunden, in denen ihn ziemlich unangenehme Gedanken gequält hatten, erhob er sich leise und schlich nach unten, wo er sich vor den Wagen setzte und in den glitzernden Sternenhimmel starrte. Kurz darauf gesellten sich Moko und Kamomé zu ihm, dicht gefolgt von Tókui, Sachou, Kiíchigo und Watarí, die sich schweigend setzten und zunächst ziellos in die laue Nachtluft blickten, bis sich schließlich Tókui als erste überwand. „Ähm... das mit Suigín ist schrecklich..." Sie brach ab, um die anderen zu beobachten, die allerdings erst einmal abwartend verharrten. „Manchmal denke ich, es wäre nicht so weit gekommen, wenn wir mehr auf ihn geachtet hätten – und auf Kitsuné – " „Ich habe ihm noch kurz vorher eins verpasst – und ich wollte – dass er einfach – verschwindet – " brach es plötzlich aus Káshira heraus, der den Kopf gehoben hatte und verräterisch glitzernde Augen zeigte.
Die Nacht schien jetzt die Zungen aller gelockert zu haben, denn nun ging es erst so richtig los. Während die anderen schweigend vor sich hinstarrten, begann auch Watarí zu reden.
„In letzter Zeit – da – ich hätte mich mehr – " Er stockte und wischte sich leicht über die Augen. „Er ist mein bester Freund, und ich schäme mich so – ich hab' nicht genug auf ihn geachtet – Und jetzt – "
Kiíchigo schluchzte zuerst nur leise vor sich hin, dann hob auch sie plötzlich den Kopf und starrte ihre Kameraden aus dunkel umrandeten Augen an. „Das habe ich ihm nie gewünscht, ganz sicher nicht! Das es so weit kommen musste – ich hätte ihn doch – "
„Es tut uns doch allen leid.," warf Sachou sanft ein und klopfte ihr beruhigend auf den Rücken. „Aber das ist jetzt nun mal nicht mehr zu ändern, wir – "
„Ihr seid ja so erbärmlich.," warf Kamomé plötzlich leise ein, und die Selbstvorwürfe, die eigentlich nichts weiter als Selbstgespräche gewesen waren, verstummten jäh. Jeder starrte das blauhaarige Mädchen an, dass sie mit bitterer Miene musterte. „Jetzt macht ihr euch Vorwürfe, jetzt, wo es schon viel zu spät ist. Warum habt ihr es Suigín denn nicht gesagt, als er euch noch hören konnte? Jetzt braucht er euer Selbstmitleid nicht mehr."
„Kamomé, das siehst du falsch – " versuchte Sachou einzuwerfen, doch er wurde sofort kalt unterbrochen. „Was sehe ich falsch? Ihr könnt ihn doch gar nicht leiden. Ihr, nein, wir alle haben schließlich oft genug über ihn gesprochen, und es war nie freundlich. Warum also heucheln wir jetzt, nur weil ihm etwas zugestoßen ist? Ich, für meinen Teil, bedauere nur, dass ich ihn nicht früher richtig kennengelernt habe, denn dann hätte ich nicht so viel versäumt – "
Nach ihren heftigen Worten starrte jeder betroffen auf den Boden und schwieg. Eigentlich hatte Aranámi ja recht; sie hatten so gut wie nie ein freundliches Wort über ihn verloren, warum also – „Ich glaube, wir haben uns einfach nie die Mühe gemacht, länger mit ihm zu reden, und er hätte es sicher nicht gewollt. Suigín ist eben nicht so der redselige Typ – sieh' dir mal seinen Bruder an –
„Káshi- chan, Kitsuné ist schon wieder wach und hört nicht auf zu weinen." Gähnend trat Chujitsu aus der Tür des Fahrzeugs und rieb sich verschlafen die Augen. „Er redet dauernd von einem Mädchen, glaube ich, aber er hat gesagt, er will – "
Unerwartet klappte die Tür noch einmal, und Kitsuné erschien. Sein Gesicht war leichenblass, und unter seinen Augen hatten sich tiefe, dunkelviolette Ringe gebildet. In der Hand hielt er ein Stück Papier, dass er schon seit längerem in seiner Hosen – oder Jackentasche mit sich herumgetragen haben musste, denn es war leicht gebogen und an den Rändern schon ein wenig grau geworden. Mit einer heftigen Bewegung streckte der kleine Junge seine Hand aus und drückte Káshira das Papier, dass sich nun als Foto entpuppte, in die Hand. „Da," sagte er brüsk. „Deshalb war mein Bruder so – ihr habt doch gerade darüber gesprochen. Das Mädchen auf dem Bild ist vor ca. zwei Jahren gestorben, sie war seine erste Verlobte. Ich glaube, von dem Schock hat er sich nie ganz erholt," fuhr er nachdenklich fort und starrte sinnend vor sich hin. „Ihr dürft ihm nicht böse sein – er ist eben so."
Ohne auf ihn zu achten blickte Káshira so intensiv auf das Bild, als wollte er jede Einzelheit in sich aufsaugen. Man konnte Hotáru zusammen mit einem sehr hübschen Mädchen, dessen violette Haare gerade ein wenig über ihr Gesicht geweht wurden, erkennen. Offensichtlich war das Foto im Winter aufgenommen worden, denn alle beide trugen dicke Wintermäntel, die allen beiden ausgezeichnet standen, wie Káshira mit einem leichten Anflug von Verlegenheit bemerkte. Er hatte Suigín noch nie so fröhlich wie auf diesem Bild gesehen. Er war nicht unbedingt oberflächlich heiter, sondern strahlte eine Art tiefes Glück aus – als würde er sich nichts weiter wünschen, als mit diesem Mädchen unter einem Baum zu stehen. Als er das Foto zu Tókui weiterreichte, stieß sie beinahe sofort einen leisen Schrei aus. „Káshira, Moko, seht doch! Das Mädchen haben wir doch mal mit ihm in einem Restaurant gesehen – im „La Vague", wisst ihr nicht mehr? Er sagte, sie wäre die Tochter einer der Geschäftspartner seines Vaters – wie hieß sie noch mal – "
„Sie war Chinesin und hieß Yún – Hǎiyáng Yún. Zwei Tage vor Weihnachten starb sie bei einem schweren Busunglück, und mein Bruder macht sich seither ständig Vorwürfe – "
„Was? Zwei Tage vor Weihnachten? War das der Tag, an dem er sich den Knöchel verstaucht hat?" Káshira war hellhörig geworden und spitzte aufmerksam die Ohren. Und er hatte Suigín verdächtigt, irgendwelche Drogen zu schlucken –
„Ja, kann schon sein.," antwortete Kitsuné abwesend. „Ich hab' das Foto hinter seinem Schreibtisch gefunden, das ist das Letzte, das er von ihr hat. Alle anderen Dinge sind verbrannt oder weggeworfen, Hotáru wollte nichts mehr davon haben."
„Oh." Alle schwiegen betreten und wussten nicht so recht, was sie darauf antworten sollten. Diese Eröffnung war ja ganz etwas Neues und warf irgendwie ein ganz anderes Licht auf Suigín, den eigentlich keiner so recht mochte, denn seine boshafte Art stieß nicht auf sehr viel Gegenliebe. Káshira hatte den Kopf gesenkt und schien tief in Gedanken versunken zu sein. „Warum hat er bloß nie mit uns darüber gesprochen? Er hätte es uns doch leicht erzählen können.", warf Kiíchigo leise ein und rieb sich die Augen. „Suigín ist eben keiner, der seine Seele auf einem Tablett vor sich her trägt, deshalb,und weil wir nicht seine Freunde sind. Wer weiß, wem er es erzählt hat, sicher einer Person seines Vertrauens.", antwortete Kamomé kühl und musterte ihre Teamkameraden mit einem leichten Anflug von Verachtung. Hatten sie das denn immer noch nicht begriffen?
„Das er sich immer noch Vorwürfe macht – dabei ist die ganze Sache doch schon zwei Jahre her..." meinte Moko plötzlich sinnend und blickte wie ertappt hoch, als Kitsuné überraschend ein bitteres Lachen ausstieß. „So, du meinst also, er hätte es schon längst vergessen sollen? Da kennst du meinen Bruder aber noch schlechter als ich. Nein, er denkt, er ist schuld, weil sie an dem Abend bei ihm war und er sie nicht nach Hause gebracht hat. Hotáru ist eben so."
„Hmm." Káshira brummte nachdenklich vor sich hin und malte mit dem Finger kleine Kringel in den Sand.
Plötzlich und ohne, dass er gewusst hätte warum, befand sich Hotáru wieder in der Kaikyō – Grundschule und beobachtete eine wilde Schar aufgeregter kleiner Erstklässler, die ungeordnet in der großen Eingangshalle hin – und herwuselten, bis sie ein Lehrer ermahnte und in eine Klasse führte. Ihn schien keines der Kinder zu bemerken; also blieb er der stumme Beobachter. Einige der Kleinen kamen ihm sogar bekannt vor; ein kleines rothaariges Mädchen sowie einen braunhaarigen, ziemlich vorlauten Bengel weckten ihn ihm unbestimmbare Erinnerungen. Als sich jeder an seinen Platz gesetzt hatte, öffnete sich die Tür noch einmal und eine junge Lehrerin führte einen kleinen, blonden Jungen mit sich, der darüber aber nicht sehr begeistert wirkte. „Hier, der Kleine ist erst heute gesund geworden, deshalb fängt er verspätet an – " flüsterte sie leise und lächelte dem schüchternen Kind freundlich zu, das aber nicht auf sie achtete, sondern den streng wirkenden Lehrer mit Besorgnis musterte.
Hotáru erstarrte, als er in dem Kind sich selbst erkannte. Sein erster Schultag; und soweit er ihn noch in Erinnerung hatte, war er nicht gerade erfolgreich verlaufen –
„Also, Kinder, das hier ist Suigín Hotáru. Leider war er die ersten zwei Tage krank, deshalb schließt er sich uns erst jetzt an – " Als der unsichtbare Hotáru langsam durch die engen Bankreihen schritt, konnte er ganz deutlich das Flüstern hören. „Pah, krank, was? Der Neue ist eine Flasche, da bin ich ganz sicher – " „Soll er doch Zuhause bei Mami bleiben – "
Schnitt. Er fand sich in der Sporthalle wieder, in der gerade ein Basketballmatch lief. Der braunhaarige Junge, den er nun als Káshira identifiziert hatte, spielte gut, er selbst erbärmlich. „He, du Flasche! Kannst ja nicht mal einen Ball fangen!" „Pah, sei du doch still. Immerhin bin ich älter als du, also musst du mir – " Ein heranbrausender Ball, der ihn am Kopf traf und für einige Sekunden außer Gefecht setzte, schnitt die kleine Rede ab. „Ein Trottel, das bist du!" kreischte Káshira lachend und rannte davon. Als Hotáru gerade geknickt in Richtung Umkleideraum schlich, schnitt ihm ein älterer Junge den Weg ab. „He, du! In Basketball bist du zwar schlecht, aber Volleyball ist sicher was für dich. Wenn du magst, kannst du ja mal zusehen."
Und dann war der rotblonde Junge ohne ein weiteres Wort verschwunden und ließ einen ratlosen kleinen Hotáru zurück.
„Heilerin Talingo, ich hätte eine Bitte." Hastig eilte die junge Géisha hinter der energisch ausschreitenden Frau her und bemühte sich, halbwegs elegant mit ihr auf eine Höhe zu kommen. Talingo trug einen Korb mit Kräutern an die Hüfte gepresst und beachtete Yamanéko zuerst gar nicht, bis diese ihr schließlich heftig keuchend die Hand auf den Arm legte. Ärgerlich drehte sie sich um. „Lady Jiāngguǒ, wenn Sie die Güte hätten, mir gleich zu sagen, was Sie wünschen, dann müssten wir nicht unnötig Zeit verschwenden." Yamanéko erstarrte im ersten Augenblick angesichts der unfreundlichen Antwort, allerdings fing sie sich schnell wieder und lächelte das Mädchen freundlich an. „Der Junge – der fremde Junge, den General Mosar hierher gebracht hat – wie geht es ihm denn?" „Den Umständen entsprechend. Eigentlich nicht sehr gut, er hat hohes Fieber und nimmt keine Nahrung zu sich, aber ich denke, wir werden ihn schon wieder gesund pflegen." Die Heilerin schüttelte leicht ihren Kopf und widmete sich wieder ihren eigenen Gedanken. Trotzdem gab Yamanéko nicht so leicht auf und folgte ihr weiterhin hartnäckig. „Wie geht es denn seinem Gesicht? Mosar erzählte mir, er wäre am Auge getroffen – wie schlimm steht es denn?" „Er wird es überleben.", gab Talingo kühl zurück. „Aber einige Dinge kann man eben nicht verhindern, so leid es mir tut."
„Wir gehen jetzt los und erkunden den Dschungel ein bisschen, ist das klar, Ryōki? Ihr haltet hier die Stellung, bis wir wieder da sind." Kamomé hängte sich ihre Tasche auf die Schulter und nickte den drei anderen Mädchen knapp zu. „Kommt jetzt! Ihr wolltet ja unbedingt mit, also bitte. Ich will nicht allzu spät wiederkommen, klar?" „Ja, ja, keinen Streß!" maulte Tókui ärgerlich hinterher und schulterte ihre kleine Tasche. „Kommst du, Kiíchigo? Aranámi dreht sonst noch durch." „Mmmh." Ziemlich unbegeistert packte das hübsche Mädchen Haná an der Hand und folgte ihren zwei Kameradinnen. „Eigentlich wäre ich ja doch lieber hier geblieben, aber jetzt – "
Schweigend wanderten sie gemeinsam durch den brutheißen Urwald, in dem sich Unmengen seltsamer Tiere tummelten, die Kamomé mit großem Interesse, Kiíchigo dagegen mit einem leichten Anflug von Ekel und Angst betrachtete. „Seht mal! Ein Lesothosaurus, genauso wie bei Manua! Die sind ja soo klein und hässlich!" kreischte Haná und kicherte boshaft, bis ihr Tókui über den Mund fuhr. „Zu allererst mal, schrei nicht so. Und dann, man nennt – " „SHH! Hört ihr denn nichts?" flüsterte Kamomé plötzlich scharf und kauerte sich hinter einem dicken Farnstamm zusammen. Verwundert folgten die anderen nach kurzem Nachdenken ihrem Beispiel und krochen hinter Steine und Farne, um vor etwaigen feindlichen Blicken geschützt zu sein – leider zu spät –
„HILFE! ÜBERFALL!" kreischte Kiíchigo entsetzt auf, als sich wie aus dem Nichts acht finstere Gestalten vor ihnen materialisierten und mit drohenden Blicken immer näher und näher kamen. „Was wollt ihr von u – " war das Letzte, dass Tókui herausbrachte, bevor ihr einer der Männer die Hand auf den Mund gelegt und mit sie mit sich gezerrt hatte. In Sekundenschnelle war alles vorüber; nur noch einige geknickte Farne und eine ungläubig hinterher starrende Haná blieben auf der stillen Lichtung zurück. Endlich raffte sie sich auf und rannte schreiend in das Lager zurück.
Es regnete sehr stark, als sich Hotáru in einem kleinen Teehaus wiederfand. Vor ihm saß ein Mann im Halbdunkel, den er nicht so recht erkennen konnte, obwohl er ihm irgendwie bekannt vorkam... Vor ihnen stand ein großes Schachbrett, auf dem wundervoll geschnitzte Figuren aus Elfenbein und Obsidian aufgereiht standen und nur auf die Spieler zu warten schienen. „Machen Sie doch den ersten Zug." Der fremde Mann lächelte aus dem Zwielicht, soweit er erkennen konnte, recht freundlich zu ihm hin und bewegte auffordernd die Hand.
„WAS? Gefangen? ENTFÜHRT?" schrie Sachou außer sich, als Haná heulend mit der Nachricht ankam, die drei Mädchen wären mitten im Wald verschleppt worden, und das von ziemlich finster dreinblickenden Gestalten. Káshira schluckte entsetzt und stöhnte. Zuerst Hotáru und dann das. Unglaubliches Pech.
„Euch ist ja klar, was wir da tun müssen, oder? Die Mädels befreien." Er seufzte leicht auf und legte die Stirn in Falten. „Manua- san, kannst du uns da helfen? Ich fürchte, wir wissen alle nicht, wo sie sein könnten – " „Natürlich helfe ich euch. Das ist wohl selbstverständlich, oder? Zum Glück kann ich Spuren lesen; wenn Haná uns an die Stelle führt, an der diese Kerle aufgetaucht sind – " Manua schüttelte bedauernd den Kopf. „Es kann allerdings etwas länger dauern – Die sind sicher schon ziemlich weit gekommen – "
Moko lachte wehmütig auf und zuckte die Achseln. „Dann werd' ich mal was zu essen machen..."
Langsam begann der Abend wieder zu dämmern und die Pfadfinder hatten ihre vermissten Kameraden noch immer nicht gefunden; Sachou war bereits einem Nervenzusammenbruch nahe. Watarí taumelte ziemlich geistesabwesend hinter der Gruppe her und hielt den ebenfalls gedankenversunkenen Kitsuné an der Hand. Vor lauter Sorge um Hotáru konnten sie kaum an die verschwundenen Mädchen denken; Watarí war es ohnehin angenehm, dass die spitzzüngige Kamomé mal für eine kleine Weile nicht da war.
Nach einer Ewigkeit erreichten sie knapp vor Sonnenuntergang einen kleinen Fluß, hinter dem ein niedriger Höhleneingang lag. Leise schlichen sie näher, bis sie beinahe das Flussbett erreicht hatten und eine gute Sicht auf das Lager hatten – es musste das Lager der Banditen sein, da – oh Wunder – auf einem großen Stein am ihnen gegenüberliegenden Ufer eine offensichtlich gesunde und muntere Kiíchigo saß. Erst auf den zweiten Blick erkannten ihre erstaunten Kameraden, was sie da eigentlich tat, denn die Wäsche, die sie anscheinend zu waschen hatte, lag unberührt und schmutzig auf einem anderen Stein. Sie selbst schabte mit einer kleinen Nagelfeile an einem schweren, eisernen Ring, den ihr die Kerle um den Hals gelegt und mit einer langen Kette verbunden hatten.
„Psst! Hey, Kií! KIÍ! PSST!" Zuerst hörte sie nichts, dann allerdings hob sie ruckartig ihren Kopf und jubelte leise. „Hey, Hallo! Toll, dass ihr da seid! Warum hat das bloß so lange gedauert, hä?" „Haben diese Banditen euch was angetan? Wenn sie es gewagt haben – " drohte Sachou, eifrig unterstützt von Káshira, erzürnt und schüttelte wütend die Faust. Kiíchigo nickte begeistert. „Ja, die lassen mich schuften, stell dir bloß vor! Zuerst musste ich kochen, da wollten sie nach dem ersten Löffel nicht mehr essen, deshalb muß ich jetzt diese blöde Wäsche hier waschen! Aber ich komme frei, das sag' ich euch – " Leise vor sich hin schimpfend feilte sie weiter an ihrer Kette und schien die anderen völlig zu vergessen haben. Verblüfft starrte Sachou sie an und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Hübsch ist sie ja, aber..."
„Ach ja." Beiläufig hob Kiíchigo noch einmal den Kopf und nickte ihnen zu. „Haut lieber ab und überlegt euch, wie ihr uns schnell aus diesem Rattenloch befreien könnt, ja? Diese Räuber hier haben nämlich keine Frauen und wollen Aranámi heiraten." Sie kicherte boshaft und hielt sich dann die Hand vor den Mund. „Nicht das es mich so stören würde – aber Männer wollen die hier keine sehen, fürchte ich. Also, lasst euch mal was einfallen und verschwindet inzwischen lieber. Die Kerle hier lassen uns hier die Drecksarbeit machen, Tókui muß kochen, und ich die Wäsche waschen. Aranámi nennen sie „Lady" und haben ihr aufgetischt, die lebt wie die Made im Speck, richtig ungerecht, bloß, weil sie die Typen angeschnauzt hat." Gelangweilt gähnte sie und klopfte ihre arg traktierte Feile auf dem Stein aus. „Beeilung, ja?"
„Jīngtǐ! Schläfst du noch?" Leise betrat Yamanéko das Wohnzimmer und blickte zärtlich auf die große Gestalt, die fest in die Decke eingerollt auf dem kleinen Sofa lag und sich nur ab und zu leicht im Schlaf bewegte. Die langen weißen Haare lagen wirr über den Polstern und reichten beinahe bis zum Boden hinab.
Plötzlich, als hätte er ihre Anwesenheit gespürt, hob er den Kopf und lächelte sie schlaftrunken an. „Yamanéko, Liebling – wo warst du? Sogar im Schlaf habe ich dich vermisst..." „Schmeichler." Die junge Frau setzte sich zu ihm und streichelte vorsichtig seine Hand. „Gerade war ich bei der Heilerin und habe nach dem Gesundheitszustand des Jungen gefragt. Ihrer Meinung nach kommt er durch, obwohl – nun ja, Spuren bleiben natürlich zurück – " „Tja." Mosar setzte sich, nun wieder hellwach, auf und schüttelte betrübt den Kopf. „Wie gesagt, er war kein Kämpfer. So wird es wohl schwerer sein, sich an den neuen Zustand zu gewöhnen – aber er ist ja noch jung, er wird wohl lernen, damit umzugehen. Solche Dinge passieren doch ständig." „Ja, natürlich hast du recht. Onkelchen Koyáma hat immerhin einen Arm verloren, und ein erfülltes Leben geführt – nicht wahr?"
Hotáru wanderte durch einen langen, dunklen Tunnel, endlos lange an nassen, glitschigen Felswänden entlang, ständig in Gefahr, auszugleiten und auf den harten Boden zu fallen. Irgendwo vor ihm blitzte in regelmäßigen Abständen ein schwacher Lichtschein auf, dem er brav folgte. Schließlich konnte er im Moment nichts Besseres tun.
„Na? Wieder wach?" Eine kühle Stimme, die ihn für einen kurzen Moment an Aranámi erinnerte, führte ihn schließlich ganz in die Wirklichkeit zurück. Irgend jemand hielt seinen Kopf gerade leicht angehoben fest und schob eine Art Schnabeltasse zwischen seine trockenen Lippen. „Wasser ist jetzt wichtig, also bitte vorsichtig schlucken. Sonst rinnt wieder die Hälfte daneben – " Das beherrschte Gesicht einer jungen Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam, schob sich wieder in sein Blickfeld und musterte ihn streng. Noch während er sie verwirrt betrachtete, ertönte aus der Ferne plötzlich ein lauter Schrei, der durch Mark und Bein drang und ihn zum Zittern brachte. „Was – Was war das?" flüsterte Hotáru entsetzt und versuchte seinen Kopf zu drehen, was ihm prompt einen Schwindelanfall sowie heftige Kopfschmerzen einbrachte. „Keine Sorge. Meine Helfer brennen gerade die Wunde eines Soldaten aus – das ist natürlich eine recht schmerzhafte Angelegenheit. Sei dankbar, dass du zu diesem Zeitpunkt ohnmächtig warst – das hat dir so einiges an Schmerzen erspart."
Nach diesen Worten entfernte sie sich sachte und ließ Hotáru wie erstarrt zurück. Nur langsam fand der Inhalt dieser Sätze Einlass in sein Gehirn. Wunden ausbrennen? Hieß das nun, dass von seinem Auge nichts mehr übrig war? Hatten sie es herausgebrannt? Wie sollte er denn jetzt weiterleben – mit nur einem Auge? Alles begann sich zu drehen, und die Ohnmacht, in die er nun fiel, wirkte wie eine Erlösung.
„Also, nun mal ernst. Wie retten wir die Mädchen?" Sachou hatte sich gerade aufgesetzt und blickte die anderen Kinder inklusive Manua streng an, ohne auf ihre Müdigkeit zu reagieren. Immerhin war es schon spät in der Nacht, und die Zwillinge waren sogar bereits eingenickt, der eine den Kopf auf der Schulter des andern gelehnt. „Ich habe schon einen Vorschlag gemacht, Sachou, und dabei bleibe ich.", entgegnete Káshira fest und grinste leicht. „Uns als Frauen zu verkleiden ist doch wohl die dümmste Idee, die du je hattest! Glaubst du im Ernst, die kaufen uns das ab, hä?" „Klar doch." Káshira richtete sich ebenfalls aus seiner faulen Pose auf und sah dem blonden Jungen geradewegs in die Augen. „Männer wollen die keine. Also sollen sie Frauen haben, ist doch logisch, oder?"
Sie diskutierten noch lange in dieser Nacht, bis schließlich nur noch sie beide wach waren und das Verblassen der Sterne beobachten konnten.
Am nächsten Morgen war es soweit. Unter lautem Gekicher halfen die Kinder, allen voran Kagamí und Hiyokó bei der Ausstaffierung der drei „Damen", die wild entschlossen waren, die Räuber zu täuschen und die echten Mädchen zu befreien. Moko ähnelte nach den eifrigen Bemühungen der Kinder einem ziemlich voluminösen Bauernmädchen, während Sachou ohne weiteres als nervöse Stadtmadame durchgegangen wäre. Káshira wirkte am kuriosesten, denn die breiten Schultern ließen nicht wirklich übermäßig viel weiblichen Charme aufkommen. Alles in allem eine beeindruckende Truppe, ob sie aber erotisch genug wirken würde –
„Na denn, mal los und ran! Wenn wir Glück haben, dann sind die drei Mädels spätestens heute Abend wieder bei uns." „Sag' ruhig sechs Mädchen. Oder habt ihr etwa Lust, bei den Herren zu bleiben?" warf Sénsō mit boshaftem Schnattern ein. „Du bist ganz schön frech, weißt du das? Sei bloß froh, dass wir dir keine rosa Schleife umbinden, klar?" schmollte Sachou beleidigt und zog ein ärgerliches Gesicht. „Pah, jetzt nimm den Kleinen doch nicht so ernst. Lasst uns gehen, Leute!" rief Káshira gut gelaunt und eilte aufgeregt voran, den Räubern entgegen.
Wie schon am Tag zuvor saß Kiíchigo emsig an ihrer Kette feilend auf einem Stein am Fluß und schimpfte leise vor sich hin. Als sie, durch ein leises Platschen im Wasser aufgeschreckt, den Kopf hob und zufällig die verkleideten Jungen entdeckte, stieß sie zuerst einen leisen Schrei aus und fiel dann vor Lachen beinahe vom Felsen. Sachou wurde tiefrot und zischte ärgerlich. „Psst! PSST, du dumme Kuh!" Leider zu spät.
„HEY! Was ist da los?" erscholl plötzlich von der Höhle her ein lauter Schrei, und ein bärtiger Mann erschien im Eingang. „Wäscht du jetzt, oder was? Gestern waren wir ziemlich unzufrieden mit deiner Leistung!"
Kiíchigo hörte nicht auf zu lachen, sondern deutete auf die Drei. „Da sind noch mehr Mädels für euch! Seht doch! Die könnt ihr auch für euch schuften lassen!" „WAS?" Ein vielstimmiger Aufschrei erklang, und plötzlich fanden sie sich von einem Haufen struppiger Gesellen umgeben, die sie neugierig musterten und dann wie auf ein geheimes Zeichen in die Höhle schleppten. „So, was könnt ihr denn, hmm, Mädchen? Hoffentlich Wäsche waschen und Putzen, zum Kochen haben wir schon jemanden!"
Verwirrt sahen sich die drei Jungen in der großen Höhle um, die anscheinend das Wohnquartier dieser Räuberbande bildete. Auf einem großen Stuhl saß Kamomé und nippte mit ärgerlichem Gesicht an einer Tasse Tee. „Hey, Ehemann! Wo bleibt mein Kuchen? Wenn ich noch länger warten muß, dann – " „Aber sofort, Liebste!" beeilte sich einer der Männer ängstlich zu antworten, während er heftig zusammenzuckte und durch eine kleinere Öffnung in einen anderen Teil der Höhle verschwand, aus dem bald wütendes Geschrei ertönte, gefolgt von einem lauten Knall. Eilig erschien der Mann wieder, gefolgt von einer überaus wütenden Tókui, die eine gusseiserne Pfanne schwang. „RAUS! Sag' mir ja nicht, wie schnell ich kochen oder backen soll, klar?"
Als sie die Verkleideten sah, stutzte sie für einem Moment und begann dann zu grinsen. „Oh, ihr habt ja wieder so schöne Frauen gefunden! Dann braucht ihr uns ja gar nicht mehr..."
„Doch, natürlich brauchen wir euch, schließlich haben die Soldaten unsere Frauen einfach so mitgenommen und unser Dorf verwüstet – das haben wir euch doch schon erzählt!" rief ein dunkelhaariger Mann klagend aus. „Und da wollt ihr uns heiraten, ihr ekelhaften Kerle, so, wie ihr ausseht und riecht?" zischte Kamomé plötzlich wütend. „Sei doch lieber dankbar! Schließlich bekommst du ja auch den Anführer unserer tapferen Truppe, klar? Das ist eine Ehre!"
„Wie? Die Soldaten haben eure Frauen gestohlen? Aber warum?" fragte Sachou teilnahmsvoll mit so grauenhaft verstellter Stimme, dass selbst ein kleines Kind nicht auf diese Maskerade hereingefallen wäre. Die Räuber bemerkten nichts.
„Was weiß ich? Jedenfalls sind sie nicht mehr hier, und wir mussten in diese Höhle ziehen, da unser Dorf so gut wie zerstört ist – "
Verzagt setzten sich die Männer auf den harten Felsboden und bargen ihre Gesichter in den Händen. In dem Moment tauchte Kiíchigo mit einem tropfnassen Stapel Wäsche in den Armen auf und ließ ihn ohne Umschweife auf den schmutzigen Boden fallen. „Da will euch Wer sprechen, werte Herren," verkündete sie mit lauter Stimme und trat ein wenig zur Seite, um die Besucher einzulassen. Die Banditen hoben seufzend ihre Köpfe und erstarrten entsetzt.
„DA seid ihr also! DACHTEN wir's uns doch!" keifte eine Vielzahl lauter Stimmen, die den tapferen Räubern das Blut in den Adern gefrieren zu lassen schien. „Gerade waren wir im Dorf, und was mussten wir sehen? Ihr habt eine Müllhalde daraus gemacht!"
Während ihre Männer wimmernd aufgesprungen waren und unverständliche Erklärungen stammelten, näherten sich ihre Ehefrauen resolut, die Arme energisch in die Seiten gestemmt, und hoben die dürftigen Einrichtungsgegenstände mit spitzen Fingern hoch. „Iiih! Dreckig! Schmierig! Und ihr Ferkel seid ungewaschen und total verwahrlost! Und während wir in der Stadt Wohnungen und Arbeit gefunden und geschuftet haben, wollten sich die Herren wohl ein wenig amüsieren, hmm? Die faule Zeit ist jetzt vorbei!" rief eine große, behäbige Frau wütend und blitzte Kamomé ärgerlich an. „So, und Frauen habt ihr euch wohl auch besorgt, was? Das ihr euch nicht schämt! Bloß, weil wir aus diesem 100 – Seelen – Dorf wegziehen wollten und den Begleitschutz der Soldaten in Anspruch genommen haben! Hier gibt es nämlich einen Haufen Räuber, wisst ihr? So dunkle, faule Gestalten wie Euch! Pfui!"
„Ihr hättet euch gleich neue Männer suchen sollen, was wollt ihr denn mit den Versagern?" warf Tókui ein und grinste. Eine der Ehefrauen drehte sich zu ihr um und seufzte. „Ja, weißt du – am Anfang waren wir ja noch guter Hoffnung, sie würden verständnisvoll sein und ebenfalls wegziehen wollen. Aber dann schalteten sie auf stur und blieben schmollend zurück. Vor zwei Tagen kamen wir an unserem alten Dorf vorbei und sahen, wie verwahrlost es ist – die Herrschaften können ja nicht mal putzen! Aber das wird sich jetzt ändern. Wir nehmen sie mit in die Stadt, und dort werden sie sich erst mal eine Arbeit suchen oder für unsere Wohnungen sorgen. Das faule Räuberspiel ist jetzt vorbei!" rief sie in Richtung Männer, die zusammengesunken auf den wenigen Stühlen oder am Boden saßen. „Und ihr werdet euch bei den Damen entschuldigen, klar? Und zwar gleich! Können wir euch irgendwie helfen, teure Damen?" wandte sie sich untertänig lächelnd an die erstaunten Pfadfinder und zwinkerte abbittend. „Wir entschuldigen uns nochmals sehr. Aber es sind eben Männer – "
„Könnt ihr uns zu jemanden bringen, der über ein Schiff verfügt?" fragte Kamomé schnell und drängte sich nach vorne, die eifersüchtigen Blicke der übrigen Frauen ignorierend. Ihr Beinahe – Ehemann grinste furchtsam und verbeugte sich hastig. „Aber natürlich können wir das, geht nur zu meinem Bruder, der ist Pirat und bringt euch überall hin – hier, gebt ihm das nur und sagt, es ist von mir, Xuánwō Tóng...." Eifrig zog er einen goldenen Siegelring von seinem Finger und drückte ihn eilig in ihre Hand. „Sein Name ist Xuánwō Hǎitān, soweit ich weiß, wird er Jiān genannt und ist Kapitän auf der „Saañp". Wenn ihr ihm diesen Ring übergebt, dann wird er euch bestimmt helfen – wir bringen euch am besten – " „Nichts da! Ihr folgt uns in die Stadt, damit das klar ist! Die können sich jetzt selbst helfen!" kreischten die Frauen streitlustig und schoben die Pfadfinder eilig aus der Höhle. „So, nun geht nach Casava, dort befindet sich nämlich das Schiff, auf Wiedersehen!" Und schon waren sie draußen. Eine der Frauen hatte Tókui noch eine abgegriffene Karte in die Hand gedrückt und auf einen Punkt gedeutet, der vermutlich die Hafenstadt Casava war.
„Na toll." Völlig verblüfft standen die Sechs vor dem Höhleneingang, in deren Inneren die Räuber gerade zur Schnecke gemacht wurden. „Also dann – zurück zum Wagen und dann nichts wie los nach Casava oder wie diese Stadt heißt. Dort finden wir dann diesen Jiān und bitten ihn, dass er uns – Wo wollen wir denn eigentlich hin?" unterbrach sich Káshira verdutzt und starrte Kamomé verwirrt an. „Was wollen wir denn eigentlich tun?"
„Wir werden zu dem Verbannten nach Uerū fahren, von dem uns Manua erzählt hat. Für Suigín können wir im Moment nichts tun, entweder er ist tot, oder die Soldaten kümmern sich um ihn." „So." Káshira fühlte sich überrumpelt und schluckte. „Aber wir müssen Suigín helfen – " „Ja. Natürlich müssen wir das. Aber jetzt können wir es einfach nicht. Und ich traue mir auch nicht zu, einem so schwer Verletzten auch richtig helfen zu können. Falls diese Soldaten ihn nicht getötet haben und keine Unmenschen sind, so werden sie ihm geholfen haben, nicht wahr?" Kamomé bemühte sich sehr, keine Gefühle zu zeigen, denn sie wollte auf keinen Fall als schwach gelten. Kiíchigo hingegen musste sich für eine Sekunde abwenden und leicht über die Augen wischen, als sie diese ungerührten Worte hörte.
„Nun denn – zurück zu Manua- san, die weiß sicher, in welche Richtung Casava liegt. Dort suchen wir diesen Jiān auf und lassen uns zur Insel bringen. Ich hoffe, er wird uns helfen."
