25. Kapitel

Casava

„Wo gehst du hin, Jīngtǐ?" Erstaunt blickte sie ihn an und griff nach seinem Arm. „Yamanéko, ich – " Mosar lächelte verlegen und drehte sich zu ihr um. Gerade hatte er sich wieder in seine Rüstung geworfen und wollte in Richtung Schloss wandern.

„Du willst wieder weg? Schon wieder? Jīngtǐ, ich – ich will mich ja nicht beklagen, aber – " Sie lächelte traurig und schüttelte ihren hübschen Kopf. „Nun gehst du wieder, und ich muß Monate auf dich warten – du hattest mir versprochen – " „Yamanéko, ich will doch nicht weg. Aber diese Kinder – sie haben Vorrang, der Hohenpriester will sie sehen – der König will sie haben – " „Gut." Die junge Géisha nickte und schluckte tapfer, um ihm ein fröhliches Gesicht zu präsentieren. „Viel Erfolg, Jīngtǐ. Ich hoffe, du kommst bald wieder, ja? Vergiß' mich nicht, wirst du?" Während sie sich umdrehte, begann sie wieder zu lächeln. „Ich weiß nicht, warum du mich immer zu solchen Sentimentalitäten bringst."

„Ja, aber – " versuchte Mosar noch, sie zurückzuhalten, aber schon war seine Liebste zu weit entfernt, um ihn noch zu hören, oder aber sie wollte ihn gar nicht mehr hören. Schwer aufseufzend setzte er schließlich seinen Weg zu seinen Soldaten und einer Audienz mit dem König fort.

„Hallo, Fräulein Jiāngguǒ! Hallo!" Eine der Konkubinen näherte sich schnell von der Seite und lächelte die leicht deprimierte junge Géisha fröhlich an. „War das nicht gerade der tapfere General Mosar? Wo will er denn bloß hin? Doch nicht etwa wieder auf eine Mission, oder?" „Was weiß ich? Er braucht mir doch keine Rechenschaft über sein Tun und Lassen zu geben, Lady Míithaa.", gab Yamanéko schnippisch zurück und warf ihren Kopf in den Nacken. „So, so." Die Konkubine lachte nur und zwinkerte ihr schelmisch zu. „Eifersüchtig, was?"

„Míithaa! Du sollst sofort zum König kommen! Beeilung!" rief ihr eine andere Konkubine aus der Ferne zu. „Na dann... Shōbu ruft mich..." meinte Míithaa und lächelte Yamanéko noch einmal zu, bevor sie hastig wieder in Richtung Schloss verschwand. 

„Dummes Ekel!" zischte die Géisha ärgerlich und warf ihr einen giftigen Blick hinterher. „Bloß, weil er bei euch andauernd herumhängt und auf euren Sofas liegt – "

Mosar trat durch die hohe Tür des Krankentraktes und nickte den dort eifrig beschäftigten Heilern zu. Ein kleiner, schwarzhaariger Junge lächelte und rannte aufgeregt zu ihm hin.

„Oh, Guten Tag, Herr General! Lady Talingo ist im Moment nicht hier, aber kann ich Euch vielleicht trotzdem helfen?" „Ich will zu dem Jungen.", antwortete Mosar kühl und erwiderte das Lächeln nicht. Der Kleine nickte trotz seiner abweisenden Worte begeistert und führte ihn zu einem kleinen, abgelegenen Raum, in dem der fremde Junge lag.

Hotáru döste gerade ein wenig vor sich hin und öffnete erstaunt sein unverbundenes Auge, ohne aber den Kopf aus den Polstern zu heben. Der junge General trat vor sein Bett und stockte für einen Moment unentschlossen. „Äh... wie geht es dir?" Schweigen. Mosar räusperte sich verlegen und setzte von Neuem an. „Ich – ich wollte nicht, dass dir etwas passiert. Dieser Zwischenfall tut mir sehr leid." Hotáru erwiderte immer noch nichts, was den General ziemlich unsicher machte. „Äh... das war ein Fehler meiner Soldaten. Ich entschuldige mich sehr dafür..." Genauso gut hätte er zur Wand sprechen können, denn Hotáru war bereits wieder in eine Ohnmacht gefallen und verstrickte sich in seine seltsamen Träume.

Diesmal war es ein Strand. Er wunderte sich ja schon gar nicht mehr über seine eigenartigen Traumszenarios, einmal Regen, dann wieder ein tropischer Strand... wie damals sein Traum mit Hachí, der in ihm immer noch sehr seltsame Emotionen freisetzte –

„Na? Ruhst du dich auch gut aus?" erscholl plötzlich eine sarkastische Stimme hinter ihm, die ihn an jemanden erinnerte –

„Opa! Du?" Wie aus dem Nichts war sein längst verstorbener Großvater aufgetaucht und näherte sich ihm mit festen Schritten. „So, hier bist du also! Soweit ist es schon gekommen!"

„Was meinst du?" antwortete Hotáru verwirrt und starrte ihn verwundert an. „Soweit?" „Du solltest nicht hier sein! Das ist kein Platz für dich!"

Der alte Mann schlug ihm mit einem kleinen Stöckchen leicht auf die Schulter und schüttelte ärgerlich den Kopf. „Hast du dir denn gar nichts von all dem gemerkt, dass ich dir beigebracht habe? Was soll denn das? Dein Leben ist ein Scherbenhaufen!"

Hotáru schluckte überrascht und wich einen Schritt zurück. „Was willst du damit sagen? Ich-" Er brach ab, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. „Wenn ich am selben Ort bin wie du, dann bin ich also tot, oder? Schließlich bist du – " „Tot, ja? Das hättest du wohl gern! Aber leider muß ich dich enttäuschen. Das hier – " Dramatisch legte er eine kurze Pause ein und fuhr mit veränderter Stimme fort. „Der Tod ist viel besser als das hier, das kannst du mir glauben, Hotáru." „Und was ist dann das hier? Warum bist du hier?" „Ich wollte dir einmal ins Gewissen reden. Das geht doch so nicht mehr weiter. Ich habe dir meinen wertvollsten Besitz hinterlassen, und du bemühst dich nicht im Geringsten, ein angemessener Eigentümer zu werden. Wer so ein Schwert bekommt, muß an sich arbeiten, um seiner würdig zu sein. Du hingegen weinst nur diesem Mädchen nach, dass du verloren hast. Siehst du denn nicht ein, wie Sinnlos das alles ist?" Der Alte hatte die Arme verschränkt und blitzte seinen Enkel aufgebracht an.

Nach einer Fahrt, die eine Ewigkeit gedauert zu haben schien, aber nach drei Tagen doch zu Ende war, erreichten die Pfadfinder inklusive Manua und einem ständig murrenden Sénsō die Hafenstadt Casava, die einen herrlichen Anblick bot. Acht schlanke, weiße Türme aus feinem Marmor erhoben sich majestätisch über einem Meer aus dicht zusammengedrängten Häusern, aus deren Masse wiederum einige besonders große und prächtige Domizile sowie eine Menge von Tempeln hervorstachen. Diese Stadt wirkte weitaus fragiler als Sankhya, obwohl sie ihr an Charme um nichts nachstand.

„So, da wären wir also.", meinte Sachou laut, um die müden und genervten Kinder wieder ein wenig aufzuheitern, was leider gründlich misslang, da ihn kaum jemand beachtete. Die Zwillinge und Haná spielten mit Sénsō, Tókui, Moko und Hiyokó stritten gerade über irgendwelche Kleinigkeiten, Kagamí und Kamomé unterhielten sich in einer Ecke leise über wissenschaftliche Magazine, und der Rest der Bande saß einsilbig herum, in ihre eigenen Gedanken versunken. Kitsuné und Chujitsu musterten sich einmal kurz und drehten sich dann eilig mit roten Ohren voneinander weg und Watarí hob kurz den Kopf und schoss einen wütenden Blick zu Káshira, der blicklos aus dem Fenster starrte und von einer besorgten Kiíchigo beobachtet wurde. „Was sollen wir denn jetzt tun?" unterbrach Tókui die plötzlich eingetretene Stille und musterte Sachou mit großen Augen. „Äh... Ja, das müssen wir natürlich zuerst einmal planen, du hast recht – Manua- san, dieser Räuber sagte ja etwas von einem „Jiān" oder so ähnlich, den wir aufsuchen sollen. Nur, wie sollen wir ihn finden? Diese Stadt ist doch riesig!" „Ach, nur keine Sorge." Sie lächelte aufmunternd und klopfte ihm lebhaft auf die Schulter, was einen Hustenanfall und heftiges Erröten von Seiten Sachous nach sich zog. „Hier gibt es Hafenkneipen, in denen der Kapitän der „Saañp" ganz sicher zu finden sein wird. Wir gehen einfach in ein paar Spelunken rein und fragen nach ihm."

Nach zwei Stunden und acht Kneipen wurden sie schließlich fündig. In einer schmierigen Kaschemme namens „Jiǔcàzhàng" erhob sich auf Manua's laute Frage ein etwa 40- jähriger Mann, der sie mit einem öligen Grinsen bedachte. „Wer will denn da wissen, wo Meister Jiān steckt? Du etwa, Püppchen?" Manua seufzte und warf ihm einen gelangweilten Blick zu. „Bist du Jiān? Wenn ja, dann hätten wir mit dir was zu besprechen, klar?" „Hey, Jiān ist nicht für jeden zu sprechen, verstanden? Wie viel Bares springt dabei raus, hä?"

„Wir sprechen nur mit Jiān. Ich habe etwas für ihn, dass ihn garantiert interessieren wird.", mischte sich Sachou ärgerlich ein und musterte den abgerissenen Mann abfällig, der sich mit einem gehässigen Grienen zu ihm drehte. „So, und was willst du, Kleiner? Sei gefälligst höflicher zu Khuun, klar?"

Die Kinder beobachteten starr vor Schreck die riesige Gestalt, die drohend die Fäuste ballte und Sachou am Kragen packte. Plötzlich schob sich ein breiter Mann, ausgestattet mit einer Batterie unterschiedlich langer Messer, einem fettigen schwarzen Schnauzbart und einigen langen Goldketten neben Khuun und schlug ihm den Arm vor die Brust. „Auseinander! Zuerst will ich wissen, was los ist, dann könnt ihr euch meinetwegen die Köpfe einschlagen!"

Khuun zuckte winselnd zusammen und entfernte sich eilig. „Sehr wohl, Kapitän... stets zu Diensten..."

In einer ruhigen Ecke setzten sie sich alle, Manua gegenüber Jiān, den sie mit festem Blick fixierte. „Nun, womit kann ich euch helfen?" begann der Pirat schließlich, als es eine ganze Weile still blieb. „Dein Bruder hat uns geschickt. Er sagt, du bist genau der Richtige dafür.", hub Manua gemächlich an und musterte ihn abwägend. „Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob du genug Nerven dazu hast..." „Woher weiß ich überhaupt, dass ihr wirklich von meinem Bruder kommt? Ich will Beweise!" „Hier." Kühl warf ihm die junge Frau den Siegelring zu, den ihnen Tóng der Räuberhauptmann gegeben hatte. Jiān prüfte ihn eilig und grinste ihnen dann freundlich zu. „So, so, von Brüderchen also. Wie geht es ihm denn, lebt er immer noch in diesem winzigen Dorf?" „Oh, euer Bruder... nun, er – er wird wohl einen Umzug ins Auge fassen müssen – " antwortete Manua mit einem schmalem Lächeln und wurde plötzlich von Káshira unterbrochen. „Schluss mit dem Geplänkel! Kannst du uns in deinem Schiff mitnehmen? Dein Bruder hat uns erzählt, du wärst Kapitän über die – über die „Saañp" oder so ähnlich..." „Ganz recht." Jiān grinste stolz und warf sich in die Brust. „Werdet kaum ein besseres Schiff finden. Meine „Saañp" bringt euch überall hin – " „Wir wollen zur Insel Uerū. Ist das ein Problem für dich?" meinte Manua beherzt und starrte den Piraten erstaunt an, als er überraschend den Schluck Saké, den er gerade genüsslich aus seinen Becher geschlürft hatte, wieder ausspie und sie entsetzt beäugte. „Wie? Nach Uerū? Ja, seid ihr denn wahnsinnig?" Dann begann er schallend zu lachen und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Der junge Kellner näherte sich ihnen zwar, schwenkte aber eilig wieder ab, als er den erheiterten Piraten sah. „Was ist daran so komisch?" erkundigte sich Kamomé leise und legte die Stirn in Falten. „Nach Uerū gehen erstens nur die Verbannten oder diese Priesterinnen, und zweitens ist der Weg dorthin einfach zu gefährlich! Ich bringe doch nicht Mannschaft und Schiff in Gefahr wegen solcher Dummheiten! Was fällt euch ein?" „Und wie viel seid ihr bereit zu zahlen? Ohne Gold läuft nämlich gar nichts!" mischte sich Khuun leise ein. Das war der empfindliche Punkt der Pfadfinder, und Manua wusste es. Sie selbst hatte kein Gold, und diese Fremden –

„Ich dachte, ihr würdet uns aus Freundlichkeit eurem Bruder gegenüber mitnehmen – schließlich hat er euch darum gebeten – " Verwirrt brach sie ab, als Khuun lauthals zu johlen begann. „Hahaha! Ohne Gold? Ja, woher kommen denn so schräge Vögel wie ihr, hmm? Hat man so was schon gehört?" Nun begann auch der Rest seiner Mannschaft, der in der Nähe saß, zu lachen und grölen. Káshira wurde vor lauter Ärger puterrot und sprang so heftig auf, dass sein Stuhl kippte und mit einem dröhnenden Knall am Boden auftraf. „Hört gefälligst auf, so dämlich zu lachen! Das ist nicht komisch!" „Ach nein? Wie kommst du eigentlich dazu, so unverschämt mit uns zu reden, hmm, du Kind?" fauchte Khuun aggressiv und schoss ebenfalls hoch. „Wen nennst du Kind, du heruntergekommener Versager?" schrie Káshira auf und knallte die Faust auf den Tisch, dass die Becher und Flaschen wild klirrend hin – und hertanzten. Jiān blieb ruhig sitzen und beobachtete, wie seine „rechte Hand" Khuun den Jungen brutal am Kragen packte und durch die halbe Kneipe schleuderte, wo er gegen einen der kleinen Tische prallte und benommen liegen blieb. Nach einer Schrecksekunde schnellten die anderen hoch und rannten zu ihm, doch noch ehe sie ihn erreichen konnten, war der Pirat bereits zur Stelle und versetzte Káshira einen harten Tritt, dem er knapp ausweichen konnte.

Langsam schaffte er es wieder auf die Beine zu kommen und sich dem Piraten mehr oder weniger heldenhaft entgegenzustellen. „War das etwa schon alles, was du zu bieten hast? Komm nur her, dann zeig' ich dir, wer hier – " Khuun und Jiān begannen gemeinsam zu lachen, als sie die Elendsgestalt vor sich betrachteten, die sich nur mit Müh und Not auf den Beinen halten konnte. „Na, du wackerer Krieger? Wir zittern ja schon!" Nachdem sie Káshira noch eine Weile ordentlich ausgelacht hatten, zog Khuun plötzlich ungeduldig sein Schwert und richtete es auf den Jungen, der immer noch sehr unsicher auf den Beinen stand. „So, am besten setzten wir dem jetzt hier ein Ende! Freche Kinder wie du sollten gemaßregelt werden, bevor sie zu charakterlosen Erwachsenen werden – Es lebt sich doch auch gut mit nur einem Arm, nicht wahr?" Kiíchigo kreischte entsetzt auf und schlug die Arme vor ihre Augen, doch noch bevor Manua eingreifen konnte, schnellte dem grinsenden Khuun eine hauchdünne, rasiermesserscharfe Klinge vor den Hals und ein junger, weißhaariger Seemann lächelte den urplötzlich ernst gewordenen Mann boshaft an. „Na, Khuun - mit dem dummen Namen? Ärgerst du wieder Kinder und junge Damen? Ich kann aber nicht zulassen, dass deine Späße so weit gehen. Also sei jetzt brav und laß die Herrschaften in Ruhe, sonst werde ich Lady Hǎi davon erzählen, und dann – " „Schon gut! Ich geh' ja schon!" kreischte Khuun beschwichtigend und trat mit ängstlich nach hinten gebogenem Hals rückwärts um sich hinter Jiān zu verstecken, der dem jungen Seemann einen wütenden Blick schenkte. „Ja, deine Lady Hǎi ist eine gute Idee. Vielleicht ist sie ja dumm genug, um so ein Abenteuer zu wagen, schließlich tut sie so was ja öfter. Also, dann geht und sucht sie, und stört uns nicht länger!" zischte er Manua und den Kindern zu, dann gab er vor, sie nicht mehr zu beachten und trank hastig einen Schluck aus dem Becher Saké, den er aus den Händen des vorsichtig an ihnen vorbeischleichenden Kellners gerissen hatte. Der hübsche Seemann lächelte den verängstigten Pfadfindern zu. „So, ihr wollt zu Lady Hǎi? Ich kann euch zu ihr führen, wenn ihr möchtet. Ach, übrigens, ich bin Dāorèn, falls es euch interessiert!" Eifrig mit Manua schwatzend führte er sie aus der schmuddeligen Kneipe in ein anderes Etablissement, in dem es aber auch nicht viel besser aussah. Gerade barsten einige Fensterscheiben des ersten Stocks, und einige sinister aussehende Gestalten hüpften johlend aus den Öffnungen, um dann begeistert grölend hinter zwei Männern herzulaufen, die ein paar offensichtlich gestohlene Flaschen Schnaps in ihren Händen hielten und im Zickzack vor ihnen zu fliehen versuchten.

Dāorèn ignorierte dieses Zwischenspiel und trat vor ihnen in den schummerigen Gastraum, in dem sich ein Haufen mehr oder weniger betrunkener Subjekte tummelten, Krüge mit Bier oder Saké in den Händen, einige auf den Tischen tanzend. „Lady Hǎi sitzt im ersten Stock", meinte ihr Führer und stieg vor ihnen eine enge, gewundene Treppe nach oben. In einer abgelegenen, etwas ruhigeren Ecke saß eine schöne junge Dame mit violetten Haaren, die sich mit einer alten, runzeligen Frau, einem säuerlich aussehendem Mann und einem, ebenso wie ihr Begleiter sehr hübschen, jungen Herzensbrecher unterhielt.

Dāorèn blieb vor den Dreien stehen und verbeugte sich höflich vor der jungen Frau. „Hier sind Leute, die etwas von Euch wollen, verehrte Lady. Dieser elende Jiān und seine dreckige Bande wollten einen von ihnen schon meucheln, deshalb habe ich mir erlaubt, einzugreifen..."

Das schöne Mädchen lächelte sie an. „Na schön, warum setzt ihr euch nicht? Dāorèn, du darfst neben mir sitzen." Manua verbeugte sich tief, während der hübsche Weißhaarige das Angebot freudig annahm und sich neben sie platzierte, nicht ohne dem jungen, rothaarigen Casanova vorher noch schnell eine Grimasse geschnitten zu haben.

„Nun? Was wollt ihr denn von mir? Nur zu, ich beiße nicht!" meinte sie schließlich, als Manua eine Weile eingeschüchtert schwieg und verlegen an ihrem Getränk nippte, dass ihr ein hübscher, junger Kellner schmunzelnd vor die Nase gestellt hatte. Die junge Lady konnte nicht die ganze Schar überblicken; Káshira blieb aufgrund seines blauen Auges lieber im Hintergrund. Auf irgendeine Art und Weise kam ihm die Frau bekannt vor... diese Stimme...

„WAS? Ohne Gold? Ihr träumt wohl!" platzte es plötzlich heftig in seine Überlegungen. Lady Hǎi und ihre Kumpanen wanden sich gerade vor lauter Lachen auf den Stühlen hin und her.

„Aber – wir haben doch nichts – Ihr seid unsere letzte Hoffnung, Lady – " stammelte Manua verwirrt und war den Tränen schon sehr nahe. Káshira erhob sich niedergeschlagen und wollte Manua gerade ins Schlepptau nehmen, um das Lokal zu verlassen, als ihn ein überraschter Ausruf zurückhielt. „Hey, Junge! Dich kenne ich ja!" rief die Lady aus und erhob sich eilig, um Káshira am Arm zu packen. „Du bist der Junge vom Dach, nicht wahr? Ich sagte dir doch, wir würden uns wiedersehen! Wo ist denn dein süßer blonder Freund?" „Äh..." stammelte er verblüfft und betrachtete sie näher. „Du? Ich – ich meine natürlich – Sie? Sie sind Lady Hǎi? Die Frau auf dem Dach mit den zwei Schwertern? Cool!"

Lady Hǎi lachte freundlich und schüttelte fröhlich ihren Kopf. „Wo ist dein Freund abgeblieben? Du wirst ihm doch nicht etwa den Laufpass gegeben haben, oder?" Schlagartig verdüsterte sich seine Miene, und er wurde ernst. „Hotáru ist – ist nicht mehr bei uns, der General – die Armee – die haben ihn festgenommen und mitgenommen – er ist verletzt – " „Oh, das tut mir aber leid.", meinte die Lady betroffen und starrte ihn aus großen Augen an. „Werdet ihr ihn denn nicht retten?" „Das ist uns im Moment nicht möglich. Abgesehen davon ist sein Gesicht sehr schwer getroffen, soweit wir wissen, und ich denke, bevor sich so eine Wunde entzündet, ist es klüger, ihn bei deren Ärzten zu lassen. Besser als wir sind die königlichen Mediziner allemal.", antwortete Kamomé kalt. Hǎi blickte sie gedankenvoll an. „Natürlich. Über Heilerin Talingo und ihre Helfer ist bekannt, dass sie nahezu jede Krankheit besiegen können. Es wird wirklich klüger sein, ihr lasst ihn einstweilen am Königshof."

Watarí hielt es nicht mehr aus, als er seine Kameraden und das fremde Mädchen so reden hörte. „Seid doch endlich still! Wie könnt ihr nur so was sagen?" Plötzlich schossen ihm die Tränen in die Augen, und er musste sich abwenden. Kitsuné musterte ihn sorgenvoll und legte sanft die Hand auf seinen Arm. „Nicht traurig sein, Watarí- senpai. Ich weiß, dass wir ihn wiedersehen werden, ganz, ganz sicher. Und es geht ihm sicher gut, wir müssen nur ganz fest daran glauben."

Hǎi setzte sich wieder, und diesmal schien sie der Bitte nicht mehr allzu sehr abgeneigt zu sein. „Nun... wo wollt ihr denn eigentlich hin? Und warum?" „Wir möchten gerne nach Uerū. Ich weiß ja, die Strecke ist gefährlich – und es dauert lange – aber wir müssen unbedingt dort hin – " „Schon gut. Nicht so schnell, ja? Ihr wollt also nach Uerū, dorthin, wo es nur Priesterinnen und Verbannte gibt – und ihr habt kein Geld. Na gut." Sie seufzte leicht und lächelte dann ihrem rothaarigen Begleiter schelmisch zu. „Na, Inázuma? Sollen wir es wagen, ja? Wieder zu den hübschen Priesterinnen auf der Insel?" Der Angesprochene lief tiefrot an und verschluckte sich beinahe. „Pah, diese Weiber interessieren mich doch nicht im Geringsten – " „Ja, ja." Sie grinste boshaft und wandte sich dann wieder an Káshira und die Pfadfinder. „Na schön. Aber vor drei Tagen geht es nicht, ich habe hier noch etwas Wichtiges zu besprechen, Lieferungen und so weiter, ihr wisst schon. Dann nehme ich euch auf jeden Fall bis zur Insel „Ròushíyú" mit, wie es weiter geht, kann ich euch noch nicht so genau sagen. Aber nach Uerū kommt ihr auf jeden Fall, keine Sorge."

Yamanéko trat leise in das Teehaus ein, in dem ihr heutiges Engagement stattfinden würde, wo sie von der Okami-san bereits ungeduldig erwartet wurde. „Yamanéko! Wo warst du denn bloß? Ich habe schon zweimal nach dir gefragt!" „Tut mir leid. Ich war so – ich musste über einige Dinge nachdenken." Die Okami-san sah sie plötzlich alarmiert an und begann zu grinsen. „Ach, Mosar- san? Ärger mit dem schönen General? Ich habe mich ja schon sehr gewundert, als ich erfuhr, dass er so schnell wieder weg muß – angeblich sucht er ja immer noch diese Kinder, von denen Einer ja schon hier ist – nicht wahr? Und seine arme kleine Géisha lässt der böse Dánna einfach so alleine..." „Ach, sei' doch still!" rief Yamanéko unbeherrscht aus und ließ die Teehausbesitzerin, die sie schon von Kindesbeinen an kannte und deshalb so ungezwungen mit ihr umgehen konnte, wütend stehen. Während sie sich vor der Türe niederkniete, um einzutreten, seufzte sie wieder ärgerlich auf und dachte wie in den letzten Stunden an ihren Dánna Mosar.

Dieser Kerl. Schon wieder lag er bei den Konkubinen herum und kümmerte sich nicht im Geringsten um sie. Doch noch während sie diese Gedanken im Kopf herumwälzte, musste sie sich selbst auslachen. Immerhin konnte sie von Mosar nicht erwarten, dass er sich immer nur in ihrer Nähe aufhielt. Für die fünf Jahre, die sie nun schon zusammen waren, hatte er sich als erstaunlich treu bewiesen.

„Ja, aber Yamanéko- san! So in Gedanken vertieft?" traf eine fröhliche Stimme an ihr Ohr, als sie den Saal betrat und die dünne Papiertür hinter sich zuzog. Pul Púurwa winkte ihr galant zu und lächelte glücklich, als sie sich zu ihm setzte. „Na, ein so trauriges Gesicht an einem so schönen Abend? Das schickt sich doch nicht für eine schöne Géisha, wie Ihr es seid..."

„Ach, Ihr übertreibt.", antwortete Yamanéko mit gespielt schüchternem Lächeln und schenkte Pul mit graziösen Handbewegungen eine Schale Saké ein. Der alte Oberleutnant betrachtete wohlgefällig ihren zarten, weißen Unterarm und lächelte wieder. „Oh, Mosar wusste ja ganz genau, warum er gerade Euch haben wollte – " „Ach ja, Mosar- san – " fiel sie unbeabsichtigt ein und verzog ihren Mund verächtlich, bis sie erschrocken bemerkte, dass sie sich gerade verraten hatte. Pul begann zu lachen und schüttelte fröhlich den Kopf. „Ach, Streit mit dem jungen Dánna, was? Ja, das dachte ich mir schon, als die Nachricht kam, er solle so schnell wie möglich zum König kommen. Armer Mosar, er würde sicher lieber bei seiner schönen Géisha bleiben, aber leider – "

Yamanéko lächelte säuerlich und schenkte noch einmal ein. Pul schien inzwischen in Gedanken versunken, denn er grinste leicht und nickte zwischendurch, als würde er sich an etwas Amüsantes erinnern. Unerwartet begann er zu sprechen. „Wisst ihr noch, als vor fünf Jahren das Aufgebot Eurer Mizuage kam und Mosar soviel geboten hat, dass er drei Monate von Dashi – Brühe und Nudeln leben musste? Hab' selten so viel gelacht." Boshaft begann er zu glucksen und wiegte erheitert den Kopf hin – und her. Yamanéko musste wider Willen kichern und erinnerte sich ebenfalls an das damalige Ereignis.

Im Gegensatz zu heute hatte Mosar sie damals ziemlich ignoriert und sehr kühl behandelt, als sie mit dreizehn Jahren als Lerngéisha begonnen hatte und eifrig neben ihrer älteren Schwester alle möglichen Veranstaltungen besucht hatte, um so viel wie möglich zu lernen. Der Großteil der Männer hatte sie bezaubernd gefunden, aber Mosar... mehr als ein verächtliches Kopfnicken oder ein hochmütiger Blick war da nicht zu holen gewesen. Yamanéko wäre schon beinahe an ihm verzweifelt, wenn da – ja, wenn da nicht mit Fünfzehn ihre Mizuage gewesen wäre, bei der Mosar mehr als alle anderen Bewerber geboten und dadurch die unerwünschten Rivalen aus dem Feld geschlagen hatte. Bei dem Gedanken daran musste sie kurz lächeln, was Pul natürlich nicht entging. „Ja, ja, er war ja so schüchtern, dass ich ihn sogar dazu zwingen musste, endlich einen Zahn zuzulegen – habe ihm damit gedroht, mitzubieten, dass hat ihm Feuer unterm Hintern gemacht. Eine Schande; sonst ist er ja auch nicht so zurückhaltend, wie?" Wie auf Kommando begannen Géisha und Oberleutnant gemeinsam zu kichern und konnten sich erst beruhigen, als ihnen eine ältere Géisha über den Tisch hin einen mahnenden Blick zuwarf. „Oh, Mosar hängt so sehr an Euch, ihr würdet euch wundern. Jeden Tag musste er uns mit Schwärmereien von seiner Lieblingsgéisha in den Ohren liegen, wie bezaubernd und schön und was – weiß – ich – noch..."

Yamanéko errötete zart und wandte den Blick ganz kurz verlegen ab. „Ach, Jīngtǐ – er ist manchmal so – so ein Idiot – " Pul tat, als habe er nichts bemerkt, als sie sich mit dem Ärmel ihres Kimonos vorsichtig und verstohlen, um das Make-up nicht zu gefährden, leicht über die Augen wischte und dann energisch den Kopf hob. „Und trotzdem – "

„Oh, Yamanéko- san. Ich wusste gar nicht, dass du heute auf diese Feier kommst", ertönte unerwartet eine Stimme hinter ihnen. Der alte Oberleutnant und die Géisha drehten sich blitzartig um, als sie den Tonfall erkannten. Mosar war leise durch die Tür gekommen und hatte sich hinter die beiden gestellt. „Ach? Schon von den Konkubinen zurück?" entgegnete Yamanéko spitz und schenkte Mosar lediglich einen abschätzigen Blick, den er fürs erste einmal ziemlich gelassen aufnahm.

„Ja, sie hatten wenig Zeit – der König war heute etwas besserer Laune als gewöhnlich." Behaglich zog er sich ein Zabúton heran und nahm darauf Platz, während sie ihm widerwillig einschenkte. „Hör mal, Yamá- chan... ich möchte gerne mit dir reden. Es ist so, dass – " „Versuchst du dich dafür zu entschuldigen, dass du mich zuerst wochenlang alleine lässt und dann nach zwei, drei Tagen wieder verschwindest? Oder dass du ständig bei diesen Weibsbildern herumhängst, während ich wie ein Idiot warte?" Die junge Géisha glich in diesem Moment wirklich einer wütenden Wildkatze; Mosar war völlig überrumpelt von dem beleidigt hervorgezischten Wortschwall. Plötzlich knallte er seinen Becher so heftig auf den Tisch, dass er beinahe zersprang und schnellte auf. „Gut, wenn das dein letztes Wort ist – " Und schon war der wütende General nach draußen verschwunden, eine perplexe Géisha und den nicht minder verwunderten Pul zurücklassend. „Na so was... dass er aber auch so empfindlich ist – besser, Ihr geht und seht nach ihm. König Nánfēng reagiert in letzter Zeit äußerst ungehalten auf diese fremden Kinder – und Mosar ist es ja leider immer noch nicht gelungen, alle zu fangen." Der alte Meister des Generals nickte in Gedanken versunken vor sich hin und schickte die junge Frau mit einer auffordernden Handbewegung nach draußen, hinter ihrem aufgebrachten Dánna her, der praktischerweise nicht weit außerhalb des Festsaals bei einem der Fenster stand und stumm in den prächtigen Garten starrte. Für einen kurzen Moment schwiegen beide, dann begann Yamanéko zögernd. „Ach, Jīngtǐ, du weißt doch, dass ich es nicht so gemeint habe. Ich brauche das einfach zwischendurch – dass ich die Konkubinen ein bisschen beschimpfe. Ich meine – " „Nein, Yamá- chan. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Es war meine Schuld, dass habe ich in dem Moment eingesehen, in dem ich vor den König trat. Deshalb habe ich angeordnet, dass sich Major Sākuru um die Sache kümmert. Einige Soldaten haben gemeldet, die Flüchtigen seien in Casava gesehen worden; dort werden er und eine Truppe nach ihnen suchen. Ich will doch nicht weg, Yamá- chan", stöhnte er verzweifelt auf und trat einen Schritt auf sie zu. Yamanéko unterbrach all seine Entschuldigungsversuche, indem sie seine Schultern packte, ihn zu sich hinunterzog und ihrem hübschen Dánna einen zarten Kuss auf die Lippen drückte.       

Moko seufzte gequält auf und tat sich selbst sehr leid. Nachdem sie in dieser Stadt drei Tage auf Lady Hǎi warten mussten, hatten sich die Kinder freiwillig angeboten, etwas Arbeit gegen Essen und Unterkunft, die ihnen freundlicherweise ebenfalls von der Lady bezahlt wurde, zu leisten. Während die anderen in diesem Moment in Casava auf Erkundungstour gehen durfte, musste er gemeinsam mit dem griesgrämigen Schiffskoch Tsumé, Watarí und einem jungen Mädchen namens Huǒshān Vorräte in die Dschunke schleppen. Huǒshān bewältigte die schweren Fässer mit Leichtigkeit, was in Moko sehr missmutige Gefühle freisetzte – sie konnte nämlich nicht sehr viel älter sein als er selbst – noch dazu sah sie äußerst zart und schwächlich aus – im Gegensatz zu ihm – 

„Hey, Junge! Pass gefälligst auf, wohin du trittst! Wenn eins dieser Fässer auf den Boden knallt, dann kriegst du von Lady Hǎi oder diesem Drachen Ráiu was zu hören, klar? Keine Fehler, Jungchen!" Dieser elende Koch. Schon die ganze Zeit meckerte er an allem möglichen herum – wie er Dinge trug, wie er ging, wie er – „Und sieh' mich nicht so dämlich an, ja? Als ich in deinem Alter war, da wusste ich noch, was Anstand heißt – ihr Jungen seid doch alle gleich – " Gerade als er so munter vor sich hin murrte, erschien die schrumpelige alte Frau, die sich gestern mit Hǎi in der Kneipe unterhalten hatte. „He, Tsum! Ist Hǎi schon wieder da?" Zu Mokos großer Überraschung färbten sich seine Wangen plötzlich tiefrot, und er wandte sich unvermittelt ab. „Nein, der Kapitän ist noch nicht erschienen. Wenn sie kommt, kann ich ihr ja was ausrichten." „Nicht nötig." Die Alte hatte den Griesgram erreicht und kniff ihm scherzhaft in das dürre Hinterteil. „Na, du Hübscher? Hättest du wieder mal Lust auf – " „Unsere Beziehung ist beendet! Ich bin ein Mann, der zu seinen Prinzipien steht, klar? Für eine Nacht lasse ich mich da nicht ausnutzen!" „Aber Tsumé- chan." Ihre Stimme wurde weich und schmeichelnd. „Das wirst du mir doch nicht immer noch nachtragen – "

„Pah! Wenn ich damals gewusst hätte, wie schlecht es um deine moralische Integrität bestellt ist, dann hätte ich doch niemals was mit dir angefangen! Ich bevorzuge Frauen mit soliden Grundbegriffen wie Treue, Redlichkeit, Anstand – " „Du bist ja so was von langweilig! Wie oft willst du mir denn noch vorhalten – " begann Ráiu gespielt zerknirscht und zwinkerte Moko verschwörerisch zu. Tsumé bemerkte es nicht. „Damals hast du meine Gefühle verletzt, dass du's nur weißt! Und das – das verzeihe ich dir noch lange nicht..."

„Na? Wieder am Streiten?" warf plötzlich eine amüsierte Stimme ein. Moko drehte sich erstaunt um, während der Schiffskoch mit hochrotem Gesicht im Bauch der Dschunke verschwand. Hinter ihnen stand eine grinsende Lady Hǎi, die ein kleines hölzernes Kästchen in den Händen hielt, flankiert von Dāorèn und Inázuma. Ráiu kicherte boshaft und tätschelte liebevoll ihren Haarknoten. „Ja, ja, so ist das mit den Männern. Laß' dir gesagt sein, Hǎi – " „Oh, Meisterin." Das junge Mädchen lächelte spitzbübisch und zwinkerte der Alten zu. „Von Euch lerne ich sicher nichts, dass meiner Anschauung von Moral und Sittlichkeit hilfreich wäre..."

Tókui und Káshira spazierten geruhsam über den beeindruckenden Marktplatz Casavas, vorbei an Ständen mit Obst, Gemüse und Saurierfleisch, dass von ihm mit einer Mischung aus Neugier und leichtem Befremden gemustert wurde, sie aber eher kalt ließ. „Was, glaubst du, kriegen wir heute wohl zu essen? Mein Magen knurrt schon, ich kann dir sagen – " murmelte sie und reckte sich gähnend. Káshira durchforstete eifrig seine Taschen und kramte eine Handvoll Kupfermünzen hervor. „Lady Hǎi hat uns doch etwas Geld geschenkt, nicht wahr? Wollen wir uns an so einem Straßenstand was kaufen? Sieht ziemlich gut aus, und Hunger hab' ich auch schon." Tókui nickte begeistert, also wanderten sie gemeinsam zu einem der zahlreichen Buden, an denen einfache, meist indische Gerichte angeboten wurden. Káshira erinnerte sich an ein kurzes Gespräch mit Kamomé, während er für sie beide „Biriyáanii" und „Dahíi vádaa" bestellte; zwei Namen, die ihnen Manua beigebracht hatte.

Sie hatte ihn zusammen mit Kagamí aufgehalten und kurz mit ihm gesprochen. „Ist es nicht seltsam, dass auf einer jurassischen Welt so viele Blütenpflanzen wachsen? Und man hier ebenso gutes Essen wie in einem asiatischen Restaurant bekommt? Als hätte jemand eine Gesellschaft aus allen Teilen Asiens zusammengemischt und sie in ein halbwegs friedliches Nebeneinander mit den Dinosauriern gepresst. Abgesehen davon sind alle unsere Uhren im Eimer."

„Hast du was?" wunderte sich Tókui, als er eine ganze Weile stumm an seinem Reis gekaut hatte. Die Dahíi vádaa hatte sie in die kleine Umhängetasche aus Stoff gesteckt, die um ihre Schulter hing. „Ach, weißt du, ich – " begann Káshira zögernd, als sie den belebten Marktplatz hinter sich gelassen und die sichere Nähe eines ruhigen, menschenleeren Feldes am Ende der Stadt erreicht hatten. Allerdings kam er nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn wie aus heiterem Himmel prallte in einiger Entfernung ein zunächst unidentifizierbares Objekt auf dem sandigen Boden auf, dass an ihre erste Begegnung mit Sénsō erinnerte –   Erschrocken nahmen die Beiden ihre Beine in die Hand und rannten zu dem seltsamen Gebilde, dass aus einem Haufen Häute, Schnüre und Stöckchen zu bestehen schien. Bei näherem Hinsehen entpuppte sich das Ganze als eine Art Fledermausähnlicher Flügel, die an einem Bambusgerüst befestigt worden waren. Es existierte sogar ein Pilot, der sich gerade schimpfend und fluchend aus dem Sand hocharbeitete, die blauen Haare schweißverklebt und das Gesicht starrend vor Schmutz. Káshira musste wider Willen grinsen, als er die keuchende Elendsgestalt sah. „Äh – können wir dir irgendwie helfen? Hast du dich verletzt?" fragte er hastig, um den drohenden Lachanfall zu ersticken. Tókui ging es ähnlich. „Wolltest du mit dem Ding da etwa fliegen? Kein Wunder, dass du abgestürzt bist..."

„Hey! Hört gefälligst auf zu lachen, klar? Ich war ganz nahe dran!" zischte der Junge wütend. Als er sich endlich aufgerappelt hatte, glitt sein Blick etwas ängstlich über die Zwei, und er wirkte unsicherer. „Ähm, also – ihr werdet mich doch nicht verpfeifen, oder?"

Die beiden Pfadfinder musterten sich verwirrt; schließlich zuckte Tókui leicht mit den Achseln und nickte gleichgültig. „Klar verpfeifen wir dich nicht. Vor wem hast du denn Angst? Deinen Eltern?" „Meine Eltern sind schon lange tot," antwortete der fremde Junge ernst. „Aber wenn mein Onkel erfährt, dass mich jemand gesehen hat, wie ich mich mit – " Er stockte kurz und sah ihnen tief in die Augen. „Na, mit Technik beschäftigt habe, dann bringt er mich um – ich hab' ja bloß Glück, dass er mich nicht ständig in seinem blöden Laden schuften lässt..." „Ist es denn so schlimm, wenn du solche Fluggeräte baust?" warf Káshira ein und schüttelte verwirrt den Kopf. „Ist doch bloß etwas Bambus – " „Hast du eine Ahnung! Wenn mich die Soldaten erwischen, dann ist es Aus!" rief der Blauhaarige und fuhr sich mit dem Finger in einer eindeutigen Geste über den Hals. „Die stecken mich ins Gefängnis, und dann komme ich in die Verbannung, klar! Woher kommt ihr, dass ihr so was nicht wisst?"

„Äh, also – wir kommen von – von weit her..." stammelte Tókui eilig, in der Hoffnung, der Junge würde nicht weiterbohren. Sie hatten Glück. „Ich bin Shíkū Aói. Ihr könnt mich Aói nennen, wenn ihr wollt, hab' nichts dagegen, mein Onkel führt das „Xiānměide" in der Stadt. Ich hasse Delikatessenläden, ihr nicht?" sprudelte der Junge in einem Atemzug heraus. Tókui und Káshira warfen sich verwirrte Blicke zu und grinsten dann. „Oh, also, hallo, Aói. Wir zwei sind Tókui und Káshira – " Aói lachte befreit auf und verbeugte sich. „Sehr erfreut. Dann werdet ihr es Onkel Hiuchí-ishi also nicht verraten – ich bin ja so was von froh, wisst ihr? Letztes Mal musste ich gemeinsam mit Koiro den ganzen Laden inklusive Keller und Lagerräumen putzen – das war vielleicht eine Schufterei, sag' ich euch. Na, und Koiro war natürlich alles andere als begeistert – könnt ihr euch sicher vorstellen – "

Während der Junge eifrig vor sich hin schwatzte, wanderte Tókui interessiert um das am Boden liegende Gerät herum und betrachtete es von allen Seiten. „Hey, du, Aói", unterbrach sie plötzlich seinen Redeschwall. „Sollen wir dir helfen, das Teil da flott zu kriegen? Nur wenn du möchtest, natürlich. Aber so, wie du es versucht hast, klappt es nicht ganz, es kann nicht weit genug schweben – "

Aói nickte begeistert und klatschte in die Hände. „Uh, aber ich bin schon so hungrig – hab' den ganzen Tag über nichts gegessen und Onkel Hi gibt mir keine Münze – " „Nimm und sei still, ja?" murmelte Tókui in den Anblick des Gebildes vertieft und kramte in ihrer Tasche, bis sie das Essenspäckchen fand. Der blauhaarige Junge war nun stiller und sprang hinter den Beiden hin und her, ein halbes Dahíi vádaa zwischen den Zähnen. „Mmmh, gut..."

„Sollen wir es in meine Werkstatt tragen?" fragte er schließlich behaglich schmatzend und grinste stolz, als er die erstaunten Blicke der Zwei bemerkte. „Ich hab' mir einfach eine leere Höhle gesucht und mein ganzes Werkzeug dort versteckt – damit die Leute aus der Stadt nichts spitzkriegen, ihr wisst ja. Am liebsten würde ich diesen Verbannten, Dabonta oder so ähnlich heißt er, auf der Insel Uerū besuchen – der soll ja unheimlich klug sein, und viel von", verschwörerisch senkte er die Stimme „Technik verstehen... das wär' was..."

„Komm, arbeiten und nicht reden.", warf Káshira ein. „Tragen wir das Ding erst mal in deine Werkstatt-Höhle, damit die Leute nichts merken – "

Als Hotáru erwachte, fühlte sich seine rechte Gesichtshälfte einfach grauenhaftan. Ein besonders hartnäckiger Schmerz schien hinter seiner Augenhöhle zu sitzen und trieb ihn beinahe in den Wahnsinn. Noch während er sich überlegte, ob es sich überhaupt lohnen würde zu schreien, beugte sich wieder das inzwischen bekannte Gesicht der jungen Frau über ihn. „Aha, wir haben also wieder den Weg in die wache Welt gefunden – hier, Dengei, den Kräuterwickel für das Gesicht und den Absud da drüben soll er trinken – du musst langsam aufmerksamer werden – " Ein kleiner Junge beugte sich nun ebenfalls über ihn und schob eine Schnabeltasse zwischen seine Zähne. „Hier, Herr, vorsichtig schlucken," haspelte er aufgeregt und lächelte freundlich, während sich das Mädchen vorsichtig an seinem Gesicht zu schaffen machte. Obwohl sie den Verband langsam abwickelte, konnte er auf dem rechten Auge nichts erkennen, was seine schlimmsten Erwartungen zu bestätigen schien.

„Und? Könnt Ihr mir vielleicht auch noch einen guten Augenklappenhersteller empfehlen?" zischte er mit einem plötzlichen Schub wütend – verzweifelter Energie, der sie zu erstaunen und gleichzeitig zu belustigen schien. „Wozu möchtet Ihr denn eine Augenklappe? Glaubt Ihr etwa, dadurch intelligenter auszusehen?" „Nein, aber – " Er stockte verwirrt und schwieg für einen Augenblick. „Aber ich kann doch nichts sehen – " „Weil Euer Auge blutunterlaufen ist, und ich noch nicht möchte, dass Ihr es bei Tageslicht öffnet – wenn die richtige Zeit dafür gekommen ist, werde ich es Euch schon erlauben. Das Messer hat zwar eine tiefe Wunde in die Wange gerissen, aber das Auge ist unbeschädigt – "

Hotáru schaffte es nicht, diesen Worten zu glauben. Konnte er diesem Mädchen eigentlich trauen? Vielleicht belog sie ihn ja nur, damit er schneller gesund wurde – wer konnte sich da schon sicher sein? Beunruhigt registrierte Talingo, dass das Fieber des Patienten um keinen Preis fallen wollte, was auch immer sie versuchte. Erneut glitt er in die Bewusstlosigkeit ab.

Ein älterer Mann hastete eilig durch die Straßen der Hafenstadt Casava und blieb vor einem kleinen, schmutzigen Haus, offensichtlich einer Lagerhalle, stehen, während er verstohlene Blicke um sich warf. Endlich hatte er den richtigen Schlüssel erwischt und stieß die verzogene Türe auf. Innen war alles dunkel; hastig entzündete der verbittert aussehende Mann eine Laterne, die er auf den wackeligen Tisch stellte, der mit zwei Stühlen das einzige Mobiliar bildete.

„Na, Alter? Bringst du deine schäbige Hütte in Ordnung?" Entsetzt fuhr er herum, als eine höhnische Stimme hinter ihm erklang, und verneigte sich tief. „Oh, Ihr seid es – "

Aói arbeitete fleißig; emsig zog und zerrte er an seinem Eigenbau, dessen Flügel sich sogar zusammenfalten ließen. Káshira wollte etwas Nettes sagen und lächelte. „Ich glaube, an dem Ding fehlt gar nicht mehr so viel. Ein Paar Pedale und zwei Räder oder so – Tókui kennt sich da aus – " Aber der Blauhaarige war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

„Sagt mal, wenn ihr von weit her kommt, dann braucht ihr doch jemanden, der euch hilft, oder? Ist doch gar nicht so leicht in der Fremde. Und wo wollt ihr denn eigentlich hin? Habt ihr schon Fahrzeuge gemietet? Oder nimmt euch jemand mit?" sprudelte Aói hervor. Tókui lächelte kurz. „Falls dir der Name was sagt, Lady Hǎi ist bereit, uns mitzu – "

„WAAS? Lady Hǎi? Die Lady Hǎi? Ist ja ein Ding!" Er starrte seine zwei Begleiter mit einer unverhohlenen Mischung aus Respekt und Unglauben an. „Wisst ihr eigentlich, was man über sie sagt? Angeblich steht sie mit Dämonen im Bunde, und sie kann die geringste Änderung des Meeres fühlen – ihre Mannschaft ist immer die Erste, die das Schiff vor den Stürmen in Sicherheit bringt –  Und sie ist steinreich, aber es würde nie jemand wagen, sie zu heiraten, denn in der Hochzeitsnacht – " „Also ehrlich, Aói, diesen ganzen Unsinn glaubst du doch nicht auch noch, oder? Lady Hǎi ist eben eine gute Seefahrerin, was ist daran denn so ungewöhnlich?" Ungeduldig schüttelte Tókui ihren Kopf und presste ärgerlich die Lippen zusammen. Der Junge schien es nicht zu bemerken. „Na, es heißt auch, sie hätte übermenschliche Kräfte – bei einem Faustkampf gewinnt sie gegen die stärksten Männer – und einen fleischfressenden Saurier hat sie auch gezähmt, der sitzt immer auf ihrer Schulter und beobachtet die Leute, und wenn seine Augen rot aufleuchten, dann hat er wieder Lust auf Menschenfleisch und wählt seine Beute aus – deshalb darf man ihn dann nie direkt ansehen, sonst hüpft er – schwuppdiwupp – auf deinen Kopf und beißt dir den Hals ab – "

Aói!" Tókui war entsetzt. „Wo hast du denn bloß diese Räubermärchen her?" Káshira musste kichern und beugte sich tief über seine Arbeit, um den Rotschopf nicht zu reizen. „Das weiß doch hier jeder! Einmal hat der stärkste Mann aus Casava einen Kampf gegen sie gefordert, und er musste danach von fünf Heilern drei Wochen lang gepflegt werden!"

„Dann war er eben ein kraftloser Angeber, und die Heiler unfähig!" schnaubte Tókui und zerrte aufgebracht an einer langen Schnur. „Trotzdem muss man nicht gleich Jedermann grundlos verurteilen! Das gehört sich nun mal nicht!"