26. Kapitel
VerratAói hatte ihnen den Weg zu seiner Höhle gezeigt und mit vereinten Kräften verstauten sie nun den stattlichen Flugapparat darin. Tókui machte sich gleich an die Arbeit; eifrig malte sie mit einem kleinen Stöckchen Pläne in den Sand, begutachtete und verwarf sie wieder, bis sie schließlich so halbwegs zufrieden wirkte. „Kommt mal her, ihr Zwei", meinte sie langsam. „Wenn wir auf das Ding Pedale und zwei Räder schrauben, dann könnten wir es schaffen, einen längeren Gleitflug zustande zu bringen bei dem der Pilot vielleicht noch ein paar Minuten zusätzlich herausschinden kann. Wenn die Flügel stabilisiert werden und nicht beweglich wie bisher, dann wird er sicher durch die Luft gleiten, ohne wieder eine Bruchlandung hinzulegen. Und durch die Räder kann man ihn leichter auf der Erde hin – und herbewegen, was meint ihr?"
Káshira nickte beifällig, während Aói vor lauter Begeisterung wie wild durch die Gegend sprang und ihnen abwechselnd um den Hals fiel. „Oh, vielen Dank! Was täte ich nur ohne Euch?" „Ach, laß' nur. Ist ja schon gut."
„Oh, aber nein! Ich muss mich doch erkenntlich zeigen! Wir können zu mir nach Hause gehen, Onkelchen Hi ist heute den ganzen Tag nicht da, er geht zu den Lagerräumen. Ich könnte euch was zu essen machen, wenn ihr wollt." Aói strahlte die beiden so hingebungsvoll an, dass ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb. „Aber klar doch – es würde uns sehr freuen, danke..." Káshira lächelte verlegen und verspürte den Wunsch, sich zu revanchieren. „Hey, Aói – würde es dir gefallen, mal ganz besondere Waffen zu sehen? Wenn wir am Gasthof „Katatsúmuri" vorbeikommen, dann kann ich dir eine zeigen, wenn du willst. Dort wohnen wir nämlich", fügte er ein wenig aufgeregt hinzu. Abgesehen von dem seltsamen Namen wies die Raststätte auch noch einige andere Besonderheiten auf – Falltüren, Geheimgänge in den Wänden, die man durch steinerne Saurierstatuen erreichen konnte, und anderes mehr. Abgesehen war der Baderaum riesig. Das erste, wozu die Lady sie gezwungen hatte, war ein ausgiebiges Bad gewesen, denn laut Ráiu vertrug sie keine schmutzigen Menschen um sich.
„Äh... ist Lady Hǎi bei euch? Kann ich sie mir mal ansehen?" fragte Aói unvermittelt, als sie sich bereits auf den Weg gemacht hatten. Selbstverständlich hatte der Technikbegeisterte sofort zugestimmt; die Aussicht auf die Erforschung einer fremden Waffe ließ er sich nicht entgehen. „Sie ist doch keine Vase, die man sich einfach so ansehen kann, wie es einem gerade passt! Lady Hǎi hat Würde!" rief Tókui ärgerlich aus und verzog das Gesicht so grimmig, dass er nicht noch einmal zu fragen wagte.
Endlich erreichten sie den Gasthof; es dämmerte bereits, aber keiner ihrer Freunde hatte sich in den Zimmern eingefunden. Offensichtlich waren sie entweder noch am Schiff beschäftigt oder genossen den farbenprächtigen Sonnenuntergang über Casava, der von Káshira bestaunt, von Aói aber eher ignoriert wurde. Schließlich sah er so was jeden Tag, und es war doch bloß die gleiche alte Sonne wie immer, oder?
Tókui wickelte das Sturmgewehr in einige Fetzen Stoff, die im Zimmer lagen und steckte es in einen großen, leinenen Sack, den ihnen Hǎi geschenkt hatte. Ihre Seesäcke wären hier wohl doch etwas zu auffällig gewesen. Glücklicherweise hatte ihnen die Lady auch neue Kleider spendiert, die alten Sachen brauchten dringend Reinigung und Pflege. „Sie muss wohl doch reich sein", dachte Káshira still bei sich. „Wie könnte sie uns sonst bloß den ganzen Luxus hier finanzieren?"
Aói lebte in einem kleinen Anbau neben dem Hause seines Onkels verhältnismäßig nahe dem Marktplatz in der Stadtmitte. In seiner Wohnung war kein Mensch zu sehen, nicht einmal Diener, was Tókui doch sehr wunderte; was sie bis jetzt von Noa gesehen hatte, vermittelte den Eindruck, jedes Haus besäße einen Haufen Dienstboten.
Auf ihre Frage antwortete Aói grinsend, sein Onkel hätte beschlossen, für ihn sei es besser, erst einmal selbst für sich zu sorgen. „Abgesehen davon, das wäre wohl viel zu teuer! Onkel Hi gibt ja so schon genug Geld für den Laden und seine eigenen Diener aus. Da meine Eltern mir nicht viel Geld hinterlassen haben, muss ich ihm dankbar sein, dass er überhaupt bereit war, mich aufzunehmen. Schließlich hätte er mich ja selbst als Knecht irgendwohin verschachern können." „Oh." Tókui schwieg für einem Moment betroffen. Langsam begann sich zu offenbaren, dass nicht alle Menschen in Asante so begütert wie Manua oder Lady Hǎi sein konnten. Irgendwie hatte sie in all der Aufregung gar nicht mehr daran gedacht.
Nachdem ihnen der blauhaarige Junge in aller Eile etwas zu Essen in seiner kleinen Küche zubereitet hatte, allem Anschein nach Reiskuchen und ein Kohlgericht mit Krebsfleisch, die er „Ídlii" und „Xièhuáng Càixīn" nannte, schälte er aufgeregt das Gewehr aus seinen Hüllen und betrachtete es neugierig. „Hey, während ihr esst, könnte ich mir diese Waffe mal ansehen? Ist sie heilig, oder darf ich versuchen, sie zu öffnen? Ich bin euch ja so dankbar!"
„Klar, mach sie ruhig auf. Kugeln sind doch keine mehr drin, oder, Káshira?" meinte Tókui mit vollem Mund. Das Essen war zwar nicht so gut wie bei Manua, aber immerhin genießbar. Und nach der ganzen Schufterei knurrte ihr schon ziemlich der Magen. „Nein, mach nur." Ihr Begleiter schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. „Glaubst du, Suigín ist tot?"
Sie wurde von der Frage völlig überrumpelt und ließ ihre Stäbchen auf den Tisch fallen, von Aói glücklicherweise unbemerkt, denn er fingerte selig an der M16A2 herum. „Wie kommst du denn jetzt darauf?" „Ich weiß nicht. Bei „Xièhuáng" fiel es mir wieder ein. Suigín war doch mit einer Chinesin verlobt, oder? Und die ist dann gestorben." Seine Augen wurden dunkel und nachdenklich. „Glaubst du, er denkt noch an sie? Kitsuné meint ja, er macht sich immer noch Vorwürfe." „Ja, ja," antwortete Tókui und musterte ihn besorgt. „Aber wie kommst du denn jetzt auf – " „Es würde mir so schrecklich leid tun, wenn ich – nein, ich würde mich ewig dafür hassen, dass ich ihn nie richtig kennen gelernt habe – dass ich ihm diese ganzen dummen Dinge an den Kopf geworfen habe – weißt du – " Plötzlich hob er den Kopf, und Tókui bemerkte mit leichtem Schrecken einige Tränen darin. Oder bildete sie sich das nur ein? „Ich glaube, ich mag ihn – sogar sehr, er könnte so nett sein, wenn er nur wollte – meinst du nicht? Ich könnte ihn sogar sehr gern haben – er ist – " Als seine Stimme immer leiser wurde und schließlich ganz verebbte, schüttelte sie mit einem Anflug von Ärger den Kopf. „So, da kommst du aber wirklich früh drauf. Das hätte ich dir schon vor Wochen sagen können, weißt du das eigentlich? Du bist bloß so stur und verbohrt, dass du dich an dieser dämlichen Feind – Theorie festklammern musstest – ja nicht zugeben, dass du ihn mit anderen Augen siehst – das hab' ich schon längst bemerkt. Die anderen vielleicht nicht unbedingt, aber die kennen dich ja auch nicht so lange wie ich. Seit dem ersten Schultag – " „Ja, ich weiß, ich weiß." Er musste unwillkürlich grinsen. „Die rote Tókui und ihre zwei wilden Brüder. Shíshi- kun schuldet mir übrigens noch ein Buch – das „Hagakure". Vor den Ferien wollten wir es lesen, im Literaturclub, du weißt ja, und er hatte keins – " „Und Jarí will unbedingt mal wieder mit dir zu einem Fußballspiel. Er meint, du bist cooler als Shíshi, und ich möchte nicht mit ihm dorthin – bin zwar seine Zwillingsschwester, aber alles muss ja auch nicht sein."
„HEY! Seht nur!" unterbrach sie plötzlich ein lauter Aufschrei. Aói hockte am Boden und hatte die Waffe in ihre Einzelteile zerlegt, was sowohl Tókui als auch Káshira das Blut aus den Wangen trieb. „Du – du hast sie – auseinandergebaut – " „Na und?" Er wischte diesen belanglosen Aspekt großzügig zur Seite. „Ich glaube, ich kenne jetzt den Mechanismus – es ist gar nicht mal so schwer, wisst ihr? Man muss nur genug Eisen haben und – "
Die beiden Pfadfinder starrten einander sprachlos an, während er weiter munter vor sich hin plaudernd an der Waffe schraubte. „Baust du es dann auch wieder zusammen, so dass es auch funktioniert? Mein Vater wird mich töten, sollte ich jemals wieder nach Hause kommen ..."
Draußen war es bereits stockdunkel, und die Papierlaternen brannten schon vor jedem Haus, um die engen Straßen zu beleuchten. Káshira bemerkte es mit Schrecken.
„He, Aói – war ja ganz nett bei dir, aber wir müssen jetzt zu unserer Unterkunft – sonst können wir womöglich nicht mehr rein – " „Schon gut, vielen, vielen Dank für eure Hilfe, sonst hätte ich es nicht so schnell geschafft. Und danke, dass ich die Waffe sehen durfte. Sie ist so – so interessant – ihr müsst wirklich von weit her kommen, wenn ihr solche Dinge mit euch führt – " „Sonst behalte die Waffe bis morgen und gib' sie uns dann zurück. Bis übermorgen sind wir ja auf alle Fälle noch hier, und da ist noch Zeit genug – es würde mir leid tun, deinem Interesse im Weg zu stehen", lächelte Káshira freundlich. Die Gedanken an ihre Freunde hatten die Zwei wieder fröhlicher gestimmt, da konnte er jetzt ruhig großzügig sein. Als sie später nach einer hastigen Wanderung das „Katatsúmuri" erreicht hatten, befand sich sein Gemütszustand wieder ungefähr im Gleichgewicht, obwohl er sich noch immer große Sorgen um Hotáru machte. Und Tókui hatte alles geahnt? Offensichtlich war er immer leichter zu durchschauen.
Beide fielen todmüde ins Bett, nachdem sie von ihren Kameraden noch von einem Haufen neugieriger Fragen buchstäblich durchlöchert worden waren. Jeder hatte sich über den seltsamen Jungen Aói gewundert, der so schnell in der Lage gewesen war, die Funktionsweise eines Gewehres zu verstehen.
In der selben Nacht, in der die fünfzehn Pfadfinder inklusive Manua und Sénsō friedlich in ihren Betten schlummerten, wurde Shíkū Aói von lauten Geräuschen aus dem Schlaf gerissen und von einem Haufen Soldaten unsanft in das städtische Gefängnis gezerrt, während sein Onkel von Major Sākuru einen ordentlichen Batzen Goldstücke in einem ledernen Beutel ausbezahlt bekam. Das Gewehr wurde mit einer Menge anderem Krimskrams wie Werkzeug und unvollständigen Geräten ebenfalls in das Gefängnis gebracht, um später der Anklage zu dienen. General Mosar erhielt von einem triumphierenden Sākuru die Nachricht per Eilboten und machte sich mit schlechtem Gewissen auf den Weg zurück ins Haus seiner Géisha.
Yamanéko wusste nicht genau, was sie dazu sagen sollte. Natürlich war auch sie erfreut, dass der König nun nicht mehr so viel Grund hatte, sich zu beschweren, aber – natürlich musste er jetzt wieder weg, und zwar ohne Aufschub. Noch einmal konnte er nicht seinen Stellvertreter schicken, um bei ihr zu bleiben.
„Ich verstehe das doch, Jīngtǐ. Schon gut, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, ich bin nicht wütend." Sie schüttelte lächelnd ihren Kopf und half ihm in die Rüstung. Mosar stand da wie ein kleiner Junge, der die Strafe für irgendeine Dummheit fürchtet und blinzelte sie unter niedergeschlagenen Augenlidern reumütig an. „Oh, Yamá- chan – du weißt ja – es tut mir ja so leid – " „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, wirklich nicht. Sieh' bloß zu, dass du diese Kinder endlich fängst – damit der Shi Huángd nicht schon wieder wütend auf dich ist – ich mache mir schon Sorgen. Wirklich, ich weiß doch, dass deine Missionen wichtiger sind, als hier tatenlos herumzusitzen. So einen Mann würde ich auch gar nicht wollen", setzte sie neckend hinzu und strahlte ihn plötzlich über das ganze Gesicht lächelnd an. „Ich liebe dich ganz genau so, wie du jetzt bist. Einen Sesseldrücker als Dánna – nein danke! Du wärst nicht glücklich, ich genauso wenig – also ist es doch ganz gut so, oder?"
Mosar begann jetzt auch erleichtert zu lächeln. „Ich bin ja so froh, dass du das ganz genau so siehst – das kannst du dir gar nicht vorstellen – "
Am nächsten Morgen stand Casava kopf. Als die ersten Diener mit den kopierten Nachrichten in die Häuser ihrer Herren zurückkehrten, begannen die Leute aus ihren Wohnungen auf die Straße zu strömen und sich vor den Kundmachungen zu versammeln. Diesen Shíkū Aói hatte es also erwischt; obwohl er tagsüber immer im Laden seines Onkels brav bei der Arbeit gesehen worden war, hatte er dem unseligen Verlangen, sich mit der verbotenen Technik zu befassen, nicht widerstehen können. Neugierig gafften sie durch die Scheiben des „Xiānměide", hinter der man schemenhaft den alten Hiuchí-ishi mit seinem Mitarbeiter Koiro erkennen konnte. Er wirkte älter und gebeugter als vor einem Tag, mehr konnten die Leute zunächst nicht erkennen, bis er ihnen den Gefallen tat, den Laden zu verlassen.
Respektvoll traten sie einen Schritt beiseite, einerseits, um ihm Platz zu schaffen und andererseits, um ihn ungehindert anstarren zu können. Einige zeigten sogar auf ihn; die anderen wurden des Gaffens bald müde, an so einem Ladenbesitzer gab es ja auch nicht viel zu sehen. Die Menschenmenge zerstreute sich bald; zurück blieben nur ein leerer Platz und Unrat, der bald von Wind und umherstreunenden Sauriern in alle Richtungen verteilt wurde.
„Ich mache mir Sorgen, Koiro. Vielleicht war es falsch, den Kleinen zu verraten. Aber ich brauche das Geld – und er hat doch wirklich gegen alle herrschenden Gesetze verstoßen, nicht wahr? Es war meine religiöse Pflicht, ihn anzuklagen. Und mein Laden – "
„Natürlich. Ihr hattet natürlich recht, Hiuchí-ishi- san.", antwortete der Angesprochene, ein dunkelhäutiger Mann, ähnlich wie Matandua und Talingo. „Der Junge hätte sich eben an die Lehren halten und nicht mit solch ketzerischen Dingen befassen sollen – kein Wunder, dass die Armee ihn so schnell inhaftiert hat. Euer Verrat war die Pflicht eines Mannes gegen seinen König."
Auch Hǎi hatte die Nachrichten gelesen und sich so schnell wie nur möglich auf den Weg zum „Katatsúmuri" gemacht, um die Kinder zu wecken und über die neuesten Ereignisse zu informieren. Nun, da die Soldaten aufmerksam geworden waren und es nur eine Frage der Zeit sein konnte, wann der General eintreffen würde, war es nötig, die Kinder fortzuschaffen, ehe sie gefunden werden konnten. Abgesehen davon fühlte sie sich äußerst unruhig; ein starker Wetterumschwung stand bevor. Selbst Lóng benahm sich nicht so munter wie sonst sondern schien sich eher mit Mühe auf ihrer Schulter zu halten.
„Ja, aber – zuerst war Eure Meinung doch dahingehend, dass wir an die drei Tage hier bleiben müssten – und heute ist doch erst der Zweite – " murmelte Manua aufgeschreckt und starrte die Lady aus großen Augen an. Diese winkte mit einer ärgerlichen Bewegung ab und runzelte die Stirn. „Meine Auftraggeber waren schneller als gewöhnlich. Außerdem wird sich das Wetter bald ändern; ich kann die Bewegung der Wellen fühlen – der Wind dreht sich, die jährlichen Stürme sind diesmal früh dran. Wenn ich die Línghún nicht bald in eine Bucht bringen kann, sehe ich schwarz für unsere Zukunft, denn dann wird es kein Schiff mehr geben, dass euch nach Uerū bringt. Heute noch fahren wir nach Ròushíyú, in zwei Tagen dürften wir dort sein. Leider kann ich euch dann nicht weiter mitnehmen, in spätestens einer Woche hole ich euch dann wieder ab. Wenn wir großes Glück haben, erreichen wir Uerū dann in drei oder vier Tagen, dann kann ich die Línghún dort in Sicherheit bringen. Zum Glück verfügt die Insel über einen gut befestigten Hafen."
Eilig packten die Pfadfinder ihre Sachen zusammen und huschten so unauffällig wie möglich hinter Hǎi her, verzweifelt bemüht, Sénsō zu verstecken, denn die Seefahrerin hatte ihnen nebenbei noch erzählt, dass die Soldaten nach einem kleinen Pteranodon suchten, und nur wegen dem ständig unzufrieden vor sich hin meckernden Tier gefangen zu werden, lag nicht in ihrem Sinne.
Dāorèn und Huǒshān erwarteten sie bereits, das Schiff startklar und zum Ablegen bereit, alles wartete nur noch auf sie. Inázuma arbeitete mit Tsumé an den Segeln, um soviel Wind wie nur möglich einzufangen, und dann waren sie auch schon draußen am Meer, allerdings immer nahe der Küste. Auf Sachou's neugierige Frage antwortete der weißhaarige junge Mann ernst und schüttelte sich leicht. „Da draußen gibt es Ungeheuer, ihr müsstet sie mit eigenen Augen sehen – aber ich rate euch nicht dazu. Betet lieber, dass diese Reise ruhig verläuft – wenn wir Pech habe, dann geraten wir zu weit nach draußen ins offene Meer, und dann könnten wir schnell Beute werden – meine Großeltern trieben mit ihrem Fischerboot ab und man fand nicht einmal mehr ein paar Holzteile, geschweige denn der Mannschaft."
Haná, Kiíchigo und Hiyokó kreischten entsetzt auf und drängten sich enger aneinander, während sich Tókui ebenso wie Káshira nur leicht schüttelte und Kamomé keinen Muskel rührte. In den letzten Tagen war sie ohnehin noch stiller und unnahbarer geworden als sonst; Hotáru schien ihr zu fehlen. Zwar schlich Kagamí ständig um sie herum und versuchte sie aufzumuntern, doch das half nicht viel; schön langsam begann er ihr lästig zu werden.
Zwar besaß auch sie nicht sehr viel Wärme, doch im Gegensatz zu ihr war er ausgeprägt auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Ein unschöner Wesenszug, der ihr gar nicht gefiel; aber immerhin verstand er mehr von Wissenschaft als alle anderen zusammen, und sie brauchte eben auch einen Gesprächspartner, jetzt, wo Suigín nicht mehr hier war.
Lady Hǎi befahl ihnen, sich ruhig zu verhalten und ihre Mannschaft nicht zu stören, also zeigte ihnen Huǒshān noch schnell ihre Unterkünfte und verschwand dann eilig wieder an Deck. Stumm blickten sich die Pfadfinder um und staunten nicht wenig. Hǎi hatte es geschafft, aus den nötigsten Dingen an Bord, denn nichts in diesen Zimmern war überflüssig, eine Atmosphäre zu schaffen, die stark an die eines traditionellen Ryokán erinnerte. Zwei Futón in jeder Kabine, ein kleiner Tisch und zwei Zabúton, ein Bild an der Wand und ein kleiner Schrank vervollständigten die Einrichtung. Neugierig spähten die Kinder in jeden Raum, der nicht verschlossen worden war, und staunten nicht schlecht, als sie eine Reihe zinnener Badezuber entdeckten. Die schöne Lady schien auch auf ihrer Dschunke stets auf Reinlichkeit zu achten, was vor allen Moko mit Beifall quittierte. „So ist's recht. Es gibt ja nichts ekelhafteres als stinkende Menschen, nicht wahr, Kiíchigo?" Sie nickte und tat, als wäre sie gestolpert, um die Chance, Káshira's Arm packen und festhalten zu können, nicht zu verpassen. Zunächst war sie ihm eigentlich lästig, dann aber überlegte er es sich anders und lächelte ihr freundlich zu. „Kií- chan... Diese Zimmer sind doch einfach wie geschaffen für –"
„An so was denkst du? Ich muss doch sehr bitten!" tat sie empört und löste sich langsam von ihm, nicht ohne vorher noch einmal anzüglich gezwinkert zu haben. Die Sache entwickelte sich zu ihren Gunsten...
„Wie sollen wir denn die Zimmer aufteilen? Wer geht mit wem in eine Kabine, vergesst aber nicht, wir müssen zwei Tage ganz ohne Streit auskommen, sonst wird uns Hǎi nicht weiter mitnehmen, fürchte ich. Sie wirkt ja jetzt schon ziemlich genervt.", meinte Sachou ernst und runzelte besorgt die Stirn. Schade, dass er nicht mit Manua ins selbe Zimmer –
„Ich kann direkt hören, wie die schmutzigen Gedanken in deinem Kopf herumkriechen – schämst du dich denn gar nicht?" zischte Tókui ärgerlich auf und versetzte ihm einen harten Klaps auf die Schulter. Erschrocken zog Sachou den Kopf ein und wanderte geknickt zur Seite. Woher konnte sie nur wissen...
„Kitsuné- kun und ich teilen uns ein Zimmer", tönte es von den Kleinen her. Chujitsu hatte zwar einen puterroten Kopf bekommen, hielt sich sonst aber recht standhaft. Káshira musterte seinen kleinen Bruder mit einem Hauch von Erstaunen. Seit wann waren denn die Zwei so eng zusammen –
„Ich will alleine sein", meldete sich Kamomé mit erschöpfter Stimme. Unter ihren Augen befanden sich tiefe Augenringe, und die Bewegung, mit der sie sich durchs Haar strich, wirkte fahrig. Offensichtlich hatte sie nicht soviel geschlafen, wie es nötig gewesen wäre – Kiíchigo warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. Die Einzige unter den Mädchen, der Trauer zustand, war sie – und nicht diese Aranámi – die hatte über Hotáru nicht einmal einen Gedanken zu verlieren. Na, wenigstens hatte ihr Káshira heute wieder zugelächelt; in den letzten Tagen war sie in der Hinsicht richtiggehend zu kurz gekommen –
Kagamí hängte sich an Moko, Sachou pochte auf sein Recht als Ältester und verlangte ebenfalls eine Einzelkabine, die Zwillinge waren ohnehin zusammen, ohne Frage – und zu Káshira kam Watarí, der ihn bat, mit ihm eine Kajüte zu teilen. Milde erstaunt stimmte er zu. Ehrlich gesagt wirkte Watarídori eher so, als wollte er ihn am liebsten aus einem der Bullaugen werfen und nicht, als brenne er darauf, zwei Nächte lang mit ihm im selben Zimmer zu verbringen. Manua nächtigte ebenfalls in einer Einzelkabine. Erstaunlicherweise war auf diesem Schiff genug Platz für so viele Schlafräume – was auch immer Lady Hǎi transportierte, besonders groß konnten diese Ladungen nicht sein, denn das Schiff lag nicht sonderlich tief im Wasser, und soweit sie gesehen hatten, waren größere Lieferungen auch ausgeblieben, aber natürlich mochte das auch daran liegen, dass sie die Dschunke erst vor zwei Tagen gesehen hatten.
Es konnte ja auch schon alles an Bord geladen worden sein, noch ehe sie überhaupt von Lady Hǎi's Existenz erfahren hatten.
Der Tag verging ereignislos; die Kinder taten nichts anderes, als still in einer Ecke an Deck zu sitzen und den über dem Wasser kreisenden Pterosauriern zuzusehen. Es gab ja so unglaublich viele Arten – einige ganz Kleine, die sonst eigentlich nur auf den Rücken oder in der Nähe großer Sauropoden wie den Diplodocus oder Camarasauriern zu finden waren, oder Pteranodon, wie Sénsō einer war – die Pfadfinder staunten stumm und Haná klatschte begeistert, wenn es einem von ihnen wieder einmal gelungen war, mit großem Geschick einen Fisch aus dem Meer zu erwischen, ohne dass seine zierlichen Flughäute mit Wasser benetzt wurden.
Einmal erhob sich weit draußen in der Ferne, ein gutes Stück vom Korallenriff entfernt ein großer, dunkler Kopf aus dem Wasser. Kagamí deutete aufgeregt darauf und jubelte beinahe. „Seht mal ,das ist ein Pliosaurier! Oder ein Plesiosaurus, so genau kann man das von hier aus nicht erkennen – sind sie nicht wunderschön?" Sénsō schnatterte ein wenig eifersüchtig auf und drängte sich an den Jungen, der freundlich den Arm um ihn legte. „Also wirklich, Sénsō, du benimmst dich ja immer so, als würden wir dich gleich über Bord werfen wollen – du weißt doch, dass wir so was nie tun würden – " „Ja, ja." Der kleine Pteranodon verbarg seinen Kopf ein wenig unter den Flügeln und schüttelte sich leicht, als er in Lady Hǎi's Richtung blickte. Wie üblich thronte Lóng auf ihrer Schulter und öffnete träge sein kleines Mäulchen, aus dem ihnen eine Batterie nadelspitzer, in der Sonne gefährlich funkelnder Zähne entgegenblitzte. „Sieh nur – ich glaube, der würde mich am liebsten fressen." „Schon möglich." Kagamí zuckte gleichgültig mit den Schultern und kraulte leicht seinen Kopf. „In der Schule haben wir gelernt, dass selbst große Raubsaurier den Angriff eines Rudels Compsognathus fürchten mussten – schließlich gleicht ihr Körperbau dem der riesigen Carnivoren. Sie waren wie Piranhas – " „Oh! Seht doch!" kreischte Kiíchigo plötzlich aufgeregt auf und deutete auf einen Punkt einige Meter über ihr. Als die Kinder erstaunt der Gebärde folgten, segelte auf ihre Schulter plötzlich ein wie aus dem Nichts aufgetauchter kleiner Vogel; nein, kein Vogel, sondern ein Archaeopteryx. Das Gefieder des kleinen Tierchens schillerte farbenprächtig in der Sonne, und er sah süß und unschuldig aus – nicht einmal die Ansammlung spitzer Zähne in seinem schuppigen Mäulchen und die drei lange, dolchartigen Zehen, die aus den Flügeln ragten, vermochten den Eindruck zu ändern. Hingerissen starrte Kiíchigo auf den kleinen Saurier und streichelte vorsichtig die harten Federn. „Oh, ist der s, so niedlich – am liebsten würde ich ihn behalten – " Aber schon erhob sich der Kleine wieder und hielt seine Schnauze kurz, wie zum Abschied, an ihre Wange. Bedauernd seufzend blickte ihm das braunhaarige Mädchen hinterher und beobachtete gerührt, wie er im Gleitflug über das glitzernde Wasser schwebte. Huǒshān, die hinzugekommen war und die ganze Szene mitbekommen hatte, lächelte erstaunt. „So was – eigentlich kommen die nie so weit heraus – bleiben lieber an Land – "
„Hey, Mannschaft! ESSEN!" ertönte eine missmutig kreischende Stimme aus der Kombüse, die unter Deck lag. Tsumé streckte gerade seinen Kopf aus der Luke und winkte ungeduldig, während die Seeleute dem Befehl langsam Folge leisteten. Huǒshān schnitt heimlich eine respektlose Grimasse und deutete auf den mürrischen Schiffskoch. „Pah, ein Wunder, dass sein Essen überhaupt schmeckt – so sauer, wie der immer dreinschaut, es würde mich nicht wundern – " „He, HUǑSHĀN! Das habe ich gehört!" „Oh, verdammt!" zischte sie ertappt und schüttelte sich leicht. „Der hört wohl Alles..."
Die Mahlzeit wurde in einem großen Speisesaal serviert, der wie die Zimmer einen streng japanischen Stil aufwies. Die Mannschaft hockte auf weichen Sitzkissen und schaufelte das – wirklich vorzügliche – Essen in sich hinein. Auch bei Tisch duldete der Kapitän keine Ungezogenheiten; keiner der Männer und Frauen wagte es, etwas auf den sauberen Boden fallen zu lassen oder gar zu rülpsen. Das hier musste wohl das sauberste und kultivierteste Schiff sein, das derzeit auf Noas Meeren unterwegs war.
Aus Erzählungen und ihrem Geschichtsunterricht wussten die Pfadfinder, dass Seeleute selbst vor 100 Jahren nicht einmal halb soviel Luxus genossen hatten – Schiffe waren schmutzig, eng, die Mannschaft roch nach Schweiß – nicht so bei Lady Hǎi. Noa war schon ein erstaunlicher Planet, das musste man ihm lassen.
Serviert wurde Fisch – es sah ganz so aus wie Hotáru's Lieblingsgericht, nämlich „Sáke no Yuanyaki". Watarí musste danach bei jedem Bissen an seinen Freund denken, längst vergessene Szenen drängten sich ihm ungewollt auf. Hotáru in halb geöffnetem Hemd zum Beispiel. Káshira linste schon eine geraume Weile zu ihm hin und konnte schließlich das Grinsen nicht mehr zurückhalten. „Oh, du denkst doch sicher an was Schweinisches, oder? Seit fünf Minuten hältst du den selben Bissen in der Hand, ohne ihn zu essen. Hab' ich recht oder nicht?" „PAH! Gar nicht wahr!" zischte Watarí erschrocken zurück und stopfte eilig das Fischstückchen in seinen Mund. „Ich denke an gar nichts – " „Klar doch." Káshira lachte spöttisch auf und widmete sich wieder seinem Fisch, während Watarí's wütender Blick selbst Steine zum Schmelzen gebracht hätte. Hǎi bemerkte es und stützte interessiert das Kinn auf dem Handrücken auf. „Sagt mal..." begann sie langsam und lächelte kokett, „Euer hübscher blonder Freund ist doch nicht der wahre Grund für eure ständigen Streitereien, oder? Jedenfalls kommt mir das so vor – " „Spinnst du? Das ist doch wohl – " „So ein Unsinn, an den denken wir nicht mal – " krakeelten die beiden Angesprochenen mit puterroten Gesichtern, während sie hektisch in der Luft herumfuchtelten, um die absolute Desinteresse an Hotáru glaubhaft zu unterstreichen, während sie von Hǎi sanft belächelt wurden. „Ja, ja – ihr seid ja so eifrig damit beschäftigt, mich vom Gegenteil zu überzeugen, dass ich fast an meiner Theorie festhalten möchte – "
„Matandua, Ihr werdet euch nicht in Casava aufhalten, sondern bereits von Shíyīng aus das schnellste Schiff nehmen, dass in Richtung Uerū unterwegs ist. Ich habe so einen Verdacht – diese Kinder kommen aus der Fremde, sie verfügen über seltsames Fahrzeug und Waffen. Einer der in Casava ansässigen Soldaten hat bemerkt, dass ein seltsamer Wagen auf ein Schiff namens – " er stockte kurz und schien für einen Augenblick seinen Augen nicht zu trauen, als er die eilig hingeworfenen Schriftzeichen auf der Papierrolle entzifferte. „Auf ein Schiff namens „Línghún", Besitz einer gewissen Hǎi, verladen wurde. Den Soldaten wunderte es, dass die Form der Fracht so seltsam aussah, und dann erinnerte er sich wieder an unser Rundschreiben, auf dem die Silhouette dieses Wagens beschrieben und illustriert war – anscheinend ist es den Kindern noch rechtzeitig gelungen, zu fliehen. Allerdings werden sie sicher auf Ròushíyú Zwischenstoppen. Auch Hǎi muss Wasser nachtanken, ganz sicher."
„Gut." Der Hauptmann nickte knapp und wurde von Mosar mit einem schnellen Wink entlassen. „Major Sākuru befindet sich in Casava und wird auch dort bleiben. Er hat mir eine Eilbotschaft gesandt, in der er schreibt, er habe eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Es hat etwas mit einem erst kürzlich inhaftierten Sträfling zu tun, der sich mit Technik beschäftigt hat – mehr steht nicht drin. Aber ich werde mich ebenfalls nach Casava begeben und Matandua soll inzwischen die Kinder und diese Verräterin fangen und auf den Königshof bringen. Soweit ich weiß", seine Stirn runzelte sich sorgenvoll „Will der Hohenpriester mit ihnen sprechen. Glücklicherweise ist der gefangene Junge die meiste Zeit bewusstlos, deshalb kann er mit ihm nicht viel anfangen – aber ich mache mir große Sorgen, was er von ihnen will, bei Hohenpriester Chié ist alles möglich – "
„Wird schon nicht so schlimm werden, Junge," warf Pul ein und wiegte seinen Oberkörper leicht hin und her. „Dafür werden wir schon sorgen. Wenn es uns nicht passt, kriegt sie der Hohenpriester auch nicht zu sehen, da können wir auch sicher auf Fräulein Orimé zählen. Ihrem „Charme" hat selbst der Hohenpriester nichts entgegenzusetzen. Für solche Dinge ist sie ja ganz nützlich, aber manchmal denke ich doch, sie hätte besser ins Heer gepasst. Kinder zu erziehen ist zweifellos nicht ihre Stärke. Man sehe sich doch bloß das Schicksal der kleinen Prinzessin Yèyīng Bèi an – ein Wunder, dass Prinzessin Asuka – "
„Prinzessin Asuka ist in der Hinsicht duldsamer als es Yèyīng je war. Abgesehen davon liebte sie das Meer zu sehr – man kann von einem Menschen nun mal nicht alles erzwingen – " Mosar war ernst geworden und schien in Erinnerungen zu schwelgen. „Erst Zwölf, noch so jung – aber Härte hatte sie, das kann man nicht bezweifeln. Ein ganz außergewöhnliches Mädchen." Pul ritt neben seinem Schüler und schüttelte kummervoll den Kopf. Sein Saurier war ein ganz gewöhnlicher Camptosaurus, gut geeignet für lange Strecken, ausdauernd, brav allen Befehlen gehorchend, wie er von allen Soldaten geritten wurde. Jedenfalls beinahe allen.
Mosar hielt einen klein gewachsenen, aber immer noch beeindruckend großen Dilophosaurus am Zügel und dirigierte ihn lässig hin und her. Anfangs hatten sich die pflanzenfressenden Saurier schrecklich vor dem gefährlichen Fleischfresser gefürchtet, aber mit der Zeit daran gewöhnt. Durch einen kundigen Shétou war aus dem bissigen kleinen Saurier, den Mosar vor fünf Jahren aufgelesen und mit viel Geduld gepflegt hatte, ein brauchbares Reittier geworden. Der Dilophosaurus fiel keine Menschen an; Saurier nur dann, wenn Mosar es ihm erlaubte. Mit ihm kam er bei weitem schneller voran als alle seine Soldaten, dieser Umstand hatte auch zur schnellen Rettung des fremden Jungen geführt.
Das Zimmer, in dem er lag, war düster und leer. Man konnte zwar das Sonnenlicht erkennen, dass durch unzählige kleine Ritzen der Bambusmatten vor den Fenstern in den Raum sickerte, doch an der erdrückenden Dunkelheit änderte das nichts. Das Atmen fiel Hotáru seit zwei Tagen immer schwerer; und er wollte auch gar nicht mehr aufwachen. Wach zu sein bedeutete, genau zu wissen, wo er sich befand, und auch zu bemerken, dass sich kein Mensch außer dem Mädchen, dem kleinen Jungen namens Dengei und einigen namenlosen Pflegern um ihn kümmerten. Natürlich war es blöd und egoistisch – das sah er ja auch selbst ein – erwarten zu wollen, dass sich seine Pfadfinderkollegen um ihn kümmerten. Das würde ja bedeuten, dass sie gefangen worden wären, und – Aber trotz aller Logik wünschte er sich verzweifelt, ein bekanntes Gesicht zu sehen – Aranámi, oder seinen Bruder – Bleischwer schien ein Gewicht auf seiner Brust zu lasten, dass das Atmen zu einer Qual werden ließ. Schmerzerfüllt keuchend lehnte er seinen Kopf wieder ganz nach hinten und schloss krampfhaft die Augen, um wieder in den Schlaf zu sinken, in dem für ihn keine Gefühle existierten.
Talingo betrat leise den Raum und legte vorsichtig die Hand auf die Stirn des Gefangenen. Das Fieber war weder gesunken noch schlimmer geworden; es blieb immer ziemlich im Gleichstand, ein Aspekt, der allerdings keine rechte Freude in der Heilerin aufkommen lassen wollte. Warum wurde dieser Junge nicht gesund? Natürlich, seine Wunde war nicht gerade oberflächlich – aber er lag seit seiner Ankunft mit hohem Fieber da und wurde kaum einmal richtig wach. Ihm Flüssigkeiten einzuflößen war nicht schwer; Nahrung allerdings verweigerte er standhaft, wo er nur konnte. Talingo seufzte ärgerlich auf. Manchmal wollte es ihr scheinen, als wäre das bloß eine boshafte Marotte, um sie auf Trab zu halten.
Ein leises Geräusch an der Tür ließ sie auffahren, als sie sich aber eilends umgedreht hatte, war es nur Yamanéko, die sich mit verlegenem Lächeln an den hölzernen Rahmen lehnte.
„Äh... Mosar lässt nur fragen, wie es dem Jungen geht. Seine Leute schreiben gerade eine Nachricht, und da könnte ich es gleich hinzufügen lassen – er möchte den Kindern, wenn er sie gefangen hat, sagen können, wie es um ihren Kameraden steht." „Natürlich." Talingo straffte ihre Gestalt und schritt gemessen an der Géisha vorbei. „Es geht ihm wie immer, die Wunde heilt gut, er hat allerdings noch etwas Fieber – aber ich werde eine neue Therapie ausprobieren, damit vielleicht – " Eifrig vor sich hin murmelnd eilte sie plötzlich beschleunigt den Gang hinunter und ließ Yamanéko einfach stehen, ohne ihr noch viel Beachtung zu schenken. Aber das war man von der vielbeschäftigten Heilerin ja schon gewöhnt.
Als es dämmerte, verschwanden die Kinder nach und nach in ihren Kabinen und schlüpften unter die Decken. Die Luft begann langsam empfindlich kalt zu werden, und sie waren müde.
Lady Hǎi ließ sich von Huǒshān eine warme Jacke an Deck bringen; für sie war der Tag noch nicht zu Ende. Inázuma und Ráiu beobachteten Dāorèn, der sich im Licht der zwei Monde elegant und geräuschlos von Mast zu Mast schwang, um dann völlig schwindelfrei auf einem langen Querbalken spazieren zu gehen. „Er ist verrückt, nicht wahr? Wie kann man bloß so ungerührt in einigen Metern Höhe auf und ab laufen? Ich würde herunterfallen.", knurrte der rothaarige Mann verdrießlich und starrte seinem Widersacher in Sachen Lady Hǎi ärgerlich nach, während die alte Frau lediglich ein asthmatisches Lachen von sich gab. „So, so, immer noch böse auf den schönen Dāorèn. Du und er, ihr gebt schon ein seltsames Gespann ab. Immer im Streit um Hǎi, aber wenn es hart auf hart kommt, dann könnt ihr auf einmal zusammen kämpfen, als wärt ihr ein Herz und eine Seele."
Inázuma schwieg eine Weile, während er das eben Gehörte verdauen musste. Dann streckte er sich nachlässig und grinste. „Das ist was anderes. Kämpfen kann er ja nicht so schlecht, aber trotzdem – in allen anderen Dingen ist er – pah, da kann er mir doch das Wasser nicht reichen. Abgesehen davon – was ist denn das für ein Name, „Dāorèn". Klingt doch dämlich." „Nicht schlimmer als Inázuma, findest du nicht auch? Ihr seid ja beide nicht gerade bescheiden."
„Worüber sprecht ihr? Das will ich auch hören!" mischte sich unerwartet die junge Lady ein. Sie hatte noch schnell ihre Frisur in Ordnung gebracht, aus einem großen Knoten waren zwei kleinere geworden, die an jeder Seite ihres Kopfes mit einer Menge Haarnadeln befestigt worden waren. Ráiu erhob sich seufzend und streckte ihren alten Körper vorsichtig. „Das war nur Geschwätz, sonst nichts. Kümmere dich nicht darum; wir sollten jetzt lieber mit dem Training beginnen, solange die Nacht noch ruhig ist." „Natürlich." Folgsam stellte sich das Mädchen in Position und blickte ihrer Meisterin erwartungsvoll entgegen.
Unterdessen hatte sich Káshira in seiner Kabine aufgesetzt, um die Monde zu betrachten, deren Glanz sich auf den Wellen brach. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass sich ein wütendes Augenpaar an ihm festgesaugt hatte. Wenn Blicke töten könnten –
„Was willst du denn, Ukí? Du starrst mich schon die ganze Zeit so an, als würden jeden Moment Tentakel aus mir wachsen." „Aber wie kommst du denn nur darauf? Ich – ich sehe dich übrigens gar nicht an. Ich – ich betrachte die Monde.", zischte Watarí nur mit Mühe beherrscht zurück und streckte ihm die Zunge heraus. Gut, dass er ihm den Rücken zudrehte –
„Ist es wegen Hotáru? Ich kann nichts dafür, dass er gefangen genommen wurde, und das weißt du ganz genau." „Habe ich von Hotáru gesprochen? Jetzt geht es doch nicht um ihn, oder? Abgesehen davon ist es mir ganz egal, was du denkst!" fauchte der Schwarzhaarige wütend und knallte seine Faust auf den Futón. Wenn er bloß nicht so viel sinnlosen Hass fühlen würde – aber er konnte es nicht ändern –
„Wenn du wütend auf dich selber bist, dann ist das nicht meine Schuld, und abgesehen davon hättest du nicht die selbe Kabine nehmen müssen wie ich! Warum sollte ich mich jetzt wohl von dir anfauchen lassen?" „Weil du ein elender Schleimer bist, deshalb! Früher war dir Hotáru völlig egal, aber jetzt musst du ja den Sorgenvollen spielen! Nur, damit du später gut dastehst, Káshira unser Held! Das ist doch immer so, oder?" kreischte Watarí erbost und richtete sich auf. Káshira hatte sich herumgedreht und starrte ihn an, vor Wut kalkweiß und zitternd. „So, du glaubst also, ich mache mir bloß Sorgen um ihn, damit ich mich später nicht dafür rechtfertigen muss, dass ich mich nie um ihn gekümmert habe? Das ist doch sonst eigentlich deine Spezialität, oder? Der Schleimer hier bist du!" „ACH JA?"
Irgendwie war es befreiend für Watarí, sich auf Káshira zu stürzen und ihm die Faust in die Schulter zu rammen – das Gesicht verfehlte er leider. In der Folge knallten die verbissenen Kämpfer vom Futón auf den Boden hinunter und rollten dort wie eine unförmige Masse hin und her, aus der ab und zu entweder ein Arm oder Bein ragte und erstickte Schreie hörbar wurden. Nach einigen Minuten der lautstarken Auseinandersetzung öffnete sich die Tür mit einem Knall und Moko stürmte herein, gefolgt von Tókui und einer sehr verschlafen wirkenden Kamomé. Die Kleinen hatten sich in ihre Betten geflüchtet und die Decke über die Ohren gezogen. Man konnte ja nie wissen –
„Na, ihr seid vielleicht Idioten! War das jetzt nötig?" Ärgerlich brummend packte Moko in das Knäuel und zerrte einen der beiden Streithähne hervor. Watarí zappelte zwar noch eine Weile und wehrte sich heftig, sah aber dann die Übermacht des dicken Jungen ein und hielt endlich still. Sein linkes Auge begann bereits zuzuschwellen, und spätestens morgen früh würde es in allen Farben schillern. Auch sein Schlafanzug hatte einiges abbekommen; unzählige kleine Risse und Schrammen bedeckten den Stoff.
Káshira sah nicht viel besser aus. Einmal hatte Watarí es geschafft, seine Faust genau auf seine Lippen zu platzieren, was dazu führte, dass sie bluteten und die Obere leicht anschwoll. Ein trauriger Anblick; Tókui schüttelte den Kopf und seufzte nur. „Moko hat recht, ihr seid Idioten und benehmt euch wie kleine Kinder. Wir haben doch ausdrücklich beschlossen, dass es keinen Streit geben soll, oder? Was, wenn uns Lady Hǎi auf dieser Insel sitzen lässt und niemals nach Uerū bringt? Dann haben wir Pech gehabt, und nur wegen euch!"
Die beiden Raufbolde senkten ihre Köpfe und murmelten Unverständliches. Da mischte sich eine erschrockene, mädchenhafte Stimme ein – Kiíchigo hatte sich endlich dazu überwunden, aufzustehen und nach dem Rechten zu sehen. „Oh, Káshira- kun, du Armer. Komm, ich helfe dir – Ich versorge dein Gesicht, Haná kann inzwischen zu Hiyokó ins Zimmer – "
Eins musste man ihr lassen. Niedlich und unschuldig zu wirken war bei ihr kein Wesenszug mehr, sondern grenzte schon direkt an Kunst.
Munter vor sich hin plappernd tupfte sie sein geschundenes Gesicht ab, nachdem die anderen sie alleine gelassen hatten und Káshira währenddessen in seinem Gehirn wütende und rachelustige Gedanken wälzte. Was bildete sich dieses kleine Ekel eigentlich ein – er war immerhin jünger, und überhaupt – Und Hotáru war ein halbes Jahr älter. Erschrocken wischte er die Gedanken an seinen blonden Senpai aus dem Kopf und widmete sich wieder seiner bezaubernden Krankenpflegerin, die ihm zärtlich zulächelte. Na ja, immerhin war sie nicht mehr verlobt –
„Was – " Mit einem leisen Geräusch traf das nasse Tuch auf dem Boden auf, als Káshira ihre Arme packte und sie mit sanfter Gewalt nach hinten auf den Futón drückte. Kiíchigo's Augen weiteten sich ungläubig und erwartungsvoll, als er begann, sie ungestüm zu küssen. Na endlich. Wurde ja auch Zeit. „Mmmh..." Er ging ziemlich schnell vor und zerrte ungeduldig an ihren Sachen. Schließlich wollte er heute ja auch noch schlafen – Es dauerte nicht lange, bis sie nur noch ihre Unterwäsche trug und ihn mit einer Mischung aus Angst und Erwartung betrachtete. Er liebte sie ja doch – und endlich konnte sie ihren Freundinnen etwas erzählen. Natürlich nur, wenn sie es auf die Erde zurückschafften. Káshira genoss es natürlich, das schöne Mädchen ganz für sich zu haben – immerhin lebte er ja jetzt auch schon seit einiger Zeit sozusagen keusch, das war ihm seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr passiert. Leider drängte sich nach ein paar Minuten wieder einmal das Bild eines hübschen blonden Jungen in sein Gedächtnis. Wie ärgerlich, gerade in so einem Moment an ihn zu denken – Aber sooft er auch versuchte, ihn mit einem Kopfschütteln (über das sich Kiíchigo schon zu wundern begann) aus seinen Gedanken zu vertreiben, es gelang nie. Hotáru schien sich im Gegenteil immer fester in sein Gehirn zu fressen und stand ihm schließlich unauslöschlich vor Augen, so dass er nicht mehr Kiíchigo, sondern ihn sah. Unter diesen Umständen aber – „Kií- chan, tut mir leid, aber heute geht's nicht. Vielleicht liegt es an dem scheußlichen Schlafanzug, den du trägst." Mit einem nachlässigen Gähnen richtete er sich auf und ließ das völlig perplexe Mädchen auf dem Futón zurück. „Ja, aber – du hast doch angef – " Ihre Augen weiteten sich vor ungläubigem Entsetzen. „Du kannst doch jetzt nicht einfach – " Er schüttelte seinen Kopf und rollte mit den Augen. „Stell dich nicht so an. Nächstes Mal könntest du ja was Hübscheres anziehen, und abgesehen davon bin ich ziemlich müde. Du hast mir einmal in die Lippe gebissen, und du weißt ganz genau, dass sie noch immer weh tut." Während er sich in sein eigenes Zimmer begab, in dem Watarí mit dem Kopf in den Armen vergraben lag und ihn nach bestem Können ignorierte, setzte sich Kiíchigo in dem zerwühlten Futón auf und begann sowohl betreten als auch verzweifelt zu weinen.
