7. Lily
Glücklicherweise hatte Lily Lucius den ganzen Abend nicht mehr gesehen und glaubte beinahe schon, sie hätte nur ein wenig zu lebhaft geträumt.
Leider wurde sie am nächsten Morgen beim Frühstück eines Besseren belehrt. Der Tisch war draußen gedeckt worden – Lily konnte es kaum fassen als Dobby ihr das berichtete – und Lucius saß Petunia und Rufus gegenüber. Mit einem schleimigen Lächeln wies Lucius auf den Platz neben ihm und Lily zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, als sie darauf niederließ.
„Guten Morgen", grüßte sie in die Runde. Rufus schwieg beharrlich seinen Schinken an, Petunia erwiderte ein dünnes „Guten Morgen"und Lily bereute es bereits überhaupt etwas gesagt zu haben, denn Lucius drehte sich zu ihr und schien sich länger mit ihr unterhalten zu wollen.
„Na, hast du gut geschlafen?", fragte er, und Lily fragte sich, warum sich keine Ölpfütze um seinen Stuhl bildete.
„Danke, ja", sagte Lily einsilbig und griff nach dem Brotkorb. Doch Lucius gab nicht auf.
„Und, was hast du heute so vor?"Was geht dich das an?, hätte ihn Lily fast angefaucht, aber behielt sich dann doch unter Kontrolle. Ein stechender Blick von Rufus traf sie und Lily wurde sich dem dünnen Drahtseil auf dem sie sich bewegte bewusst. Sie war wohl gezwungen höflich zu Lucius zu sein, was aber lange noch nicht ‚nett' bedeuten musste und würde.
„Wahrscheinlich werde ich heute mit meiner Schwester wieder einige Briefe beantworten und dann vielleicht wieder mit Ryan ausreiten..."Im gleichen Moment als sie den Satz beendet hatte, merkte sie, dass sie es nicht hätte tun sollen. In Lucius' Augen blitzte es auf und er fragte sie betont gleichgültig:
„Ryan? Das ist doch der Knecht, oder?"Lily nickte stumm, und ahnte was jetzt kommen würde.
„Ich habe eine bessere Idee: ich werde dich begleiten. Du kannst ihn doch nicht von der Arbeit abhalten, oder?"Lily schwieg. „Rufus, was meinst du dazu?", erhob Lucius nun ein wenig die Stimme und richtete die Frage an seinen Bruder. Lily machte sich Vorwürfe, dass sie Lucius von ihrem Vorhaben berichtet hatte, denn wie zu erwarten gab Rufus Lucius mit einer knappen, jedoch viel freundlicheren Antwort als er Lily geantwortet hätte, Recht. Mit einem breiten Lächeln verkündete Lucius Lily, dass er sie um zwölf Uhr abholen würde.
Niedergeschlagen nickte sie.
Doch während sie wieder mit Petunia in der Herbstsonne saß, bemühte sie sich, nicht das Schlimmste zu erwarten. Vielleicht wurde es ja doch ganz nett- zumindest würde sie wieder mit Lhia galoppieren können. Und: allzu lange würden sie ohnehin nicht ausreiten können, denn um halb zwei gab es schon wieder Mittagessen.
Um viertel vor zwölf, verließ Lily Petunia und zog sich in ihrem Zimmer die alten Reitsachen von ihrer Schwester an.
Ein wenig zu spät fiel ihr der tiefe Ausschnitt ihres Poloshirts auf, nämlich als sie Lucius erreichte, und er ihr bei der Begrüßung nicht in die Augen sah. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Ihr Laune sank erheblich, als sie neben ihm den Weg hinunter Richtung Ställe lief. Doch sie beruhigte sich schnell wieder, denn Lucius hatte Lhia bereits gesattelt an eine Pappel gebunden. Die letzten Schritte zu ihr lief Lily schneller und begrüßte Lhia stürmisch, froh von Lucius' Seite wegzukommen. Lucius schwang sich auf einen großen Braunen, den Lily noch nicht kannte, und ihr wurde sofort klar, das Lucius wirklich reiten konnte.
Kurz darauf trabten sie über den gleichen Waldweg wie schon am Tag zuvor mit Ryan. Lily freute sich an dem schönen Wetter und vergaß beinahe seine Anwesenheit. Ihre Gedanken schweiften Richtung James und sie lächelte wieder einmal ohne es zu merken.
Doch sie kamen nicht an die Blumenwiese, denn Lucius schlug einen anderen Pfad ein, der ein wenig bergauf führte. Die Pferde trotteten nun nebeneinander her und Lily war nun leider gezwungen sich mit Lucius zu unterhalten. Doch er schwieg und sie war dankbar dafür. Zwischendurch warf sie immer wieder einen Blick auf ihre Armbanduhr, denn die Sonne stieg höher und höher, ohne dass Lucius Anstalten machte umzukehren. Lily wollte ihn gerade danach fragen, als er an einem hübschen Platz sein Pferd zügelte. Die Bäume hatten sich gelichtet und sie erkannte wie weit oben sie schon waren. Man hatte einen wunderbaren Ausblick auf das umliegende Land und das Herrenhaus. Ein kleiner Bach rieselte von einer grauen Felswand hinunter und gurgelte in einem schmalen Rinnsal den Hügel hinunter. Sie zog sanft an Lhias Zügeln, und sah zu wie Lucius abstieg.
„Wird es nicht langsam Zeit umzukehren?", fragte sie ihn unsicher. Doch Lucius reagierte nicht, sondern zog seinen Zauberstab hervor. Ein Schlenker, ein paar gemurmelte Worte- und ein wunderbares Picknick erschien.
„Ich dachte, so wäre es doch gemütlicher", erwiderte er und sah Lily beinahe frech an. Na toll. Jetzt musste sie auch noch mit diesem Ekel alleine essen. Genervt ließ sich Lily von Lhias Rücken herabrutschen und führte sie zu dem Braunen hinüber, der schon auf einem Stück Wiese bedächtig graste.
Langsam schritt sie dann zu Lucius hinüber, der es sich schon auf dem dunkelgrünen Tuch gemütlich gemacht hatte. Er lag auf dem Bauch und hatte seine langen Beine im Gras ausgestreckt. Lily setzt sich ihm gegenüber, betont gerade, um den für diese Situation unvorteilhaften Schnitt ihres Shirts wieder auszugleichen.
Jetzt, als sie alleine mit Lucius war, wurde ihr doch ein wenig unheimlich. Sie hatte zwar nicht viel von seinen Fähigkeiten mit dem Zauberstab gesehen, aber der Qualität des Picknicks nach zu urteilen, konnte er wohl einiges damit fertig bringen, und ob das alles nur gut war, blieb abzuwarten.
Im Moment jedenfalls, begann es Lily dort zu gefallen. Das Picknick war großartig und sie hatte es geschafft, Lucius' Anwesenheit fast vollständig auszublenden. Still blickte sie hinab auf den Wald und folgte mit den Augen dem Lauf des Baches. Sie sah nach einer Weile auch ‚ihre' Blumenwiese und nahm sich fest vor, sie heute noch zu besuchen. Verträumt wanderten ihre Gedanken wieder einmal zu James, und als sie sich sein Gesicht in allen Einzelheiten in Erinnerung rief, entwich ihren Lippen ein schwacher Seufzer. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Lucius den Kopf hob.
Sie wandte sich um. Zum ersten Mal auf diesem Ausflug sah Lucius Lily direkt in die Augen anstatt in ihr Dekolleté. Unsicher lächelte Lily ihn kurz an und richtete dann den Blick wieder auf die wunderschöne Landschaft. Lucius räusperte sich. Sie schaute wieder in seine Richtung, und erschrak ein wenig- er saß direkt neben ihr.
„Gefällt es dir hier?"
„Ja, schon", erwiderte sie und rückt ein wenig ab von ihm.
„Mir gefällt es hier auch"Schön für ihn, aber was ging es sie an? „Aber du gefällst mir noch mehr..."
Er rückte wiederum ein wenig näher und berührte ihren Arm. Seine langen Finger waren kühl, obwohl die Herbstsonne immer noch warm vom Himmel schien. Jetzt reichte es. Lily zog ihren Arm mit einem Ruck zur Seite und stand auf.
„Mir wird langsam kalt"– sie musste nicht einmal lügen, denn in Lucius' Gegenwart fühlte sie sich wirklich nicht mehr geheuer und fröstelte ein wenig. Außerdem sank die Sonne schon wieder und ihr Heimweg war auch nicht gerade kurz.
Lily lief mit festen Schritten zu Lhia hinüber und drehte sich noch einmal schnell zu Lucius um. Enttäuscht sah er ihr hinterher. Sie streichelte Lhia sanft die Nase. Lhia war doch das einzige Geschöpf hier, in dessen Gegenwart sie sich wirklich wohl fühlte. Petunia war auch nicht mehr dieselbe Person und von dem unglaublich festen Draht zwischen den Schwestern war auch nichts mehr zu spüren.
Sie saß auf. Ein leises ‚Plopp' verriet ihr, dass die Reste des Picknicks verschwunden waren.
Bald darauf ritten sie den Hügel wieder hinunter. Unten auf dem Waldweg angekommen, hatte Lily überhaupt keine Lust mehr noch zu der Blumenwiese zu reiten. Mit Lucius dabei würde es nicht annähernd so schön werden wie gestern.
Lucius sagte kein Wort mehr zu Lily, und ihr war es sehr recht.
Gegen fünf Uhr erreichten die beiden das Anwesen.
Er stellte seinen Braunen nur vor den Stall, rief laut nach Ryan und verschwand gleich darauf im Haus. Lily nahm sich Zeit für Lhias Pflege und unterhielt sich dabei noch nett mit Ryan.
Als sie nach dem Abendessen ihr kleines Turmzimmer betrat, machte ihr Herz einen Satz.
Auf dem Fensterbrett in der Abendsonne saß eine graue Eule! Post!
Post von James?
Begierig stürzte sie hinüber und erschreckte somit die Eule ziemlich, die schon wegfliegen wollte. Lily beruhigte sie und nahm den ordentlich gefalteten Brief. Obwohl sie James Handschrift noch nie zuvor gesehen hatte, wusste sie sofort, dass er von ihm war, als sie ihn in der Hand hielt.
Schnell riss sie ihn auf, und fand freudestrahlend wirklich seine Unterschrift unter dem – zugegeben etwas kurzen – Brief. Sie lief zu ihrem Bett und warf sich darauf, las den Brief. Und noch mal. Und noch mal. Nach dem dritten Mal, sprang sie auf, stürzte hinüber zu ihrer Tasche und holte ebenfalls Pergament und Tinte hervor.
Die graue Eule schuhute leise. Nachdem Lily ihr ein paar Häppchen vom Abendessen heraufgeholt hatte, legte sie wieder auf ihr Bett und schraubte vorsichtig das Tintenfass auf.
Lieber James!
Vielen, vielen Dank für deinen Brief! Ich habe mich sehr gefreut! Nach meinem zweiten Tag hier in Dragon's Empire geht es mir immer noch gut. Zwar sind alle freundlich zu mir (außer dem Hausherrn Rufus Malfoy, der gar nicht mehr mit mir spricht) aber trotzdem vermisse ich euch alle, und ganz besonders dich!
Das ist ja super von Dumbledore, dass er dir so etwas ermöglicht hat! Du musst mir genau schreiben wie es so ist!
Ich weiß nicht genau wie lange ich noch hier bleibe, aber ich denke ein paar Tage schon noch, höchstens noch eine Woche. Wie lange wirst du noch in London bleiben?
Ich freue mich schon, wenn wir uns wiedersehen!
Bitte schreib so schnell es geht zurück!
Alles Liebe,
Deine Lily
Von Lucius hatte sie absichtlich nichts geschrieben, James sollte auf keinen Fall auf falsche Gedanken kommen.
Als die Eule mit dem Brief weg war, holte Lily ihr ‚Tagebuch' hervor. Sie war im Zug gar nicht mehr dazu gekommen, ein schönes Foto von James hervorzukramen.
Sie schlug es auf.
Eine kleine, zehnjährige Lily Evans war auf dem ersten, sich bewegendem Foto zu sehen, die furchtbar aufgeregt auf Gleis 9 ¾ stand, und von einem Bein aufs andere trat. Sie blätterte weiter. Der Gemeinschaftsraum der Gryffindors war zu sehen. Das musste in ihren ersten Tagen in Hogwarts gewesen sein, denn sie erkannte im Hintergrund, dass nur James und Sirius zusammen saßen, Remus und Peter jedoch alleine jeweils in einer anderen Ecke saßen. Wie jung sie damals noch alle waren!
Lächelnd fuhr Lily mit dem Finger über den schelmisch grinsenden James, der damals schon genauso abstehende Haare hatte wie auch heute. Wie klein er im Gegensatz zu Sirius noch war! Er hatte kaum Schultern, wieder ganz im Gegensatz zu Sirius. Der sah nämlich von der Statur schon fast genauso aus wie heute, nur wachsen musste er noch ein wenig.
Auf dem nächsten Foto, welches Lily von James fand, mussten sie in der fünften Klasse gewesen sein. Oh, was hatte sie ihn gehasst!
Doch in diesem Jahr hatte Gryffindor den Quidditch-Cup gewonnen, und das Foto stammte von der rauschenden Siegesfeier. Natürlich war James der Held des Tages gewesen, er hatte dem Sucher von Slytherin in letzter Sekunde den Schnatz unter der Nase weggefischt, und Sue oder Kathryn wollten ihn unbedingt fotografieren.
Eigentlich fragte Lily sich, warum sie dieses Foto eigentlich eingeklebt hatte, aber sie war sehr froh darüber. Sie konnte sich, wie immer, noch genau an die Situation erinnern.
James stand mitten im Gemeinschaftsraum, umringt von Mitschülern. In der einen Hand hatte er ein Butterbier und in der anderen Hand hielt er immer noch den goldenen Schnatz. Sirius stand freudestrahlend neben ihm und sie unterhielten sich gerade, wohl über das Spiel. Der ‚Foto-James' lachte.
Und in diesem Moment wusste Lily, warum sie das Foto eingeklebt hatte. Sie hatte es geschafft, eine Seite von James Potter abzulichten, die sie nicht kannte. Ein fröhlicher, lachender und netter James.
Eine Seite, die sich damals noch nicht kannte.
Glücklicherweise hatte Lily Lucius den ganzen Abend nicht mehr gesehen und glaubte beinahe schon, sie hätte nur ein wenig zu lebhaft geträumt.
Leider wurde sie am nächsten Morgen beim Frühstück eines Besseren belehrt. Der Tisch war draußen gedeckt worden – Lily konnte es kaum fassen als Dobby ihr das berichtete – und Lucius saß Petunia und Rufus gegenüber. Mit einem schleimigen Lächeln wies Lucius auf den Platz neben ihm und Lily zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, als sie darauf niederließ.
„Guten Morgen", grüßte sie in die Runde. Rufus schwieg beharrlich seinen Schinken an, Petunia erwiderte ein dünnes „Guten Morgen"und Lily bereute es bereits überhaupt etwas gesagt zu haben, denn Lucius drehte sich zu ihr und schien sich länger mit ihr unterhalten zu wollen.
„Na, hast du gut geschlafen?", fragte er, und Lily fragte sich, warum sich keine Ölpfütze um seinen Stuhl bildete.
„Danke, ja", sagte Lily einsilbig und griff nach dem Brotkorb. Doch Lucius gab nicht auf.
„Und, was hast du heute so vor?"Was geht dich das an?, hätte ihn Lily fast angefaucht, aber behielt sich dann doch unter Kontrolle. Ein stechender Blick von Rufus traf sie und Lily wurde sich dem dünnen Drahtseil auf dem sie sich bewegte bewusst. Sie war wohl gezwungen höflich zu Lucius zu sein, was aber lange noch nicht ‚nett' bedeuten musste und würde.
„Wahrscheinlich werde ich heute mit meiner Schwester wieder einige Briefe beantworten und dann vielleicht wieder mit Ryan ausreiten..."Im gleichen Moment als sie den Satz beendet hatte, merkte sie, dass sie es nicht hätte tun sollen. In Lucius' Augen blitzte es auf und er fragte sie betont gleichgültig:
„Ryan? Das ist doch der Knecht, oder?"Lily nickte stumm, und ahnte was jetzt kommen würde.
„Ich habe eine bessere Idee: ich werde dich begleiten. Du kannst ihn doch nicht von der Arbeit abhalten, oder?"Lily schwieg. „Rufus, was meinst du dazu?", erhob Lucius nun ein wenig die Stimme und richtete die Frage an seinen Bruder. Lily machte sich Vorwürfe, dass sie Lucius von ihrem Vorhaben berichtet hatte, denn wie zu erwarten gab Rufus Lucius mit einer knappen, jedoch viel freundlicheren Antwort als er Lily geantwortet hätte, Recht. Mit einem breiten Lächeln verkündete Lucius Lily, dass er sie um zwölf Uhr abholen würde.
Niedergeschlagen nickte sie.
Doch während sie wieder mit Petunia in der Herbstsonne saß, bemühte sie sich, nicht das Schlimmste zu erwarten. Vielleicht wurde es ja doch ganz nett- zumindest würde sie wieder mit Lhia galoppieren können. Und: allzu lange würden sie ohnehin nicht ausreiten können, denn um halb zwei gab es schon wieder Mittagessen.
Um viertel vor zwölf, verließ Lily Petunia und zog sich in ihrem Zimmer die alten Reitsachen von ihrer Schwester an.
Ein wenig zu spät fiel ihr der tiefe Ausschnitt ihres Poloshirts auf, nämlich als sie Lucius erreichte, und er ihr bei der Begrüßung nicht in die Augen sah. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Ihr Laune sank erheblich, als sie neben ihm den Weg hinunter Richtung Ställe lief. Doch sie beruhigte sich schnell wieder, denn Lucius hatte Lhia bereits gesattelt an eine Pappel gebunden. Die letzten Schritte zu ihr lief Lily schneller und begrüßte Lhia stürmisch, froh von Lucius' Seite wegzukommen. Lucius schwang sich auf einen großen Braunen, den Lily noch nicht kannte, und ihr wurde sofort klar, das Lucius wirklich reiten konnte.
Kurz darauf trabten sie über den gleichen Waldweg wie schon am Tag zuvor mit Ryan. Lily freute sich an dem schönen Wetter und vergaß beinahe seine Anwesenheit. Ihre Gedanken schweiften Richtung James und sie lächelte wieder einmal ohne es zu merken.
Doch sie kamen nicht an die Blumenwiese, denn Lucius schlug einen anderen Pfad ein, der ein wenig bergauf führte. Die Pferde trotteten nun nebeneinander her und Lily war nun leider gezwungen sich mit Lucius zu unterhalten. Doch er schwieg und sie war dankbar dafür. Zwischendurch warf sie immer wieder einen Blick auf ihre Armbanduhr, denn die Sonne stieg höher und höher, ohne dass Lucius Anstalten machte umzukehren. Lily wollte ihn gerade danach fragen, als er an einem hübschen Platz sein Pferd zügelte. Die Bäume hatten sich gelichtet und sie erkannte wie weit oben sie schon waren. Man hatte einen wunderbaren Ausblick auf das umliegende Land und das Herrenhaus. Ein kleiner Bach rieselte von einer grauen Felswand hinunter und gurgelte in einem schmalen Rinnsal den Hügel hinunter. Sie zog sanft an Lhias Zügeln, und sah zu wie Lucius abstieg.
„Wird es nicht langsam Zeit umzukehren?", fragte sie ihn unsicher. Doch Lucius reagierte nicht, sondern zog seinen Zauberstab hervor. Ein Schlenker, ein paar gemurmelte Worte- und ein wunderbares Picknick erschien.
„Ich dachte, so wäre es doch gemütlicher", erwiderte er und sah Lily beinahe frech an. Na toll. Jetzt musste sie auch noch mit diesem Ekel alleine essen. Genervt ließ sich Lily von Lhias Rücken herabrutschen und führte sie zu dem Braunen hinüber, der schon auf einem Stück Wiese bedächtig graste.
Langsam schritt sie dann zu Lucius hinüber, der es sich schon auf dem dunkelgrünen Tuch gemütlich gemacht hatte. Er lag auf dem Bauch und hatte seine langen Beine im Gras ausgestreckt. Lily setzt sich ihm gegenüber, betont gerade, um den für diese Situation unvorteilhaften Schnitt ihres Shirts wieder auszugleichen.
Jetzt, als sie alleine mit Lucius war, wurde ihr doch ein wenig unheimlich. Sie hatte zwar nicht viel von seinen Fähigkeiten mit dem Zauberstab gesehen, aber der Qualität des Picknicks nach zu urteilen, konnte er wohl einiges damit fertig bringen, und ob das alles nur gut war, blieb abzuwarten.
Im Moment jedenfalls, begann es Lily dort zu gefallen. Das Picknick war großartig und sie hatte es geschafft, Lucius' Anwesenheit fast vollständig auszublenden. Still blickte sie hinab auf den Wald und folgte mit den Augen dem Lauf des Baches. Sie sah nach einer Weile auch ‚ihre' Blumenwiese und nahm sich fest vor, sie heute noch zu besuchen. Verträumt wanderten ihre Gedanken wieder einmal zu James, und als sie sich sein Gesicht in allen Einzelheiten in Erinnerung rief, entwich ihren Lippen ein schwacher Seufzer. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Lucius den Kopf hob.
Sie wandte sich um. Zum ersten Mal auf diesem Ausflug sah Lucius Lily direkt in die Augen anstatt in ihr Dekolleté. Unsicher lächelte Lily ihn kurz an und richtete dann den Blick wieder auf die wunderschöne Landschaft. Lucius räusperte sich. Sie schaute wieder in seine Richtung, und erschrak ein wenig- er saß direkt neben ihr.
„Gefällt es dir hier?"
„Ja, schon", erwiderte sie und rückt ein wenig ab von ihm.
„Mir gefällt es hier auch"Schön für ihn, aber was ging es sie an? „Aber du gefällst mir noch mehr..."
Er rückte wiederum ein wenig näher und berührte ihren Arm. Seine langen Finger waren kühl, obwohl die Herbstsonne immer noch warm vom Himmel schien. Jetzt reichte es. Lily zog ihren Arm mit einem Ruck zur Seite und stand auf.
„Mir wird langsam kalt"– sie musste nicht einmal lügen, denn in Lucius' Gegenwart fühlte sie sich wirklich nicht mehr geheuer und fröstelte ein wenig. Außerdem sank die Sonne schon wieder und ihr Heimweg war auch nicht gerade kurz.
Lily lief mit festen Schritten zu Lhia hinüber und drehte sich noch einmal schnell zu Lucius um. Enttäuscht sah er ihr hinterher. Sie streichelte Lhia sanft die Nase. Lhia war doch das einzige Geschöpf hier, in dessen Gegenwart sie sich wirklich wohl fühlte. Petunia war auch nicht mehr dieselbe Person und von dem unglaublich festen Draht zwischen den Schwestern war auch nichts mehr zu spüren.
Sie saß auf. Ein leises ‚Plopp' verriet ihr, dass die Reste des Picknicks verschwunden waren.
Bald darauf ritten sie den Hügel wieder hinunter. Unten auf dem Waldweg angekommen, hatte Lily überhaupt keine Lust mehr noch zu der Blumenwiese zu reiten. Mit Lucius dabei würde es nicht annähernd so schön werden wie gestern.
Lucius sagte kein Wort mehr zu Lily, und ihr war es sehr recht.
Gegen fünf Uhr erreichten die beiden das Anwesen.
Er stellte seinen Braunen nur vor den Stall, rief laut nach Ryan und verschwand gleich darauf im Haus. Lily nahm sich Zeit für Lhias Pflege und unterhielt sich dabei noch nett mit Ryan.
Als sie nach dem Abendessen ihr kleines Turmzimmer betrat, machte ihr Herz einen Satz.
Auf dem Fensterbrett in der Abendsonne saß eine graue Eule! Post!
Post von James?
Begierig stürzte sie hinüber und erschreckte somit die Eule ziemlich, die schon wegfliegen wollte. Lily beruhigte sie und nahm den ordentlich gefalteten Brief. Obwohl sie James Handschrift noch nie zuvor gesehen hatte, wusste sie sofort, dass er von ihm war, als sie ihn in der Hand hielt.
Schnell riss sie ihn auf, und fand freudestrahlend wirklich seine Unterschrift unter dem – zugegeben etwas kurzen – Brief. Sie lief zu ihrem Bett und warf sich darauf, las den Brief. Und noch mal. Und noch mal. Nach dem dritten Mal, sprang sie auf, stürzte hinüber zu ihrer Tasche und holte ebenfalls Pergament und Tinte hervor.
Die graue Eule schuhute leise. Nachdem Lily ihr ein paar Häppchen vom Abendessen heraufgeholt hatte, legte sie wieder auf ihr Bett und schraubte vorsichtig das Tintenfass auf.
Lieber James!
Vielen, vielen Dank für deinen Brief! Ich habe mich sehr gefreut! Nach meinem zweiten Tag hier in Dragon's Empire geht es mir immer noch gut. Zwar sind alle freundlich zu mir (außer dem Hausherrn Rufus Malfoy, der gar nicht mehr mit mir spricht) aber trotzdem vermisse ich euch alle, und ganz besonders dich!
Das ist ja super von Dumbledore, dass er dir so etwas ermöglicht hat! Du musst mir genau schreiben wie es so ist!
Ich weiß nicht genau wie lange ich noch hier bleibe, aber ich denke ein paar Tage schon noch, höchstens noch eine Woche. Wie lange wirst du noch in London bleiben?
Ich freue mich schon, wenn wir uns wiedersehen!
Bitte schreib so schnell es geht zurück!
Alles Liebe,
Deine Lily
Von Lucius hatte sie absichtlich nichts geschrieben, James sollte auf keinen Fall auf falsche Gedanken kommen.
Als die Eule mit dem Brief weg war, holte Lily ihr ‚Tagebuch' hervor. Sie war im Zug gar nicht mehr dazu gekommen, ein schönes Foto von James hervorzukramen.
Sie schlug es auf.
Eine kleine, zehnjährige Lily Evans war auf dem ersten, sich bewegendem Foto zu sehen, die furchtbar aufgeregt auf Gleis 9 ¾ stand, und von einem Bein aufs andere trat. Sie blätterte weiter. Der Gemeinschaftsraum der Gryffindors war zu sehen. Das musste in ihren ersten Tagen in Hogwarts gewesen sein, denn sie erkannte im Hintergrund, dass nur James und Sirius zusammen saßen, Remus und Peter jedoch alleine jeweils in einer anderen Ecke saßen. Wie jung sie damals noch alle waren!
Lächelnd fuhr Lily mit dem Finger über den schelmisch grinsenden James, der damals schon genauso abstehende Haare hatte wie auch heute. Wie klein er im Gegensatz zu Sirius noch war! Er hatte kaum Schultern, wieder ganz im Gegensatz zu Sirius. Der sah nämlich von der Statur schon fast genauso aus wie heute, nur wachsen musste er noch ein wenig.
Auf dem nächsten Foto, welches Lily von James fand, mussten sie in der fünften Klasse gewesen sein. Oh, was hatte sie ihn gehasst!
Doch in diesem Jahr hatte Gryffindor den Quidditch-Cup gewonnen, und das Foto stammte von der rauschenden Siegesfeier. Natürlich war James der Held des Tages gewesen, er hatte dem Sucher von Slytherin in letzter Sekunde den Schnatz unter der Nase weggefischt, und Sue oder Kathryn wollten ihn unbedingt fotografieren.
Eigentlich fragte Lily sich, warum sie dieses Foto eigentlich eingeklebt hatte, aber sie war sehr froh darüber. Sie konnte sich, wie immer, noch genau an die Situation erinnern.
James stand mitten im Gemeinschaftsraum, umringt von Mitschülern. In der einen Hand hatte er ein Butterbier und in der anderen Hand hielt er immer noch den goldenen Schnatz. Sirius stand freudestrahlend neben ihm und sie unterhielten sich gerade, wohl über das Spiel. Der ‚Foto-James' lachte.
Und in diesem Moment wusste Lily, warum sie das Foto eingeklebt hatte. Sie hatte es geschafft, eine Seite von James Potter abzulichten, die sie nicht kannte. Ein fröhlicher, lachender und netter James.
Eine Seite, die sich damals noch nicht kannte.
