27. Kapitel

Verbotenes Genie

Shíkū Aói verbrachte jetzt bereits seinen zweiten Tag in dieser Zelle. Ein etwas weniger fröhliches Temperament hätte es sicher mit „schmachten" umschrieben, aber Aói konnte selbst noch Wasser und Brot etwas Gutes abgewinnen. Die Wächter wunderten sich immer mehr und probierten zu guter Letzt selbst seine Rationen, um zu sehen, wie es schmeckte.

„Bäh." „Ekelhaft." „Unausstehlich." In dem Urteil waren sich alle einig; und dennoch kaute der blauhaarige Junge begeistert an den trockenen Brotfladen. „Oh, sie sind gut! Ich mag es nämlich, wenn das Brot eine ordentliche Kruste hat, und – " Nach einigen Stunden war es keinem mehr möglich, seinem Geplapper zu lauschen. Abgesehen davon bestand das Brot nur aus Kruste ohne Mittelteil. Und das schale Wasser züchtete bereits so etwas wie ein Biotop.

„Oh, Major Sākuru – wir sind ja so erfreut, Euch zu sehen." Einer der Wächter näherte sich dem kühlen Mann, der einen Gegenstand in der Hand trug, das sich bei näherem Hinsehen als ein Gewehr entpuppte. „Dieser Junge – ich glaube, es macht ihm nicht viel aus, eingesperrt zu sein. Er plappert vor sich hin wie ein – " „Schön, danke für diesen – hmm, Bericht. Ich habe etwas mit Shíkū zu besprechen – ihr geht nach draußen und kommt nicht vor ein, zwei Stunden wieder, habe ich mich klar ausgedrückt?" Seine eisigen Augen funkelten gefährlich. Niemand würde es wagen, sich diesem Blick zu widersetzen –

Aói blickte beunruhigt auf, als sich die Tür seiner Zelle plötzlich öffnete und der Major eintrat. Obwohl er nicht wusste, wer der Mann eigentlich war, benahm er sich äußerst vorsichtig. Man konnte ja nie wissen –  „Shíkū Aói, der Abtrünnige, der sich verbotenerweise mit Technik befasst – das ist Hochverrat, weißt du das?" Sākuru lächelte schmal und wirkte dadurch wie eine Schlange, die sich gleich auf eine wehrlose Ratte stürzen würde. Aói schluckte krampfhaft und nickte eilig. „Ja, ja, natürlich, ich werde es auch nie wieder tun – nie, nie wieder – ich schwöre – " „Wer würde dem Schwur eines Verräters glauben? Das wäre doch nur verlorene Zeit." Sākuru lächelte wieder auf seine beunruhigende Art und Weise; sein Gegenüber fühlte sich in die Enge gedrängt. „Aber Herr – " „Es gibt nur eine einzige Möglichkeit für dich, deinem Schicksal – Folter und späterer Hinrichtung – zu entgehen." Er räusperte sich kurz. „Du wirst mir Waffen wie diese bauen – sie stammt von den Fremden, nicht wahr? Sie werden bereits im ganzen Königreich gesucht und können uns nicht entkommen. Aber dennoch wirst du mir erzählen, mit wem sie geflohen sind – später. Zuerst baust du mir Waffen – " „Aber Herr! Das kann ich doch nicht so schnell! Ich müsste forschen und probieren, und – " „Das kannst du ja, Shíkū. Ich gebe dir sogar ganze drei Tage Zeit." Der General verabschiedete sich höhnisch lächelnd. „Sie müssen ja nicht genauso aussehen – ich will nur, dass sie funktionieren. Ich stelle dir außerdem Leutnant Makhíi zur Seite – er wird dir alles Nötige besorgen, Eisen, Bambus oder was auch immer. Wenn du es nicht schaffst, lasse ich dich foltern und werfe deinen Leichnam den Sauriern vor." „Aber – " Sākuru ging, ohne noch auf irgendwelche Einwände zu achten. Aói vergrub das Gesicht in seine Hände und begann verzweifelt zu schluchzen, während ihn der junge Leutnant mitleidig von draußen beobachtete. Helfen konnte er ihm nicht –  Befehl war nun mal Befehl –

„He, Tókui – sag' mal, du kennst doch Káshira schon länger, oder?" fragte Kiíchigo schüchtern, als sie nach der turbulenten Nacht an Deck standen und sich den Wind um die Nase wehen ließen. Es war noch sehr früh, und außer ihnen beiden war nur noch Okami auf den Beinen, der weit entfernt über der Reling lehnte und den Fischen zusah. Sie konnten also offen reden. Tókui kräuselte ihre Nase und starrte in den azurblauen Himmel. „Klar kenne ich ihn schon lange. Seit unserem ersten Schultag, um genau zu sein. Damals haben wir nach der Schule immer zusammen Fußball gespielt, mit Jarí und Shíshi. Warum fragst du?"

„Na ja, er hatte ja schon viele Freundinnen, nicht wahr? Wie war – also, wie hat er sich denen gegenüber denn so verhalten?" stammelte Kiíchigo verlegen und verhaspelte sich, was sie mit einem Hüsteln überdecken wollte. Tókui grinste sie wissend an. „So, so, warum willst du das denn wissen? Hat Herr Casanova schon einige Andeutungen gemacht? Oder – wie weit seid ihr zwei denn eigentlich schon?" „Ach – es ist nichts – ich will es nur mal wissen – "

„Tja." Das rothaarige Mädchen wurde schlagartig ernst und schüttelte ihre Mähne, die sie zur Abwechslung einmal offen trug. „Also, gut behandelt er sie ja nicht gerade – ich denke da bloß an die arme Kokemómo. Sie war ja soo verliebt – aber er hat ihr das Herz gebrochen, soweit ich weiß. Eigentlich benutzt er Frauen bloß als Bettwärmer oder Matratze – ähm, Entschuldigung", fügte sie etwas verlegen hinzu. „Aber das ist nun mal so – da kann man nichts machen. Frauen dagegen, die er respektiert, also, mit denen würde er wohl nie etwas anfangen. Das ist so seine Eigenart – kein schöner Charakterzug, leider, muss ich da sagen."

„Hmm", murmelte Kiíchigo in Gedanken versunken und schüttelte an die Erinnerung an die vergangene Nacht unwillig den Kopf. Verdammt. Für einen Windhund hatte sie ihren Verlobten sausen lassen – immerhin konnte man Hotáru nicht nachsagen, er hätte zu viele Freundinnen. „Eher Freunde", fügte sie im Gedanken hinzu. „Aber das ist schon okay, solche Sachen gewöhne ich ihm eben wieder ab."

Bald darauf erschienen auch die restlichen Pfadfinder an Deck und streckten sich ausgiebig. Die beiden Streithähne bemühten sich, einander so wenig wie nur möglich zu beachten, was ihnen auch so einigermaßen gut gelang. Schließlich würden sie noch eine Nacht in der selben Kajüte verbringen müssen.

„HEY, MANNSCHAFT! Frühstück!" erscholl wieder einmal Tsumé's ärgerliche Stimme, während er auf eine Triangel schlug. Die Kinder staunten stumm; so was hatten sie ja noch nie gesehen, außerdem passte eine Triangel nicht zu dem alten Griesgram. Eher hätten sie ihm zwei gegeneinandergeschlagene Blechdeckel zugetraut.

Müde krochen Inázuma und Dāorèn nebeneinander die Treppe hinauf, warfen sich gegenseitig einen ärgerlichen Blick zu und wandten sich dann wieder voneinander ab. Gemeinsam mit den Pfadfindern machten sie sich auf den Weg zur Schiffsmesse, in der ein langer Tisch bereits gedeckt war. Huǒshān wieselte eifrig hin und her um auch noch die letzten Schüsseln an ihren Platz zu stellen und die Platten mit Essen aufzutragen.

Es gab sogar eine ziemlich große Auswahl – Dòujiāng, Hébāodàn, Shāobǐng, Yóutiáo, Daal und Misoshíru. Die Sojamilch wurde zuerst ziemlich schräg beäugt, dann aber doch noch getrunken – schmeckte gar nicht so schlecht wie befürchtet. Während die Kinder damit beschäftigt waren, so viel wie möglich in sich hineinzuschaufeln, erschien eine ziemlich müde aussehende Lady Hǎi und setze sich so unauffällig wie möglich an den Tisch. Ráiu sah sie trotzdem und klopfte ärgerlich mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. „So, spät, aber doch, was? Seltsam – ich könnte schwören, Dāorèn und Inázuma sehen ähnlich scheußlich aus – " „Pah." Ihre Stimme klang belegt, und sie benötigte erst einen ordentlichen Schluck Saké, den ihr Tsumé eilig hinschob, ehe sie richtig antworten konnte. „Was gehen mich die Zwei an – " „Und du säufst schon am frühen Morgen! Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?" „Oh, doch, Meisterin." Langsam kam wieder Leben in Hǎi, und sie grinste anzüglich. „Wie man einen Mann verführt, der um zwanzig Jahre jünger als man selbst ist, und ihm dann auch noch das Herz bricht – " Mit lautem Klappern fiel ein Teller zu Boden, und Tsumé bückte sich zornrot, um das Durcheinander aufzuwischen. „Das sind alte Geschichten! Und du bist ohnehin zu jung, um –  Und Takt kennst du wohl auch nicht – " „Takt interessiert mich auch gar nicht." Müde begann sie zu essen und kaute mühsam an einem Sesambrötchen, bis sie es schließlich ärgerlich auf den Teller zurückwarf. „Ich habe keinen Hunger. Wirklich nicht. Ich glaube, in spätestens einer Woche wird das Wetter schlecht, und zwar so schlecht, dass wir uns langsam Sorgen machen sollten." „Ach, Hǎi." Ráiu betrachtete sie besorgt und schüttelte ihren Kopf. Manchmal konnte eine besondere Gabe unter Umständen auch zu einem Fluch ausarten – obwohl sie ihre Schülerin dafür bewunderte, neidete sie ihr diese Fähigkeiten nicht.

Das ersparte ihr immerhin Unannehmlichkeiten bei drohenden Wetterumschwüngen, die Hǎi zwar exakt voraussagen konnte, aber dennoch – nein, tauschen wollte sie sicher nicht.

„Morgen werden wir gegen Mittag auf Ròushíyú landen und vor Anker gehen. Dann muss ich euch leider alleine lassen, in zwei bis drei Tagen bin ich wieder zurück und hole euch ab, dann geht es weiter nach Uerū. Dort werde ich die Línghún in eine geeignete Bucht manövrieren und die Stürme abwarten." „Also, nach Uerū brauchen wir so um die vier Tage, richtig? Dann müssen wir eine Woche einplanen, bis wir auf die Insel kommen." Sachou wirkte ernst. „Das wird ziemlich knapp." „Wem sagst du das? Aber leider geht es nicht anders. Unsere Lieferungen sind wichtig, und wir können euch dazu nicht mitnehmen, das versteht ihr sicher.", mischte sich Inázuma ein, während er brav an seiner Milch nippte.

„Und Suigín?" warf Kamomé blitzschnell und mit eisenharter Stimme ein. „Ich störe ja nur ungern, aber ihn gibt es auch noch – und wir sollten ihm einmal helfen, nicht wahr?" „Ja, ganz recht. Selbst wenn wir es in einem Stück nach Uerū zu diesem Abtrünnigen schaffen – wer garantiert uns, dass er uns helfen kann? Und wenn, wie sollen wir Hotáru hierher holen? Er ist genauso mit von der Partie wie jeder von uns!" äußerte Watarí kühl und bemühte sich, nicht in Káshira's Richtung zu blicken. Der Streit von gestern Nacht hing ihm noch nach – die Blauschattierungen seines Auges sprachen für sich, ebenso wie der leichte Schnitt auf Káshira's Lippe. „Das Problem können wir doch später lösen, oder? Das Allerwichtigste ist jetzt erst mal, dass wir in Sicherheit sind. Um Hotáru kümmern sich doch sowieso genügend Leute, falls er nicht ohnehin den Löffel abgegeben hat. Dann bräuchten wir ja gar nicht mehr nach ihm zu suchen – " plapperte Kiíchigo munter, brach aber abrupt ab, als sie die zornigen Blicke ihrer Kameraden Kamomé, Watarí und Kitsuné auf sich ruhen sah. „War doch bloß ein Vorschlag – " „Du könntest sie in Zukunft für dich behalten, meinst du nicht auch?" zischte Kamomé wütend und kassierte dafür prompt eine beleidigte Grimasse. „Bäh – Du bist ja wohl die Letzte, die da was zu sagen hat – "

„Hört sofort auf zu streiten. Ich will euch jetzt mal was sagen. Es ist eine Schande, eurem hübschen Freund nicht zu helfen, selbst wenn es ihm schlecht geht, oder besser gesagt, gerade deshalb. Denkt ihr nicht auch, dass es nicht gerade schön für ihn sein dürfte, immer nur fremde Gesichter um sich zu sehen? Talingo mag zwar eine fähige Heilerin sein, aber für Dinge wie Trost eignet sie sich leider gar nicht, und ich denke, gerade das ist es, was er jetzt am dringendsten benötigen dürfte." Hǎi leerte ihren Sakébecher in einem Zug und knallte ihn schwungvoll auf den Tisch. „Wenn ihr ihm schon nicht helfen wollt, dann hole ich ihn eben, sobald die Stürme vorüber sind. Aber ich denke, ihr seid es ihm trotzdem einfach schuldig."

Sekundenlang schwiegen alle nach dieser flammenden Rede, während jeder sein Gewissen erforschte oder wenigstens so tat als ob. Kiíchigo musste an das gestrige Erlebnis mit Káshira denken – vielleicht wäre es nun doch an der Zeit, sich wieder mit ihrem Ex – Verlobten zu versöhnen –

„Okay, wir helfen ihm natürlich, ist doch ganz klar. Pfadfinder lassen keinen Kameraden zurück – das ist unser Motto." Sachou warf einen kurzen Blick zu Manua, um zu sehen, ob seine Antwort die gewünschte Reaktion zeigte. Leider beschäftigte sie sich momentan mit Sénsō, der mit angeekelter Miene ein wenig Daal hinunterwürgte und pausenlos vor sich hin jammerte. „Ich werde seekrank, ihr Bestien – ich bin ein Flugsaurier, und nicht für so ein dämliches Boot geschaffen – " „Kein schlechtes Wort über die Línghún, oder du kannst gleich mal über Bord springen und Salzwasser kosten! Oder Lóng möchte mit dir spielen – " In Lady Hǎi's Gesicht hatten sich rote Flecken gebildet. Das Schiff zu beleidigen war also offenbar ziemlich gefährlich – und Lóng sah richtig boshaft aus seiner Schüssel mit Hébāodàn hervor. Etwas Ei klebte noch an seiner Schnauze, was dem Ganzen hingegen wieder einen ebenso liebenswerten Aspekt verlieh. Sénsō duckte sich vorsichtig und murmelte mit gedämpfter Lautstärke weiterhin in seinen Linsenbrei, allerdings so, dass er von der Lady nicht mehr gehört werden konnte. Selbst er kannte seine Grenzen –  „Also, dann erst mal nach Ròushíyú. Dort gibt es eine tolle Kneipe, die zeige ich euch gleich, dort gibt es auch tolles Essen – "

Offensichtlich hatten sich die Gemüter wieder beruhigt, denn Hǎi lächelte wieder und streichelte ihren Schoßsaurier hingebungsvoll. Sachou atmete erleichtert auf, ebenso wie Manua, die hin und wieder einen ängstlichen Blick auf die Lady warf. Schließlich hatte sie schon so viele Geschichten über sie gehört – was davon wohl stimmte? Man konnte ja nie wissen..."

Nach dem Frühstück verschwand die Mannschaft wieder an Deck, während Tsumé unter ärgerlichem Fluchen zusammen mit Huǒshān und Moko die Töpfe und Pfannen säuberte; Lady Hǎi verschwand in ihr privates Zimmer, zu dem niemand außer ihr Zutritt hatte. Watarí legte sich noch etwas hin, um seinem Auge etwas Ruhe zu gönnen, und die kleineren Kinder wuselten aufgeregt die Treppe nach oben, um wie am vergangenen Tag den Himmel und das unendlich scheinende Meer zu betrachten. Womöglich flog noch einmal so ein schöner Archaeopteryx an Deck –

„Machst du dir Sorgen?" Tókui war zu Káshira getreten, der sich gerade auf den Weg in irgendein verlassenes Zimmer machen wollte. Ertappt drehte er sich um und grinste, um seine Verlegenheit zu verbergen. „Sorgen? Um Wen denn?" „Blöde Frage. Suigín natürlich." Sie tappte ungeduldig mit dem Fuß und schüttelte hektisch ihre offene Mähne. „Ihre Standpauke hat mich richtig betreten gemacht, dich nicht? Sie hat ja recht – aber ehrlich gesagt, ich reiße mich nicht gerade darum, auf den Königshof zu gehen und dort vielleicht diesem General zu begegnen. Soll ja kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse sein – " „Ja, da hast du ganz recht." Seine Augen wurden dunkel und unergründlich. „Aber wir sollten es tun – wir müssen wissen, ob er noch lebt – wie es ihm geht – Wir dürfen nicht vergessen, dass schließlich sein kleiner Bruder auch noch da ist und sich Sorgen macht. Es war verdammt taktlos von Kií – " „Apropos Kiíchigo- chan. Was war denn da gestern los?" unterbrach ihn Tókui mit einem anzüglichen Lächeln. „Heute morgen wollte sie ganz geknickt von mir wissen, wie du deine Freundinnen so im Allgemeinen zu behandeln pflegst – hab' ihr von der armen Kokemómo erzählt. Immerhin – " „Pah, Kokemómo war doch bloß ein kleiner Ausrutscher! Eigentlich wollte ich ja Sasaé eifersüchtig machen, hat ja schlussendlich auch geklappt. Dass sie wie eine Klette an mir kleben bleibt, war doch nie geplant – " „Was Frauen angeht, bist du ein echtes Schwein, Káshi- chan.", stellte Tókui ruhig fest. „Sei bloß froh, dass du dich nie mit mir eingelassen hast, sonst würden dir jetzt ein paar Zähne fehlen – " „Ach was, du weißt doch, dass ich mit dir nie was anfangen würde. Ich meine, wenn wir ehrlich sind, nehme ich mir in guter alter Macho- Tradition immer nur so richtige Zuckerpüppchen, oder? Eine richtige Frau würde mir irgendwann in den Hintern treten und dafür sorgen, dass ich nie wieder aufstehen könnte.", antwortete er aufrichtig und lächelte entwaffnend. Trotz seiner Herzlosigkeit wenn es um solche Dinge ging, wirkte er furchtbar bestechend – Tókui musste unwillkürlich grinsen. „Du wirst dich wohl nie ändern, was? Den Tag möchte ich erleben, an dem du jemanden findest, der dir mehr bedeutet als eine Nacht." „Oh, du bist ungerecht. Mit Uhyō war ich sogar ganze zwei Monate zusammen – stell dir mal vor – " „Uh, Wahnsinn. Das grenzt ja schon beinahe an eine Ehe – " „Ja, nicht? Aber dann wurde sie mir zu langweilig – " warf er eifrig ein und grinste begeistert. Manchmal, so dachte Tókui still bei sich, manchmal benahm er sich einfach wie ein kleines Kind, wenn auch auf eine anziehende Art und Weise.

General Mosar mochte zwar mit Herz und Seele Soldat sein, für Reisen mit Flugsauriern traf das allerdings nicht zu. Er hasste es, auf den schwankenden Rücken dieser Tiere zu steigen, die weniger wogen als er selbst – abgesehen davon flogen sie in einer Höhe, die das Überleben eines Absturzes ziemlich unwahrscheinlich werden ließen. Mit einem Wort, er hatte Angst. Der narbenübersäte Soldat, der die Pterosaurier pflegte, zeigte mit einem Grinsen seine spärliche Zahnreihe. „Keine Sorge! Die sind alle zuverlässig, vor vier Tagen ist damit schon Major Sākuru nach Casava geflogen und hat die Stadt in nur einem Tag erreicht. Unglaublich, nicht wahr? Nachdem man die Bergketten und Täler außer acht lassen kann – in Luftlinie ist alles viel kürzer!"

„Na fein. Dann will ich den Schnellsten.", antwortete Mosar ungeduldig und musterte die Tiere mit einem argwöhnischen Blick. Man konnte ihnen nicht trauen –

„Der hier ist schon oft Richtung Casava geflogen. Aber trotzdem werden sie einmal landen müssen, um das Tier zu wechseln – es ist sonst zuviel für ihn, obwohl er an das Fünffache seines Körpergewichtes tragen kann. Na ja." Der alte Soldat hüstelte, während der General schon in Begriff war, sein Bein über das sattelartige Gebilde auf dem Rücken zu schwingen um aufzusteigen. „Die Rüstung solltet ihr lieber ausziehen und auf einen der anderen schnallen, sonst wird euch der Arme nicht sehr weit bringen können, sondern über den Wäldern abstürzen. In der Luft gibt es kaum Gefahren; ihr könnt also problemlos nur mit einem Dolch bewaffnet reisen." „Hm." Mosar wirkte alles andere als begeistert, als er sich schließlich widerwillig von Brustharnisch und Schienbeinschützern trennte. Auch sein langes Schwert musste in die Hände des Soldaten wandern und wurde auf einem etwas kleineren Pterosaurier befestigt. Dann allerdings konnte es losgehen –

Der Flugsaurier erhob sich nach einem kurzen Anlauf schnell von der Startrampe und schwang sich elegant in die Luft, während Mosar seine Augen zusammenkniff und sich an den Gurten festklammerte. Der Saurier fand nun von selber seinen Weg – dank einer langen und zähen Ausbildung brauchte sich der Reisende um nichts mehr zu kümmern, solange sie erst einmal in den Lüften schwebten. Wollte man landen, so brauchte man nur an einem kleinen Gurt zu ziehen und der Flugsaurier gehorchte prompt. Es wäre allerdings nicht sehr ratsam, den Pterosaurus über dem Nirgendwo zur Landung zu zwingen – denn er benötigte eine Startrampe, um wieder in die Lüfte zu kommen, und die hatte nur ein Wachturm, der extra für solche Zwecke ausgerüstet worden war.

Auch dieser Tag verging ereignislos wie der Vorhergegangene, der Himmel strahlend blau und klar, die Luft salzig und frisch. Ab und zu tauchten neben der Schiffsflanke die langen, spitzen Schnauzen kleiner Opthalmosaurier auf, die neugierig die große Dschunke betrachteten und dann unter aufgeregt klingenden Schreien wieder im Meer verschwanden.

Huǒshān und eine sehr ruhig aussehende Frau namens Aañkh besserten an Deck die schadhaften Netze mit dickem Bast aus. Bald näherten sich die Kinder, allen voran die neugierigen Zwillinge. „Hey, dürfen wir euch vielleicht helfen? Das sieht ja lustig aus, was ihr da macht!" „Ist euch langweilig?" fragte Aañkh sanft und lächelte. „Hier, setzt euch. Man macht es so und so – " Langsam und geduldig brachte sie ihnen das Flicken bei und bald saßen alle Kleinen inklusive Moko und Kiíchigo eifrig bei den Ausbesserungsarbeiten. Huǒshān freute sich im Stillen; sie würden viel schneller fertig werden, und ihr Anteil an Freizeit stieg. Ziemlich praktisch, diese Kinder...

Kamomé und Kagamí beschäftigten sich inzwischen mit einem Haufen Pläne und Schriftrollen, die ihnen Hǎi freundlicherweise geliehen hatte. Darauf waren die bisher erforschten Gebiete Noas zu sehen, zu denen die beiden „großen Seefahrer" Kōri und Yánshí, von denen selbst die respektlose Hǎi nur in ehrfürchtigem Tonfall sprach, bisher vorgedrungen waren. Kōri war bereits gestorben und Yánshí hatte sich irgendwohin in die Einöde zurückgezogen, niemand kannte ihren genauen Aufenthaltsort. Um eine Insel sollte es sich handeln, nur soviel war klar. Die Schrift konnten sie nur sehr schwer entziffern; leider beherrschten weder Kamomé noch ihr kleiner Helfer chinesische oder indische Schriftzeichen, und aus eben diesen stellte sich die Sprache in Asante zusammen, wie es schien. Zwar konnten sie die Einheimischen ziemlich gut verstehen, da sie Japanisch mit nur wenigen Brocken anderer Sprachen vermischt gebrauchten, doch in den Büchern sah das anders aus. „Ich geb's auf," stöhnte Kamomé nach einiger Zeit. „Die meisten Zeichen hier sind einfach unentzifferbar – ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Schade, dass Suigín nicht hier ist, er hätte uns bei einigen Zeilen sicher helfen können." „Ja, leider. Eigentlich wollte ich ja nächstes Jahr damit beginnen, Hindi und Koreanisch zu lernen – aber wenn wir hier nicht wegkommen, dann sehe ich für meine weiteren Studien ohnehin schwarz – "

Kagamí gähnte und reckte sich leicht. Wie Kamomé war er ein hochbegabter Schüler, aber im Gegensatz zu ihr hatten seine Großeltern nichts dagegen, wenn er ein paar Klassen übersprang. Aranámi Aráshi und Uzurá waren strikt dagegen gewesen, dass ihre Tochter mehr als eine Schulstufe schneller hinter sich ließ. Sie wollten ihr den Anschluss an Gleichaltrige nicht nehmen, was Kamomé im Vertrauen gesagt allerdings ziemlich egal war. Dank ihrer vielen außerschulischen Kurse würde sie auf der Uni dagegen sicherlich mehr als drei Semester überspringen und so gleich in das zweite oder dritte Jahr einsteigen können.

„Für Sprachen interessiere ich mich ehrlich gesagt nicht sonderlich. Ich mag Wissenschaft bei weitem lieber – ich glaube, endlich weiß ich, in welche Richtung mein Studium gehen sollte. Meeresbiologie wie Mutter gefällt mir nicht so sehr. Ich denke, ich werde mit Biotechnologie beginnen, und, falls ich es noch schaffe, auch noch Genetik. Das spricht mich momentan am meisten an – " „Wenn ich mit der Oberschule fertig bin, möchte ich zuerst Sprach – und Kulturwissenschaft mit der Studienrichtung Indologie belegen, dann Sinologie und Sprachen und Kulturen des Alten Orients. Eigentlich würde das um die 24 Semester brauchen, aber ich denke, das schaffe ich schneller." Kagamí meinte das alles völlig ernst; nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, darüber Scherze zu machen. Trotzdem erklang plötzlich höhnisches Gelächter hinter ihnen, und die beiden drehten sich erstaunt um. „Du glaubst, du würdest drei Studien in der Zeit von einem schaffen? Tut mir leid, aber ich fürchte, das wird selbst dir nicht gelingen." Sachou hatte sich zuerst den halben Tag mit sich und einem Buch, dass er mitgebracht hatte, beschäftigt, dann war es ihm zu langweilig geworden und er hatte sich auf die Suche nach seinen Kameraden gemacht. Dabei hatte er zufällig dieses Gespräch mitangehört und schüttelte sich nun vor Lachen. „Hey, ich bin im ersten Jahr auf der Uni, und glaub' mir, es ist nicht so leicht, wie du denkst. Technische Chemie mag ja einfach klingen, aber das Studium hat's in sich, das könnt ihr mir glauben – " „Tut mir leid, aber Kagamí ist intelligenter als du. Das ist eine bewiesene Tatsache, die genauso auf mich zutrifft – das liegt nicht nur an unserem höheren IQ, sondern daran, dass wir bereit sind, hart zu arbeiten und alles zu tun um – " „Glaubst du vielleicht, ich tue das nicht? Trotzdem ist es schwer, klar? Ihr mögt zwar in der Oberstufe die großen Nummern sein, aber das hilft euch auf der Uni gar nichts.", fauchte Sachou ärgerlich und ging, während ihm die beiden schweigend hinterher blickten und dann mitleidig die Achseln zuckten. „Wenn er sich dadurch besser fühlt – meine gesamten Lektionen laufen auf der Uni." „Meine auch! Bei welchen Professoren bist – " Neugierig begannen sich die Zwei über ihre Begabtenkurse zu unterhalten und vergaßen ihren Senpai bald. Er dagegen konnte ihr Gespräch nicht aus seinem Kopf drängen und wanderte nachdenklich durch das Schiff. Da strengte er sich an und arbeitete wie ein Idiot, bloß um von einer Siebzehn – und einem Elfjährigen hören zu müssen, dass sie drei Studien mit links schaffen würden. Und wie er die beiden kannte, hatten sie vermutlich auch noch recht.

„Hey, so trübsinnig, Sachou- senpai? Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?" ertönte eine Stimme dicht neben seinem Ohr aus einer der Kajüten. Wie elektrisiert zuckte er zusammen und sah sich hastig um. Káshira und Tókui winkten ihm fröhlich aus dem kleinen Raum zu und luden ihn ein, zu ihnen zu kommen. Der leicht deprimierte Junge ließ sich nicht zweimal bitten und setzte sich zu ihnen. „Gerade war ich bei Aranámi und Mángetsu, wisst ihr – manchmal sind mir die beiden richtig unheimlich. Wie kann man nur so verdammt klug und dazu noch so selbstsicher sein? Ich mache mir schon das ganze Jahr Sorgen wegen diesem blöden Studium, und die – " Seufzend stützte er den Kopf in seiner Hand auf. „Mein Vater wird mich erschlagen, wenn ich keine Erfolge nach Hause bringe – ich bin nun nicht so klug, wie er gerne hätte... ach." Mutlos ließ er die Wange auf seine angezogenen Knie sinken und stöhnte müde. Tókui bemühte sich, ihn aufzuheitern. „Es ist doch allgemein bekannt, dass sowohl Aranámi als auch Mángetsu nicht an normalen Maßstäben gemessen werden können – sie ist ein ganzes Jahr jünger als ich und in der selben Klasse – ihre Noten sind einfach spitze, und sie besucht unzählige Aufbaukurse, bei denen ich nicht mehr als meinen Namen verstehen würde – die Zwei sind eben so.

Kagamí überspringt doch auch Klassen am laufenden Band, oder etwa nicht?" „Mh." Er schien nicht völlig überzeugt, aber wenigstens etwas getröstet. „Ja, du hast ja recht. Ach, ich wünschte mir ein bisschen was von ihrer Intelligenz – dann wäre das ganze Studium nicht mehr halb so schwer – " „Nur Mut." Káshira klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. „Wenigstens kannst du in den Clubs auftrumpfen, wenn dich die ganzen Kleinen mit großen Augen anstarren – und nächstes Jahr kommen wir auch schon auf die Uni, da bist du dann kein Anfänger mehr, sondern hast alles im Griff, nicht?" Sachou nickte langsam und lächelte wieder ein bisschen. „Was – was spielt ihr denn da? Kann ich mitmachen?" „Klar doch. Das ist Májiàng, kannst du ja, oder?"   

Als der Abend dämmerte, erreichte Mosar endlich die Waldkette, hinter der Casava lag. Ein anstrengender Tag lag hinter ihm, und auch die beiden Flugsaurier waren erschöpft und taumelten schon mehr als sie flogen. Aber nun war er endlich am Ziel ...

„General! Ich habe Sie erwartet!" Gerade als sein Pterosaurus zur Landung ansetzte, erscholl eine bekannte Stimme. Major Sākuru stand neben dem Wärter und lächelte kühl. „Wie schön, dass meine Nachricht Sie erreicht hat! Ihr werdet staunen – " „Ich will morgen mit dem Jungen sprechen, heute steht mir der Sinn eher nach einem schönen Bad und einem weichen Bett." Er stockte kurz. „Und einer ordentlichen Mahlzeit. Reisen in der Luft gefällt mir nicht sehr, glaube ich ..." Sākuru verbeugte sich und verzog leicht spöttisch seine Lippen. Mosar bemerkte es und runzelte die Stirn; er wusste schon seit langem, dass Matandua in Sachen Loyalität und Ehrlichkeit Sākuru vorzuziehen war. Allerdings war der Major nun mal der fähigere Offizier der beiden, und sie vertrugen sich leider überhaupt nicht.

Wie der Zufall es so wollte, verbrachte er die Nacht im Gasthaus „Katatsúmuri", in dem auch schon die Pfadfinder genächtigt hatten. Der Wirt erzählte eilig davon, als er Mosar den Saké höchstpersönlich in den Baderaum brachte. „Sechzehn waren es, und ein kleiner Flugsaurier – ich wusste ja gar nicht, dass sie gesucht werden – Lady Hǎi hat ihre Rechnung bezahlt – " „Hǎi? Ist sie denn wieder in der Stadt?" Der General wurde aufmerksam und stellte den Becher an den Rand der großen Wanne ab. Erschrocken zuckte der Gastwirt zusammen und lächelte unsicher. „Oh, die Lady ist schon wieder abgereist. Vor zwei Tagen, sie kam im Morgengrauen und holte die Kinder ab. Zwei Stunden später erfuhren wir dann von der Verhaftung dieses Verräters und dass diese Kinder die Gesuchten waren – wir haben hier zwar die Nachricht und den Steckbrief erhalten, aber – " „In Casava sind oft die größten Gauner unterwegs, und du wolltest vermutlich auch nicht auf deine Bezahlung verzichten, hab' ich recht?" fragte Mosar leicht amüsiert und starrte den Mann, der langsam rot anlief und an seinen eigenen Worten zu ersticken schien, durchdringend an. „Äh – hmm – Lady Hǎi, also, sich ihr zu widersetzen ist – " „Sehr gefährlich, ich weiß.", brachte Mosar den hastig begonnenen Satz zu Ende, als ihn der Wirt nur noch verstört beobachten konnte. „Schon gut, wir werden sowohl diese Kinder als auch Fräulein Samadhi, die Hochverrat begangen hat, finden und angemessen bestrafen." „Äh – Ja. Ganz recht, Herr General, äh – " stotterte der Gastwirt und fühlte sich, als müsste er einem Allosaurus gegenüberstehen, und zwar ganz ohne Waffen –

Eakeno wanderte munter vor sich hin summend über den Innenhof des Palasttraktes, der den Konkubinen vorbehalten war. Er war schon von früheren Königen errichtet worden; vier schlanke Säulen waren durch niedrige Häuser miteinander verbunden und umschlossen einen wunderschönen Garten, in dem von kundiger Hand Bäume und Sträucher gepflanzt worden waren, in der Mitte von einem kleinen Bach durchschnitten, über den eine kleine gebogene Brücke führte. Vorsichtig trat sie auf einen großen Stein und blickte einige Sekunden in das klare Wasser, dass sprudelnd aus einer kleinen Quelle ans Tageslicht trat und sich schäumend an den Steinen brach. Einige Fische tummelten sich in ihm und sammelten sich schließlich in dem großen Teich, der von Statuen und niederen Bänken gesäumt wurde.

Ein wundervoller Ort, um sich zu entspannen und die Gedanken kreisen zu lassen ...

Die schöne Konkubine ließ sich vorsichtig auf eine der steinernen Bänke sinken und rollte langsam die erste der insgesamt fünf Schriftrollen auf, die sie mitgebracht hatte. Der Garten war so still und leer, dass sie diese Gelegenheit einfach nutzen musste

Für einige Zeit war es völlig ruhig; lediglich einige große Libellen schwebten leicht wie Federn über dem kleinen Teich, aus dem ab und zu ein großer Fisch sprang und tropfensprühend wieder verschwand. Auch kleine Flugsaurier fanden sich ein, um in den Libellen und restlichen Insekten eine Mahlzeit zu finden. Von einem großen Schirm geschützt las Eakeno so vertieft in ihren Unterlagen, dass sie die lauten Schritte, die sich von außen näherten, zunächst völlig überhörte. Dann allerdings blickte sie alarmiert auf.

„HE, Konkubine! Wo ist mein Vater?" Die Stille zerbrach und zurück blieb nur die schrille, empörte Stimme Prinzessin Asukas, die anklagend mit dem Finger auf sie deutete. „Ist er wieder mal bei euch?" „Schon möglich", antwortete Eakeno leichthin und lächelte sogar, nachdem sie den ersten Zorn tapfer hinuntergeschluckt hatte. „Bei mir ist er allerdings nicht, wie Ihr seht – " Asuka schüttelte ärgerlich den Kopf und stampfte mit dem Fuß heftig auf den Boden, wobei sie einige kleine Triebe in die Erde trat, was die Konkubine mit leichtem Kummer erfüllte. Warum benahm sich die Prinzessin bloß immer so furchtbar kindisch?

„Das sehe ich, dass er nicht bei Euch ist, edle Konkubine. Aber vielleicht hättet Ihr ja die Güte, eine von den anderen W – ich meine, Damen zu fragen – " „Fragt sie doch selbst, Prinzessin Asuka," warf ihr Eakeno schnippisch hin und warf kühl den Kopf in den Nacken. Sie war ja nicht ihr Dienstmädchen –  „Ein Wunder, dass Ihr überhaupt lesen könnt, was, Eakeno? Auf euren – Inseln – ist das ja nicht so üblich, hmm?" kicherte Asuka hämisch und strich sich aufreizend durch die Haare. Die Konkubine wurde wütend, wollte aber ihre Nerven noch nicht verlieren. „Nun ja, ich bin eben lernfähig. Was würdet Ihr denn tun, wenn ihr auf eine fremde Insel verschleppt werden würdet – und weder Sprache noch Schrift verstehen könntet?" „Pah, mir würde so was nie passieren. Aber nun gut, ich werde eben weiter nach meinem Vater suchen müssen. Schließlich – " Plötzlich wurde sie von einer noch um ein Vielfaches schrilleren und gelangweilteren Stimme als sie eine besaß, unterbrochen.

Prinzessin Asuka, Ihr habt noch einige Termine zu absolvieren, wie zum Beispiel das heutige Kampftraining und Benehmen bei Hofe. Es eilt; würdet Ihr also bitte endlich in den Hauptpalast kommen und mit Eurem Tagespensum beginnen?" knurrte eine grauhaarige alte Frau mit einem bitteren Zug um den Mund ärgerlich. Sie würdigte Eakeno keines Blickes, sondern zerrte ihren nur widerwillig folgenden Schützling an der Hand nach draußen. Nach dem ersten Schrecken begann die leicht erschrockene Konkubine befreit zu lachen. Diese Orimé war schon eine seltsame Frau – sie war wirklich dankbar, nicht zu ihren Schülern zu gehören. Kein Wunder, dass die arme Yèyīng –

„Eakeno! He, ich rede mit dir!" Wēnnuǎn eilte völlig außer Atem zu ihr und musste erst ein wenig nach Luft schnappen, ehe sie weitersprechen konnte. „Stell' dir bloß vor, heute war Shi Huángdì wie immer, ganz freundlich und so, wie früher eben. Und sobald der Hohenpriester da war, um mit ihm zu sprechen – nichts. Boshaft, launisch – Eakeno, ich bin mir sicher, daran ist bloß dieser widerliche Kerl mit seinen zwei Begleitern schuld!" „Hmm..." Die Angesprochene ließ zuerst ihren Blick ein wenig über den Garten schweifen, ehe sie antwortete. „Wenn das wahr ist, was sollen wir dann tun?"

Die Insel Ròushíyú erwies sich als vom Dschungel dicht bewaldetes, auf den ersten Blick allerdings unbewohntes Eiland. Nur ein hoher Wachturm zeugte von menschlicher Anwesenheit, ebenso wie ein alter Mann, der Hǎi mit einem freundlichen Winken begrüßte. Als sie die Línghún sicher in den Hafen gebracht hatte und die Mannschaft langsam das Schiff verließ, eilte er gleich zu ihnen. „Ach, Lady Hǎi! So sieht man sich wieder! Es ist schön, dass Ihr wieder nach Ròushíyú kommt. Gleich ist Mittag, und wenn Ihr Glück habt, könnt Ihr Hínan innerhalb von zwei Stunden erreichen.

Dann dürfte sogar noch etwas zu essen bei Shuǐhú zu haben sein – er hat sein Sortiment seit letztem Sommer stark erweitert, seit Ihr ihm – " Der Alte grinste verschwörerisch und beugte sich ein wenig weiter nach vorne. „Naja, mit freundlichen Worten beigebracht habt, dass Ihr mehr als nur drei Gerichte auf dem Tisch sehen möchtet – das hat er sich gemerkt, kann ich da nur sagen." „Hoffentlich." Hǎi lachte erheitert auf und tätschelte dem alten Mann abschiednehmend auf die Schulter, bevor sie sich zu ihrer Mannschaft und den Gästen umdrehte. „So, auf geht's! Wir haben einen ziemlich harten Aufstieg vor uns, unter zwei Stunden läuft da nichts. Also nehmt nur das Nötigste mit, klar? Sonst werdet ihr euch wünschen, nie nach Ròushíyú gekommen zu sein!"

Dāorèn und Inázuma stöhnten hingebungsvoll auf, während sie gequält die Augen verdrehten. „Oh nein, nicht dieser blöde Berg! Können die ihre Stadt denn nicht am Boden bauen, so wie andere Leute auch?" „Hier wimmelt es nur von gefährlichen Raubsauriern. Wenn wir uns nicht beeilen und bald nach Hínan kommen, ist die Gefahr eines Angriffs sehr hoch. Ich will nicht als Sauriermahlzeit enden." Ráiu hatte die beiden zufällig gehört und hielt ihnen nun mit ernster Miene eine Standpauke. „Ehrlich gesagt, ich fühle mich hier sehr unwohl. Wenn wir Pech haben, werden wir sogar unterwegs auf Saurier treffen, und davor fürchte ich mich."

„Los, kommt endlich! Wir haben nicht viel Zeit!" Selbst Hǎi war heute enorm nervös. Sie machte sich allerdings eher um das Wetter, das jeden Tag umschlagen konnte, Sorgen. Wenn sie nur rechtzeitig mit der Línghún davonkam – wenn es ihr nur gelingen könnte –

Nach einem kräftezehrenden Aufstieg von drei Stunden erreichten sie endlich die Plattform, auf der man die Stadt Hínan erbaut und mit einem festen Schutzwall aus Pfählen geschützt hatte. Hǎi war mit ihrer Mannschaft äußerst unzufrieden und trieb sie ständig mit lauten, ärgerlichen Kommentaren an. „Wenn ihr euch nicht endlich beeilt, dann könnt ihr gleich hier draußen bleiben, damit euch die Saurier fressen, klar? Oh, warum habe gerade ich den Ärger mit solch unfähigem Pack wie euch?"

Keuchend ließen sich die Kinder vor dem fest verschlossenen Stadttor auf die Knie sinken und rangen zitternd nach Atem. Es schien beinahe unmöglich, jetzt noch weiter zu gehen –

„Wer ist da?" Ein winziger Spalt in einer kleinen Tür neben dem schweren Tor öffnete sich, und ein Paar funkelnder Augen blitzten heraus. Hǎi winkte lässig und grinste boshaft, als hinter der Türe ein ärgerliches Knurren erklang und einen kleinen Spalt geöffnet wurde. „Ach, Lady Hǎi. Beehrt Ihr uns wieder? Ach, wie schön..." Der Besitzer der Stimme wurde sichtbar; es handelte sich um ein kleines Männchen, dass die schöne Lady mit großem Argwohn musterte. Ráiu drängte sich nach vorne und zwinkerte dem Mann zu, der daraufhin heftig errötete und sich eilig zurückzog. Hǎi musterte ihre Meisterin misstrauisch und zuckte dann die Achseln. „Womit habe ich so was bloß verdient..."

Der ominöse Shuǐhú entpuppte sich als runder, gemütlicher Mann, der das gleichnamige Gasthaus, das Einzige in der Stadt, führte und Hǎi mit unterwürfigem Lächeln begrüßte, während er sich verstohlen den Schweiß von der Stirn wischte. „Oh, werte Lady! Ihr besucht unsere kleine Stadt also wieder – mein Gasthof führt jetzt weitaus mehr Speisen als früher – ihr werdet begeistert sein – " „Das hoffe ich auch schwer." Das junge Mädchen hob eine Augenbraue und musterte ihn streng. „Letztes Mal war ich ganz und gar nicht zufrieden – ich werde gleich nachprüfen, inwiefern du dich verbessert hast. Jetzt brauchen wir erst mal Zimmer, ein Bad und dann etwas zu essen. Klar?" „Natürlich." Der Wirt nickte und verbeugte sich tief. „Alles wird sofort erledigt – "

Nach einem erfrischenden Bad fanden sich alle nach und nach im großen Speisesaal des Shuǐhú ein und ließen sich am großen Tisch, der in der Mitte des Saals eilig von den Dienern aufgestellt worden war, nieder. Der Wirt tischte Mannschaft und Pfadfindern ordentlich auf; bald bog sich die Tafel vor lauter Köstlichkeiten, die selbst die kritische Hǎi mit hoheitsvollem Nicken akzeptierte und von allen begeistert verzehrt wurden. Mitten in der Schlemmerei wurden sie plötzlich von einem lauten Knall aufgeschreckt und sprangen auf.

Ráiu war totenblass geworden und ließ ihren Löffel fallen. „Ein Angriff", meinte sie tonlos.

Inázuma packte seinen Dolch, den er hinter seinen Sitz gelegt hatte, und schlich katzenartig zur Tür. Auf den Straßen waren aufgeregte hin und herlaufende Menschen zu erkennen, Mütter und Väter, die ihre Kinder eilig in Sicherheit bringen oder ihre Saurier retten wollten, alles in allem ein furchtbares Chaos aus Geschrei und dem Stampfen vieler Füße. Doch über all dem Lärm war ein dröhnender Ton zu hören, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Verflucht – " „Bleib hier, Inázuma. Ganz ruhig." Die alte Frau bewegte kaum ihre Lippen, während sie ihre Hand wie einen Schraubstock um Hǎi's Handgelenk gepresst hatte und sie eisern festhielt. „Meisterin, lasst mich sofort los! Wir müssen –" „Wir müssen nichts. Bloß ganz still hier drin bleiben und – " „Warten bis die Saurier uns hier finden und fressen? Nein, Ráiu. Wir müssen hier jetzt raus.", mischte sich Dāorèn ruhig ein und drückte fest auf die Hand der alten Meisterin, bis sie Hǎi aus ihrem Griff entließ. Müde senkte sie ihren Kopf und griff ebenfalls nach den Waffen. „Also gut – dann gehen wir – "

Auch die Pfadfinder drängten sich hinter den Seefahrern ins Freie und ließen einen geschockten Gastwirt zurück. „Wenn das mal gut geht – "

Gewandt und lautlos erklommen sie das Dach des Gasthofs und beobachteten die mit einem Schlag ruhig gewordene Straße. Eine seltsame, bedrohliche Stille hatte sich über Hínan ausgebreitet, niemand bis auf einige bewaffnete Männer und Frauen im Schutz des obligatorischen Wachturms mitten in der Stadt war mehr im Freien zu sehen. Das dumpfe Grollen, das aus der Richtung des Stadttores immer näher kam, ängstigte sie alle bis auf Inázuma, der den Sauriern mit kalter Entschlossenheit entgegensah.

Nach Minuten des angespannten Wartens kam der Grund des Lärms in ihr Blickfeld. Es handelte sich um eine Gruppe Allosaurier, die neugierig die Köpfe hin und her wandten und ihre klaren, kalten Augen eifrig schweifen ließen. Sie waren schon den ganzen Tag ohne Erfolg auf Jagd gewesen und mussten einfach fressen –

„Diese verdammten Biester." Inázuma bewegte kaum seine Lippen und hielt den Blick starr auf die Raubsaurier geheftet, während sie immer näher und näher kamen. Plötzlich schwirrte ein Pfeil durch die Luft, der einen der jüngeren Allosaurier an der Schulter traf. Das große Tier zuckte zusammen und stieß einen wütenden Schrei aus. Seine Kumpanen beobachteten, wie dunkles Blut langsam aus der Wunde tropfte und sich auf den Steinplatten der Straße verteilte. Das Leittier stieß ein lautes Brüllen aus und wandte sich zu einem Haus am Rand.

Das nächste, das Káshira, der ebenso wie die anderen in eine Art Lähmung verfallen war, zu Bewusstsein kam, war der entsetzte Schrei eines Kindes und ein reißendes Geräusch. Dann herrschte wieder Stille.

Verflucht!" Der rothaarige Mann sprang ruckartig aus seiner Hockstellung auf und packte den Bogen, der um seine Brust hing. „Jetzt bist du dran – "

Im selben Moment gaben die Menschen am Wachturm mit Hilfe eines Parasaurolophus- Horns ein dröhnendes Signal ab und verließen ihre Zuflucht. Auch von der anderen Seite näherten sich Krieger der Stadt, um die Saurierherde einzukreisen.

Káshira und die anderen kauerten sich hinter dem Dachfirst zusammen, während sich Hǎi und ihre Begleiter aufrichteten, um sich am Kampf zu beteiligen...

Die eingekreisten Saurier stießen ein drohendes Brüllen aus und gingen ebenfalls zum Angriff über – durch den aufgewirbelten Staub verschwamm alles zu einem Gemisch aus Formen und Farben, einzelne Geräusche waren kaum noch voneinander zu unterscheiden. Nur hin und wieder ertönte ein einzelner Schrei oder wütendes Brüllen über die wabernde Geräuschkulisse. Káshira hielt seine Augen zunächst geschlossen, öffnete sie dann aber wieder und beobachtete den erbitterten Kampf, der unter ihnen tobte. Zwei Saurier und drei Männer lagen bereits bewusstlos oder sogar tot auf der Straße; einem der Allosaurier hatte ein scharfes Schwert die Kehle aufgeschlitzt und das rote Blut spritzte in hohem Bogen auf den Weg. Plötzlich allerdings herrschte atemlose Stille.

Die Saurier hatten sich getrennt und offensichtlich hinter Häusern oder Bäumen versteckt; die Krieger sahen sich verwirrt um und bemühten sich, die Tiere zu entdecken.

Ráiu und der Rest der Seefahrer beeilten sich, wieder auf das Dach zu kommen, um ihre wie vom Erdboden verschluckten Feinde zu lokalisieren. Jäh blickte sich Ráiu mit panikerfüllter Miene um und packte Tsumé, der ihr am nächsten stand, brutal am Arm. „Wo ist sie? Wo ist Hǎi?" zischte sie entsetzt und schüttelte ihn heftig. „Au! Ich – ich weiß nicht – " „Ihr Idioten! Wir müssen sie finden! Sie war doch eben noch hier!"

Plötzlich wiesen die Zwillinge mit zitternden Fingern nach unten. „Da – da ist wer – " Alle starrten nach unten und folgten mit ihren Blicken dem Weg der Zeigefinger. Dāorèn schluckte entsetzt und presste seine Hand vor den Mund. „Oh nein – sie ist – " „Da unten! Sie – wir müssen sie – " stammelte Huǒshān außer sich und brach in Tränen aus.

Auf dem Erdboden quälte sich gerade Hǎi aus dem Schatten eines zerstörten Hauses und war offensichtlich in Begriff, die Straße zu überqueren, um Schutz zu suchen, als urplötzlich –

Nein! KEHR UM!" kreischte Ráiu dem Wahnsinn nahe auf und machte Anstalten, vom Dach zu springen. Nur mit Mühe gelang es Tsumé, sie zurückzuhalten. „Bist du wahnsinnig? Bleib hier! Du kannst ihr jetzt nicht helfen!" „Aber!" Verbissen wehrte sich die alte Frau und biss ihm erbarmungslos in den Arm. „Au – " Er versetzte ihr zwar einen schmerzhaften Schlag auf den Kopf, dachte aber nicht im Geringsten daran, sie loszulassen. Tókui blickte nach unten und bemerkte nun ebenfalls den Grund für ihre Panik. Einer der älteren Saurier schlich sich unbemerkt seitlich im Schatten des Hauses an sie heran und knurrte leise. „Warum reagiert sie denn nicht? Was ist los?" zischte Tókui entsetzt auf und schüttelte Dāorèn, der zufällig schräg vor ihr hockte und das Ganze mit grimmiger Miene beobachtete. „Sieh dir ihren Kopf an. Die Schläfe. Sie blutet, irgendwas hat sie da sicher getroffen. Sie kann gar nicht schneller – " Überrascht bemerkte Tókui, dass seine Schultern zitterten und er mit den Zähnen knirschte. Auch Inázuma hatte seine Hände zu Fäusten geballt, von der tobenden Ráiu einmal abgesehen.

Langsam taumelte Hǎi über den Weg und hielt mit schmerzerfüllten Gesicht ihre Hände an den Kopf. Ein pulsierender Schmerz zwang sie dazu, mit halbgeschlossenen Augen im Zickzackkurs über die Steinplatten zu wandern und ihre Umgebung nur noch grell und unscharf wahrzunehmen. Bis allerdings –  „Au! Was – " Irgend etwas hatte sie leicht angestoßen und zu Fall gebracht. Wenn das ein blöder Scherz war –

Als sie den scharfen Atem des Raubtieres auf ihrem Gesicht fühlte und seine Wärme spürte, klärte sich ihr vernebelter Kopf mit einem Schlag. Langsam hob das junge Mädchen seinen Blick und starrte in einen Wald aus nadelspitzen, fingerdicken Zähnen. „Oh je – " Vorsichtig wanderten ihre Augen höher und begegneten den kalten Augen des Sauriers, der boshaft zu grinsen schien -  Plötzlich fühlte sie ein leichtes Kratzen an ihrer Schulter und musste trotz aller Todesangst lächeln. „Lóng, mein Schatz – " flüsterte sie sanft und spürte seinen langen Schwanz sanft an ihren Hals peitschen. „Still, ganz ruhig – du läufst jetzt ganz schnell weg, ja?" Lóng schnaubte ablehnend und blieb. Der Allosaurus entfernte sich einen halben Schritt und stürmte dann nach vorne, um sie genüsslich zwischen seinen mächtigen Kiefern zu zermalmen –

„Nein, nein, das nicht", flüsterte Hǎi konzentriert und zog eilig zwei lange Haarnadeln aus ihrem Knoten, die sie zwischen Zeige- und Mittelfinger schob und mit dem Daumen fixierte. Als der Saurier seinen Kopf wuchtig neigte und das Maul zum tödlichen Biss aufreißen wollte, erwartete sie ihn hochkonzentriert und hob ihre Hände –

Sowohl Seefahrer als auch Pfadfinder hielten entsetzt den Atem an, als sich die blitzende Nadel in das linke Auge des Tieres bohrte, dass sich daraufhin vor Schmerz brüllend einige Schritte zurückzog und den Schädel wie wild hin und herschüttelte. Einige Sekunden Atempause waren ihr gegönnt –

„Komm." Dāorèn war geräuschlos vom Dach gesprungen und über die Straße zu seiner Vorgesetzten geeilt, die er geschickt unter Achseln und Kniekehlen packte, um mit ihr in das nächste Haus zu eilen, vorbei an dem tobenden Saurier, den sich gerade ein furchterregend dreinblickender Inázuma vornahm.

Das lange Schwert glitt durch die Kehle und bohrte sich dann zitternd in den Bauch des Tieres, das daraufhin noch einige Schritte über die Straße taumelte und dann blutüberströmt zusammenbrach. Einige Male hoben sich die mächtigen Flanken noch, dann lag der Saurier still.

Der Kampf schien nun größtenteils vorbei; vier der Tiere hatte es im Endeffekt erwischt. Ihre Leichen wurden von einigen Bewohnern der Stadt zerlegt und in Sackleinen gehüllt fortgeschafft. Über die fünf Leichen legte man schweigend blütenweiße Tücher und bahrte sie auf; einige Frauen schluchzten laut, die Männer bargen verzweifelt ihre Gesichter in den Händen. Eilig erhob sich Ráiu und kroch nach unten, um nach ihrer Schülerin zu sehen. Die Pfadfinder und die restliche Mannschaft folgten ihrem Beispiel.

Hǎi lag in mehrere Tücher gewickelt auf einem Futón und betastete stöhnend ihren Kopf, der gerade von einer jüngeren Frau vorsichtig untersucht und verbunden wurde. Dāorèn saß neben dem Bett und hielt zärtlich ihre Hand, Lóng hatte sich auf dem Bett zusammengeringelt und schlief an der Seite seiner Herrin. Stumm setzten sich die Pfadfinder auf die Kissen, die ihnen eilig hingeschoben wurden und drängten sich voller Furcht aneinander. Der Schock über diesen Angriff steckte ihnen immer noch heftig in den Knochen.

Nach einiger Zeit, in der Ráiu stumm neben ihrem Schützling saß und ebenso wie Dāorèn ihre Hand tätschelte, öffnete sich die Tür abrupt und ein bluttriefender, dämonisch dreinblickender Inázuma taumelte in den kleinen Raum. Schlagartig wurde alles still und jeder starrte auf den keuchenden Rothaarigen, der sein gezücktes Schwert noch in der Hand hielt.

„Ganz ruhig, Inázuma. Du kannst dich jetzt wieder beruhigen. Der Saurier ist tot." Leicht erhob sich Dāorèn und durchquerte rasch den Raum. „Komm, gib mir das Schwert." In Inázumas Gesicht zuckten zwar noch einige Muskeln, dennoch gab er seine Waffe nach einigen sanften Berührungen auf seine Hand her. „Diese Verdammten – man sollte sie alle – " 

„He, kommt mal her. Hǎi will euch was sagen.", zischte Ráiu leise und winkte die beiden Männer, die auf der Stelle verstummten, zu sich.

„Dāorèn, Inázuma – " flüsterte das junge Mädchen schwach und packte vorsichtig ihre Hände. Ein dünner Blutfaden sickerte aus ihrem Mundwinkel und sie hustete krampfhaft, ehe sie weitersprechen konnte. Als Dāorèn ihre Versuche unterbrechen und sie dazu bringen wollte, sich zu schonen, schüttelte sie nur ärgerlich den Kopf und legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. „Es – es tut mir ja so leid – ich wollte euch nicht – " „Shh, shh, nicht reden – ist ja schon gut – " „Nein, ich – ich hätte euch niemals in Schwierigkeiten bringen dürfen – es ist alles meine Schuld. Ich bin es gar nicht wert, dass ich euch – auf meinem Schiff – "

Sowohl Dāorèn als auch Inázuma beugten sich gemeinsam zu ihr und drückten nun ihrerseits ihre Finger auf den Mund des jungen Mädchens. „Das reicht schon. Still sein, ja? Nicht mehr sprechen. Wir verzeihen dir ja schon – " Nach einigen weiteren Hustenanfällen schlief Hǎi schließlich dennoch einigermaßen friedlich ein, flankiert von ihrer Meisterin und den beiden Männern, die alle drei die ganze Nacht bei ihr wachten, ohne ihre Seite auch nur einmal zu verlassen.

In dieser Nacht trauerte ganz Hínan um die fünf Gefallenen, drei Männer und zwei Frauen, die im Kampf mit dem Allosaurus - Rudel ihr Leben verloren hatten.

Káshira sprach noch kurz mit einer der jungen Frauen, die geschäftig im Raum hin und herwuselten, um Hǎi und den anderen Verletzten zu helfen. „Ähm – das ist sehr nett von euch, dass sich hier jeder um den anderen kümmert – " „Ich habe meinen Onkel verloren. Alle hatten Familie, die um sie trauert. Wenn solche Menschen sterben, dann reißt es ein tiefes Loch in unsere Stadt. Stirbt dagegen jemand wie Hǎi – " Sie rümpfte die Nase und warf den Kopf in den Nacken. „Um die trauert doch keiner außer ihrer seltsamen Mannschaft. Was man so hört über sie – nein, eine ehrbare Frau ist die nicht. Aber gut – sie kann es sich ja leisten, hierher zu kommen und die große Retterin zu spielen. Pff." Mit wiegendem Schritt und verächtlicher Miene entfernte sie sich wieder, während Káshira gedankenverloren den Kopf zwischen seine Hände legte und müde die Augen schloss.