28. Kapitel

Verhängnisvolle Begegnung

Obwohl es am vorhergegangenen Tag noch ziemlich schlecht für Hǎi ausgesehen hatte, erwiesen sich ihre Verletzungen lediglich als Kratzer, und sie plante bereits ihre Abreise. Während sie auf dem Futón lag, dirigierte sie ihre Mannschaft eifrig hin und her, um das Schiff ordnungsgemäß mit Wasser und Proviant zu versorgen. Die Pfadfinder bedankten sich bei ihr unter Tränen und Manua begann vor lauter Dankbarkeit wirklich zu schluchzen, was bei dem violetthaarigen Mädchen leichte Verlegenheit auslöste. „Ist ja schon gut, ehrlich – ihr braucht euch doch nicht zu bedanken. Das war doch selbstverständlich – in einer Woche hole ich euch wieder ab. Dann befreien wir euren hübschen Freund, und ihr geht eurer Wege."

Dāorèn und Inázuma schwänzelten einige Zeit unschlüssig um Hǎi herum, ohne sie anzusprechen, bis sie von Ráiu ungeduldig hinausgeworfen wurden. „Eurem Kapitän geht es gut, wie ihr sehen könnt, also trampelt hier nicht wie liebeskranke Tawhaki herum, ja?"

Maulend zogen die zwei schließlich ab, während Hǎi leise zu lachen begann. „Oh, seid nicht zu hart zu ihnen, Meisterin. Immerhin verdanke ich nur ihnen mein Leben." „Trotzdem. Wir wollen doch noch heute Nacht ablegen, also müssen wir uns endlich beeilen." Die alte Frau wirkte verlegen und rang zögernd die Hände, bis sie endlich zu sprechen begann. „Hǎi, du weißt doch – ich hätte – dir helfen müssen – vergib' einer alten, dummen Frau – " „Was redet Ihr denn da, Meisterin?" erwiderte das Mädchen nach einer kurzen Pause und lächelte sanft. „Mir tut es leid, dass ich euch alle in Gefahr gebracht habe. Ich bin immer noch so gedankenlos – manchmal vergesse ich, dass ich nicht mehr zu Hause bin." Während sich die beiden Frauen verständnisinnig anlächelten und weiter über die Ladung der Línghún sprachen, fiel Káshira, der ganz in der Nähe gestanden hatte, Kiíchigo wieder ein. Hǎi hatte ihnen wieder etwas Geld geschenkt, um sich neue Kleider zu kaufen, und sie alle hatten davon Gebrauch gemacht, mit dem Ergebnis, dass das braunhaarige Mädchen wieder einmal zum Anbeißen hübsch aussah – diesmal würde ihm Hotáru nicht in die Quere kommen –

„Kií- chan." Seine Stimme hatte einen anziehend erotischen Unterton angenommen, der ihr beinahe den Atem raubte. „Äh... ja?" „Kií – du siehst einfach bezaubernd aus, weißt du das eigentlich? Wenn du möchtest, kann ich dir was zeigen – wird dich interessieren – " Sie schluckte und musste einen Moment überlegen, bevor sie ihm antworten konnte. „Du hast mich ziemlich gemein abserviert, schon vergessen? Glaubst du vielleicht, ich lasse mich so einfach von dir benutzen, als – als wäre ich ein Taschentuch oder so was?" „Ach. Sei doch nicht so nachtragend." Gelangweilt räkelte er sich und warf ihr einen undurchschaubaren Seitenblick zu. „Oder bist du so wie diese alten Vetteln, die einem jedes Wort jahrelang übel nehmen?" Seine Stimme wurde schmeichelnd, und er blickte schmollend unter seinen Lidern hervor. „So bist du doch nicht, oder?" Mit Schrecken fühlte Kiíchigo, wie sie langsam weich wurde und nachsichtig zu lächeln begann. „Also gut.", antwortete sie widerstrebend und schüttelte unwillig ihren Kopf. „Dann zeig' mir eben, was du da so Tolles hast – "

Eifrig zog er sie aus dem Haus und hinter einen breiten Brunnen, der in der Mitte des Innenhofes stand. Dort steckte er seine rechte Hand in die Tasche und zog einige kleine Gegenstände hervor, die Kiíchigo dazu veranlassten, erschrocken und peinlich berührt die Hände vor ihren Mund zu schlagen und aufgeregt zu kichern. „Du – die hast du von der Erde mitgenommen... ?" „Klar doch.", antwortete er lässig und grinste cool. „Ich gehe doch nie ohne meinem Notvorrat aus dem Haus – "

„Shíkū." Die Stimme des Majors klang grimmig und dennoch zufrieden, als er vor Mosar in die kleine Zelle trat. „Ich wusste, du würdest es schaffen – "

„Ich – ich habe mein Bestes gegeben, oh Herr – " stammelte der Junge und zuckte ängstlich zusammen, als sich ihm der junge Mann mit schnellem Schritt näherte. Vor ihm auf dem rohen Steinboden lag ein Haufen Teile aus Eisen und Bambusstücken, darunter der Prototyp einer Waffe auf einer Menge handgezeichneter Pläne. Die schwere Waffe wurde mit einem Feuerstein, der auf ihrer Oberseite befestigt war, gezündet und über der Schulter getragen. „Mehr – zu mehr bin ich nicht in der Lage, Herr – ich bin noch nicht weit genug – " Aói keuchte und zitterte heftig, was Mosar mit Sorge bemerkte. „Sākuru, wie lange habt Ihr ihn denn schuften lassen? Der Junge pfeift ja aus dem letzten Loch..." „Solange, wie es eben nötig war.", entgegnete der Major trocken und lächelte kühl. „Aber seht, was er geschaffen hat – kein Schwert der Welt kann diese Waffe aufwiegen – ich wies ihn an, eine nach dem Vorbild der Feuerrohre der Fremden zu machen – " Immer noch lächelnd packte er den Prototyp und legte ihn auf seine Schulter. Mosar beobachtete ihn stumm, ohne einen Muskel zu rühren; selbst als die Waffe unter ohrenbetäubendem Getöse und einem langen Feuerstrahl losging, bewegte sich in seinem Gesicht nicht einmal eine Wimper. „Nun, ist das dieses hochgepriesene Wunder?" meinte er ruhig, als Sākuru mit seiner Demonstration fertig war. Die Bleikugel hatte ein riesiges Loch in die Wand gerissen und die Wächter zu Tode erschreckt; sie alle waren schreiend aus dem Gebäude geflohen. Die Augen des Majors blitzten gefährlich, als er sich mit einem Ruck zu seinem Vorgesetzten umdrehte. „Oh ja, dies ist die Waffe, die diese Welt verändern wird. Wenn wir erst einmal mehr davon haben, wird nichts mehr so sein wie zuvor. Nun können wir Feinde aus der Entfernung bekämpfen – nicht nur die Saurier, sondern auch alle Provinzen, die uns feindlich gesonnen sind – " Er verstummte abrupt, als er die kühle Miene des Generals bemerkte. „Nun, so weit, so gut. Wie wirksam diese Waffe wirklich ist, wird sich zeigen. Zuallererst ordne ich an, dass in allen Eisenminen die Herstellung dieser Feuerrohre Priorität hat. Unsere Armee wird eine größere Anzahl davon benötigen, nicht wahr?" Dem verschreckten Jungen auf dem Boden schenkte er zunächst keinen Blick mehr, dann allerdings schien er sich wieder an ihn zu erinnern. „So, du bist also der dumme junge Mann, den man zu Tode verurteilt hat. Warum musstest du auch den Gesetzen dieses Landes zuwiderhandeln? An deinem Unglück bist du ganz alleine schuld." Aói wurde, ehe er sich's versah, von Mosar am Kragen gepackt und in eine kleine Nebenzelle geschleift, in der nichts außer einem Tisch und zwei Stühlen stand. In einen dieser Sessel drückte ihn der General jetzt und platzierte sich ihm gegenüber. Nach einigen Sekunden des Schweigens platzte der blauhaarige Junge ungeduldig heraus. „Was ist denn nun? Tötet ihr mich, oder soll ich weiter irgendwelche Waffen entwickeln – ich hab' diese Ungewissheit satt!" „Nicht so ungeduldig, junger Mann. Du erfährst dein weiteres Schicksal schon noch früh genug. Zuallererst will ich wissen, wohin die Fremden, diese Kinder, mit dem Schiff wollten. Wenn du kooperativ bist, werde ich mir vielleicht eine mildere Strafe überlegen." „Ich hab' keine Ahnung, wo die Fremden hinwollten! Die habe ich nur kurz gesehen – nur kurz – " „Du Lügner! Sie überlassen dir eine Waffe, und du behauptest frech, sie nur kurz gekannt zu haben? Wenn du nicht sofort mit der Wahrheit herausrückst, dann lasse ich dich auspeitschen! Oder – noch besser – " Mosar war aufgesprungen und langte nach hinten in seinen Gürtel. Mit schreckengeweiteten Augen erkannte Aói in dem langen, schmalen Gegenstand, den er hervorholte, die gefürchtete Peitsche des Generals.

„Heilerin Talingo! Heilerin Talingo!" Aufgeregt rannte der kleine, dunkelhäutige Junge über den Flur und stieß beinahe mit einigen anderen Heilern zusammen, die ihm böse Blicke hinterher warfen und ärgerlich zischten. Die junge Frau stand an einem der großen Fenster und musterte ihn mit kühler Gelassenheit. „Dengei, du sollst nicht so schreien. Und nicht laufen. Was ist denn so wichtig, dass du deine Manieren vergisst?" „Der Junge aus der Fremde hat schon wieder hohes Fieber! Und er wacht gar nicht mehr auf, was soll ich denn bloß tun, Heilerin?" „Warte, ich komme ja schon." Sie folgte ihm mit festem Schritt zu der kleinen Kammer, in der ihr ganz spezielles Sorgenkind lag.

Abgesehen davon, dass ihr der König mit sofortiger Exekution gedroht hatte, sollte dem Fremden etwas zustoßen, empfand sie es jedes Mal als beinahe persönliche Beleidigung, wenn einer ihrer Patienten starb. Die hatten nicht zu sterben, sondern gefälligst gesund zu werden, so wie es sich gehörte. Und der blonde Fremdling war ihr seit dem Tag seiner Ankunft ein steter Dorn im Auge, denn er bemühte sich kein bisschen, wieder zu Kräften zu kommen. Eher das Gegenteil; als würde er sich selber langsam immer mehr seiner eigenen Lebenskraft entziehen.

Hotáru lag schwer atmend auf den Laken und warf manchmal seinen Kopf unruhig hin und her, ohne aufzuwachen. Schweißtropfen perlten von seiner Stirn, obwohl das Gesicht eine leichenblasse Färbung angenommen hatte. Eilig entfernte Talingo den Verband um seinen Kopf, um die Wunde zu betrachten und sie wieder zu säubern, als er plötzlich nach ihrer Hand griff und einige unverständliche Worte flüsterte. Langsam beugte sie sich nach unten, um ihn besser zu verstehen, als er auch schon wieder in die Apathie versank und für die nächsten Stunden nicht mehr daraus erwachte.  

Als der Abend zu dämmern begann, war auch die Línghún startklar und die Mannschaft begann sich von den Pfadfindern zu verabschieden. Inázuma und Dāorèn hatten beschlossen, ihren geliebten Kapitän auf einer Art Hängesessel zwischen sich den Berg nach unten zu tragen, denn sie sollte sich noch schonen. Diese Maßnahmen riefen bei Hǎi einen halben Tobsuchtsanfall hervor, bis ihr Ráiu noch einmal ins Gewissen sprach und sie unter Widerwillen ihre Zustimmung gab. Als die drei endlich abgezogen waren, konnte man ihre wütenden Protestschreie noch eine ganze Weile nachhallen hören. Ihre alte Meisterin, die mit Huǒshān zurückgeblieben war, atmete auf und wischte sich erleichtert über die Stirn. „So, geschafft. Die brauchen jetzt zwar eine ganze Weile über den Berg hinunter, aber immer noch besser, als sie quält sich von selbst abwärts. Wenn wir Pech haben, dann entzündet sich die Wunde oder sonst was Schlimmes." Huǒshān nickte beifällig und heftete ihre großen Augen bewundernd auf die alte Frau. „Ihr könnt immer so gut mit ihr umgehen, nur Euch ist sie bereit zu gehorchen. Das ist eine Meisterleistung!" „Kein Wunder." Ráiu lachte trocken und hustete asthmatisch. „Immerhin kenne ich sie, seit sie sieben Jahre alt ist. Und sie mag zwar stur wie ein Rangi sein, aber in Sachen Vernunft brauchst du dir um Hǎi keine Sorgen zu machen. Im Grunde weiß sie ja selber ganz genau, was das Richtige ist, nur braucht sie zwischendurch einfach ein bisschen Widerspruch."

Langsam brachen auch die beiden Frauen auf und verabschiedeten sich noch einmal von Sachou und Kamomé, die als Letzte noch vor den Stadttoren zurückgeblieben waren. Káshira und Kiíchigo hatten sich auffällig schnell von den anderen getrennt und auf den Weg zurück in den Gasthof gemacht, und die restlichen Kinder hatten sich ebenfalls in alle Richtungen zerstreut. „Na dann, wir holen euch ja bald wieder ab. Das „Shuǐhú" ist für eine Woche bezahlt, also macht euch keine Sorgen. Hínan ist zwar langweilig, aber sonst ziemlich sicher, solche Angriffe wie gestern kommen eigentlich nicht allzu oft vor. Sollte es doch einmal der Fall sein, dann hört auf Shuǐhú, er ist zwar sonst nur ein dicker Sack mit heißer Luft, aber in solchen Situationen weiß er genau, wie man sich am besten zu verhalten hat." Kamomé lächelte ein bisschen und verneigte sich dankbar vor den beiden. „Wir haben es nur eurer Mannschaft zu verdanken, dass wir gestern mit dem Leben davon gekommen sind." Für einen kleinen Augenblick färbten sich ihre Wangen leicht rötlich, als sie Ráiu fest in die Augen sah. „Könntet Ihr Lady Hǎi vielleicht dafür danken, dass sie unseren Kameraden retten will? Es ist sehr – sehr selbstlos von ihr – " „Schon gut." Die alte Frau lächelte freundlich. „Ich werde es ausrichten."

Dann verschwanden auch die letzten beiden Mitglieder der Mannschaft, und die zwei Pfadfinder zogen sich wieder in den Schutz des großen Stadttores zurück. Die Allosaurier hatten zwar das massive Tor nicht aufbrechen können, dafür waren aber knapp daneben einige Palisaden morsch geworden. Das hatte ihnen den Weg in die Stadt geöffnet.

Nun konnte man einige der Stadtbewohner bei der hastigen Reparatur und Überprüfung des restlichen Walls beobachten. Kamomé und Sachou wanderten langsam in Richtung Gasthof zurück, als ihnen plötzlich Manua in großen Sprüngen und mit einem begeisterten Gesichtsausdruck entgegenkam. „Oh, ich habe eine gute Nachricht! Ich muß es einfach jemandem erzählen, sonst platze ich noch!" „Oh! Manua- san!" Sachou grinste begeistert und strahlte. Kamomé musterte ihn mit Abscheu und wandte sich mit angeekelter Miene ab. „Wie schön für dich. Was ist es denn?" fragte sie kühl und blickte Manua nicht gerade sehr freundlich an. Die schwarzhaarige Frau ließ sich dadurch allerdings ihre gute Laune nicht verderben. „Gerade habe ich erfahren, dass es in Shíyīng eine Gruppe von Rebellen gibt, die ursprünglich aus Sankhya stammen. Das ich so was erst jetzt erfahre! Nein, unglaublich! Wenn ich das gewusst hätte – dann wäre ich schon viel früher in der Lage gewesen, etwas gegen die Armee zu tun. Auf jeden Fall – " Sie lächelte glücklich und klatschte in die Hände. „Ich werde nach Shíyīng gehen, eine Gruppe Seefahrer nimmt mich freundlicherweise mit. Es tut mir leid, euch verlassen zu müssen, aber – ich möchte so unbedingt diese Ahimsa kennen lernen – versteht ihr das?" „Aber – Manua- san!" Sachou wirkte entsetzt. "Du willst uns schon verlassen? Aber – aber – ich dachte – " Kamomé glaubte im ersten Moment zu träumen, als sie etwas Helles in seinen Augen glitzern sah. „Na gut, Manua- san, dann wünschen wir dir viel Glück. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder – immerhin wird uns Lady Hǎi in einer Woche nach Uerū bringen, und da brauchen wir dich ja nicht mehr – viel Spaß noch." Kühl wandte sich das blauhaarige Mädchen ab und winkte Manua abschiednehmend zu. Sachou brauchte wesentlich länger, um das Gehörte zu verdauen. „Ja, aber – aber – " Er konnte es nicht fassen und musterte sie hilflos. „Aber wir brauchen doch deine Hilfe – deinen Rat – ohne dich wären wir niemals den Soldaten entkommen – " Kamomé zog ihn ärgerlich mit sich, während er noch dürftig stammelnd nach Worten suchte. „Komm schon, du Idiot." Im Davongehen drehte er sich noch einmal mit einem heftigen Ruck um. „Manua- san!" kam es kläglich. „Wann verlässt du uns denn?" „Ähm – " Sie wirkte leicht verlegen. „Morgen – morgen legt das Schiff ab. Es tut mir ja so leid – " Langsam wanderte sie hinter einer reservierten Kamomé und einem stark geknickten Sachou her, zwar etwas ernüchtert, aber immer noch begeistert. Ihr Traum ging in Erfüllung –

„Mmmh..." Káshira küsste Kiíchigo ungestüm und drückte sie fest in die Kissen. Die beiden waren auf schnellstem Weg in die Gaststätte zurückgekehrt und hatten sich in einem der Zimmer eingeschlossen. Aranámi war ja schließlich noch nicht da – und in dem Zimmer, in dem Kiíchigo nächtigte, schlief Tókui bereits tief und fest. Und nur Kamomé hatte ein Einzelzimmer, wie üblich. Sie hielt es mit anderen nicht aus, hatte sie sofort nach ihrer Ankunft in Hínan verlautbaren lassen. „Mach doch wenigstens das Fenster zu – mmmh..." Kiíchigo war überwältigt von seinen heftigen Liebkosungen, schämte sich aber doch noch ein bisschen. „Damit es wenigstens dunkel wird – " „Pah, du bist vielleicht anspruchsvoll. Soll ich sonst noch was machen, wenn ich schon stehe?" Er schnitt eine gelangweilte Grimasse und erhob sich widerwillig. Durch das große Fenster schimmerten zwar nur noch Spuren des gräulichen Tageslichtes, aber man konnte dennoch Konturen erkennen, und das störte das junge Mädchen gewaltig. Káshira zuckte im Geiste die Achseln und drehte sich gleichgültig wieder zu seiner Geliebten um. Kiíchigo musterte ihn aufgeregt und erwartungsvoll; er konnte nicht umhin, zu bemerken, wie niedlich sie heute aussah. Ja, es war wirklich praktisch, dass Aranámi so spät kam...

Káshira packte ihr Oberteil und zog es vorsichtig auseinander. Einer der Gründe, warum er so viele Freundinnen gehabt hatte, lag in seinem unbestrittenen Hang zu ausgedehnten Zärtlichkeiten, die den meisten Mädchen gefielen. Sanft küsste er ihren Hals und strich sinnlich über ihren Oberkörper, während Kiíchigo leicht erschauderte und sich fest in sein Yukata-Oberteil krallte. Behutsam öffnete er den Verschluss ihres Büstenhalters und stutzte für einen Moment.

„Ähm... Warum ist denn der Gummi so ausgeleiert – wolltest du mal ein Fluchtseil daraus bauen, oder was?" flüsterte er leise und kicherte. Das Mädchen errötete und lachte verlegen auf. „Nein, aber Moko hatte ihn an – du erinnerst dich vielleicht. Eure Maskerade bei den Räubern hat ihm nicht gut getan – " „Oh. Arme Kií." Káshira lächelte schelmisch und küsste sie heftig. „Mmmh... du bist wirklich wunder – wundervoll – " „Ja..." Kiíchigo keuchte und ließ sich sehnsüchtig in seine Arme sinken. „Ich habe schon so lange darauf gewartet – dass du – mir zeigst, dass du mich liebst – " „Kií- chan – du warst doch verlobt – ich konnte Suigín doch nicht hintergehen – " murmelte er sanft und küsste sie vorsichtig, während sich wieder einmal das Gesicht eines blonden Jungen vor sein inneres Auge schob. Verdammt. Schon wieder Hotáru. Mit Gewalt verdrängte er das Gesicht aus seinem Sinn und wandte sich wieder seiner Geliebten zu. Schön langsam begann er, sich ziemliche Sorgen um seinen Geisteszustand zu machen. Ob er vielleicht – vielleicht irgendeine Art Schaden von ihrer Reise in diese Welt davongetragen hatte? Es konnte nicht normal sein, dass er ständig Hotáru vor sich sah, wenn er mit Kiíchigo im Bett lag. Nein, das durfte nicht sein. Es konnte nicht sein. Etwas unsanfter als sonst packte er ihre Schultern und presste sie in die Kissen, während er unkonzentriert ihren Hals küsste. Langsam fiel es auch Kiíchigo auf, dass ihr Liebhaber nicht so ganz bei der Sache zu sein schien, wie es die Situation eigentlich verlangte. „Stimmt was nicht? Bist du – kannst du vielleicht nicht?" Káshira wurde vor lauter Schreck und verletztem Stolz kreidebleich. „Spinnst du? Klar kann ich! Ich kann immer!" Um seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, ließ er seine Hand langsam nach unten gleiten und brachte sie dazu, den Kopf leidenschaftlich nach hinten zu werfen und heftig an seinen Kleidern zu ziehen. „Das stört – zieh' doch endlich deine Sachen aus – " „Okay." Noch immer etwas eingeschnappt schälte er sich aus seinem Yukata und beugte sich, nur mehr in Unterwäsche, über das junge Mädchen. Langsam glitten ihre Kleider zu Boden und Káshira konnte seine Hosen nur noch durch schnellen Zugriff vor dem Fall bewahren. Auf ihren fragenden Blick hin grinste er verschmitzt und zog einen länglichen Gegenstand aus einer der Taschen. „Siehst du, Kií? Das brauchen wir doch..." „Dann nimm' gleich zwei Stück – " lächelte sie sanft und küsste ihn stürmisch, während sie ihm das kleine Päckchen aus der Hand fischte und vorsichtig öffnete. „Gut, dass du daran gedacht hast – "

Beide sanken auf den Futón zurück und küssten sich leidenschaftlich. Für Kiíchigo war es das erste Mal, und sie war dankbar, es mit einem so erfahrenen und hübschen Jungen, für den sie insgeheim schon immer geschwärmt hatte, erleben zu können. Káshira hatte inzwischen sein Gehirn weitgehend ausgeblendet und erinnerte sich dank der Heftigkeit seiner Leidenschaft  nur vage und wie durch einen Nebel daran, dass dieses Zimmer eigentlich Aranámi gehörte, und sie sich ziemlich beeilen mussten. Aber noch während er sich über seine Geliebte beugte und ihm ihr Stöhnen in den Ohren klang, vergaß er auch das und schloss die Augen. Jetzt gab es nur noch ihn und sie, niemand sonst hatte noch Bedeutung. Wie immer vergaß Káshira die Welt um sich herum und lebte nur für den Augenblick, nicht einmal für seine Geliebte, sondern nur für sich. Kiíchigo half ihm zwar bei der Erfüllung seiner Leidenschaft, sonst war auch sie ihm egal. In der Dunkelheit dieses Raumes gab es weder Zeit noch Platz für Gedanken oder Sorgen. Vage fühlte er die Decken des Futón unter sich und die Bewegungen seiner Geliebten.

Danach fühlte er sich allerdings ziemlich schlecht. Zwar wirkte Kiíchigo äußerst entspannt und zufrieden, doch als er ihr einen Kuß gab, wurde ihm beinahe übel. Nicht, weil sie etwa über Nacht hässlich oder abstoßend geworden wäre, sondern einfach nur, weil er sich ausgelaugt und furchtbar müde fühlte. Bis jetzt war es immer so gewesen; ständig litt er an ausgeprägten „Nachher-" Depressionen, die ihm für einige Zeit jegliche Lust raubten. In solchen Momenten begann er immer über sich selbst und sein Leben nachzudenken, und meistens kam nichts Gutes dabei heraus. Schon früher hatten seine Freundinnen diese Eigenart entweder belächelt, ignoriert oder „süß" gefunden. Kiíchigo machte da keine Ausnahme; nachdem er seine Pflicht getan hatte, kümmerte sie sich nicht mehr viel um ihn.

„Los, komm, wir müssen gehen. Es grenzt ja schon an ein Wunder, dass Aranámi noch nicht hier ist. Wenn wir Pech haben, dann klopft sie, kriegt keine Antwort und geht den Gastwirt holen. Und die Schande würde ich uns beiden gern ersparen." Káshira hievte sich müde aus dem Futón und suchte seine Kleider zusammen, gefolgt von einer gähnenden Kiíchigo, die ihm noch schnell einen herzhaften Kuß auf die Wange drückte. „Mmmh – vielen, vielen Dank, Káshira- chan. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass es so werden würde – du bist echt unglaublich. Ich – " Sie lächelte ihn mit schimmernden Augen an. „Ich liebe dich, weißt du? Ich – ich will für immer mit dir zusammen sein."

Als die beiden aus dem Zimmer schlichen, blickte Káshira misstrauisch den Gang auf und ab, um nicht zufällig von jemandem gesehen zu werden. Offensichtlich war die Luft rein, also huschten sie gemeinsam über den Gang ihren eigenen Zimmern zu. Keiner von ihnen bemerkte Kamomé, die gerade um die Ecke bog, als sich zwei Türen unter leisen Klappern schlossen.

Das erste, dass ihr in ihrem Zimmer auffiel, waren die offenen Fenster und ein schwacher, undefinierbarer Geruch, den sie zuerst auf die Küche schob. Dann allerdings bemerkte sie den eigenartigen Zustand ihres Futón, der äußerst laienhaft aufgebettet schien, und, wie der Zufall so wollte, einen kleinen Fetzen einer garantiert nicht von Noa stammenden Verpackung. Ihre Stirn runzelte sich ärgerlich, als sie sich die Lage der Zimmer vor ihr inneres Auge holte und über die Bewohner der Doppelzimmer nachdachte. Zwei Türen hatten sich verstohlen geschlossen; und wenn sie nicht alles täuschte, dann die von Chujitsu und Tókui. Oder Káshira und Kiíchigo, führte sie im Gedanken grimmig fort. Diese Verfluchten. Jetzt konnte sie Schlaf vergessen; auf diesem Bett funktionierte es garantiert nicht mehr...

„He, Gastwirt! Ich möchte gern einen frischen Futón, wenn's möglich ist. Auf diesem – da kann ich nicht schlafen, er ist schmutzig." Kamomé war nach unten gewandert und hatte einen ziemlich schlaftrunkenen Shuǐhú auf dem Weg nach draußen abgefangen. Er hob müde seine Augenlider und gähnte. „Ich rufe gleich einen Diener, der kann Euch dann weiterhelfen, werte Dame. Es ist schon recht spät, und meine Frau kümmert sich in der Ausschank um die Gäste – " „Danke.", antwortete Kamomé kühl und wartete solange, bis er widerwillig eine kleine Glocke zog und ein junger Diener erschien, der ihr auf das Zimmer folgte und den Futón auswechselte. Dann konnte endlich auch sie schlafen.

Nach einer Nacht, die viel zu kurz schien, wurden sie alle von eifrigen Dienern geweckt und schlichen müde nach unten, um zu frühstücken. Manua hatte bereits gepackt und wollte sie gleich nach dem Essen verlassen, ein Umstand, der bei Sachou keine rechte Freude aufkommen lassen wollte. Ja, klar, es war schon gut, dass sie sich einen Traum erfüllen konnte und diese Rebellen traf, aber andererseits – es war hart für ihn, seine Traumfrau so schnell zu verlieren.

Kiíchigo war etwas enttäuscht, dass sich Káshira kaum um sie kümmerte und auch sonst recht kühl erschien. Ob ihm wohl etwas fehlte? Ehrlich gesagt fühlte sie sich nicht so ganz wohl, wenn sie an die letzte Nacht dachte, auch wenn es nicht einfach war, sich das einzugestehen. Immerhin liebte sie Káshira doch viel, viel mehr als Hotáru – der hatte ihr nie wirklich etwas bedeutet. Und jetzt – sie hatte ihre Verlobung gelöst und ihre eigenen Grenzen überwunden – aber warum beachtete er sie nicht? Kiíchigo war völlig ratlos und achtete kaum auf ihre Umwelt. Kamomé dagegen beobachtete die beiden mit messerscharfem Blick und ballte unter dem Tisch die Fäuste. „Sagt mal... es war doch keiner von euch in meinem Zimmer letzte Nacht, oder? Ich meine, ihr würdet es mir doch sagen, oder?" „Ähm... was meinst du denn, Aranámi? Nein, keine Ahnung, wer da in deinem Zimmer war, von uns war es jedenfalls keiner." Einstimmig schüttelten alle ihre Köpfe, inklusive natürlich der beiden Turteltauben. Natürlich bemerkte Kamomé das leichte Erröten des braunhaarigen Mädchens und dass Káshira nahezu unmerklich mit den Füßen scharrte. Ihre Augen verengten sich leicht, und sie durchbohrte die beiden mit nadelspitzen Blicken, gepaart mit äußerst unfreundlichen Gedanken. So, so. Niemand hatte sich also in ihrem Zimmer aufgehalten, hmm?

Das würden sie noch bereuen. Äußerlich völlig ruhig und ungerührt schüttelte sie ihr Haar nach hinten und lächelte kalt. „Ach, Tsutsumí – sollten wir Suigín wieder finden, was wirst du dann tun? Eure Verlobung erneuern? Es wird ihm ziemlich schlecht gehen, nicht wahr? Dann musst du ihn doch trösten – das kannst du doch, was, Tsutsumí?" In ihrer Stimme klang ein ausgesprochen boshafter Unterton mit, der alle außer Kiíchigo und Káshira hellhörig werden ließ. Heute sollte man Kamomé lieber nicht mehr reizen –

„Ach – Hotáru – " ließ Kiíchigo unschlüssig hören und wickelte abwesend eine Haarsträhne um ihren Finger. „Er hat doch die Verlobung gelöst – da wird er nicht mehr viel Lust haben, sie wieder zu erneuern – " „Mmmh... Suigín braucht doch sicher keinen Trost. Er will das doch gar nicht – viel zu introvertiert – " Auch Káshira blickte unschuldig in die Luft und pfiff leise vor sich hin. Warum Aranámi gerade jetzt davon anfangen musste –

Glücklicherweise wurden die Kinder in diesem Augenblick von einem der Diener des „Shuǐhú" unterbrochen, der Manua einen kleinen Zettel überbrachte. Nachdem sie ihn gelesen hatte, sprang die junge Frau hektisch auf und packte ihre Bündel. „In vier Stunden legt das Schiff ab, ich muß mich beeilen! Also dann..." Jedes Mitglied der Pfadfindergruppe sprang auf, um sich von ihrer Begleiterin, an die sich eigentlich schon jeder richtig gewöhnt hatte, zu verabschieden und ihr viel Glück bei ihrer Suche zu wünschen. Selbst die unterkühlte Kamomé rang sich zu einem halbwegs freundlichen Lächeln durch und verbeugte sich vor Manua. „Na, dann..." Das schwarzhaarige Mädchen drehte sich noch einmal zu einem zutiefst deprimierten Sachou um, der sie traurig musterte. „Wir sehen uns ganz sicher bald wieder..."

Die Kinder gaben ihr noch das Ehrengeleit zum Stadttor, dahinter verabschiedeten sie sich zum zweiten Mal, dann war Manua schließlich endgültig hinter einer Biegung des schmalen Weges verschwunden. Leise aufseufzend machten sich alle wieder auf den Weg zurück in den Gasthof, um nun dort eine Woche auf Hǎi zu warten. Aber dann – dann würden sie nach Uerū zu dem Mann kommen, der sich angeblich mit Technik auskannte, und der sie nach Hause schicken würde – Ach ja, und Hotáru würden sie auch noch retten. Alles zu seiner Zeit.

„Ihr habt den Jungen ja ganz schön eingeschüchtert" meinte Major Sākuru grinsend, als er und Mosar vor einer kleinen Zelle standen, in der sich Shíkū Aói zur Zeit aufhielt. Der wütende General hatte ihn, nachdem er die Fremden nicht verraten hatte, in den Kerker geschleift und an beiden Handgelenken aufhängen lassen. Dann hatte er ihn seine Peitsche solange spüren lassen, bis Aói, aus unzähligen Wunden blutend, ohnmächtig geworden war und nun reglos von der Zellendecke baumelte. „Ähm... sollten wir ihn nicht langsam herunternehmen? Er hängt ja jetzt schon ziemlich lange dort oben – " Leutnant Makhíi stand händeringend und nervös hinter seinen beiden Vorgesetzten, die ihn zuerst herablassend musterten und dann hoheitsvoll nickten. „Nun gut – das übernehmt Ihr, Leutnant. Immerhin musstet Ihr euch die letzten Tage mit ihm herumschlagen – " Die beiden Offiziere entfernten sich lachend, während Makhíi seufzend in die Zelle trat, um den Verräter von seinen Fesseln zu befreien und vorsichtig auf die steinerne Pritsche zu legen. Wenn dieser Junge starb, dann konnte keiner mehr Waffen bauen – und dann würde er die Vorwürfe seiner Vorgesetzten zu hören und vor allem zu spüren bekommen. Die Peitsche lag nämlich sehr locker in General Mosars Händen.

„Hört man Neuigkeiten von Matandua? Wie ich hörte, ist sein Schiff planmäßig ausgelaufen, er dürfte sich ja bald auf Ròushíyú befinden." In der kühlen Stimme des Majors schwang ein leichter Unterton mit, der Mosar nicht so recht gefallen wollte. „Ja, ganz recht.", gab er daher schärfer als nötig zurück und schritt heftiger aus als zuvor. Natürlich merkte Sākuru seinen Ärger sofort und lächelte wieder spöttisch. Er konnte den Hauptmann eben nicht leiden...

„Eine Nachricht für Euch, General." Einer der Soldaten eilte auf die beiden Männer zu und überreichte Mosar nach einer respektvollen Verbeugung eine Schriftrolle. Sākuru beobachtete ihn vorgeblich desinteressiert, war aber doch froh, als der General langsam, mehr zu sich selbst, zu sprechen begann. 

„Matandua ist auf Ròushíyú gelandet und hat vom Hafenwärter erfahren, dass Hǎi dort angelegt hatte. Inzwischen ist sie allerdings schon wieder weitergezogen; sie haben sich nur knapp verpasst. Er will dennoch nach Hínan gehen und dort Weiteres erfahren." „Schön." Sākuru verbiss sich nur mit Mühe einen giftigen Kommentar und schüttelte sich vor lauter unterdrücktem Ärger, was Mosar zu einem hastig erstickten Kicheranfall führte. Das musste er unbedingt Yamanéko erzählen, wenn er wieder zu Hause war...

„Verdammt!" Matandua hatte für eine Sekunde nicht auf den engen, steilen Bergpfad geachtet und musste seinen Reitsaurier nun mit aller Gewalt wieder auf den richtigen Weg zurückzwingen. Der Rest seiner Männer warf ihm zwar kurz erstaunte Blicke zu, das Interesse flaute aber beinahe sofort ab und die Soldaten kümmerten sich wieder diszipliniert um ihre eigenen Tiere. Der Weg nach Hínan war hart und beschwerlich; vor einer Weile waren sie einer Gruppe Seeleute begegnet, die es sehr eilig gehabt hatten, ihr Schiff zu erreichen. Matandua schämte sich zwar ein wenig, weil er sie nicht richtig kontrolliert hatte, aber nach einer Stunde diesen Pass hinauf waren seine Kräfte und die der Kompanie ziemlich strapaziert. Die Gruppe war allerdings nur ziemlich klein gewesen und hätte den Fremden niemals genügend Platz bieten können.

„Wir haben es gleich geschafft, Hauptmann. Es ist nicht mehr weit – nur noch eine halbe Stunde oder weniger. Dann können wir uns bei Shuǐhú einquartieren." Ein älterer Soldat hatte sich knapp hinter ihn platziert und warf ihm ein paar aufmunternde Worte zu. Er war in Hínan geboren und aufgewachsen und auf ihn war bei solchen Prognosen auf jeden Fall Verlaß. „Danke. Eine Pause haben wir alle dringend nötig." Matandua schüttelte sich, als er an die beschwerliche Schiffsreise dachte. Die Armee hatte ihm ein ziemlich heruntergekommenes Fahrzeug zur Verfügung gestellt, mit einem mehr als nachlässigen Kapitän, der das Schiff völlig heruntergewirtschaftet hatte. Es war furchtbar schmutzig und langsam gewesen; wenn er an manche anderen Schiffe dachte – nein, lieber nicht, sonst ekelte er sich noch im nachhinein –   „Endlich!" Vor ihnen erhob sich nach einem steilen Wegstück der rund um die Stadt reichende Schutzwall aus Palisadenstämmen. „Wir sind da!" Die Soldaten jubelten verhalten und wirkten nun gelöster als auf der gesamten Schiffahrt hierher.

Während Matandua durch das Stadttor einritt, hatte er Zeit genug, um den erst kürzlich errichteten Teil der Palisadenmauer und die Scheiterhaufen etwas außerhalb zu bemerken. Hínan war dafür berühmt, ausgesprochen sicher gegen Saurierüberfälle zu sein; manchmal aber passierte eben doch ein Unglück. Die gedämpfte, stille Atmosphäre über der Stadt sprach ebenfalls Bände.

Als die Soldaten in den Vorhof des Gasthauses einritten, um ihre Tiere einstellen zu lassen, bemerkte der Hauptmann aus dem Augenwinkel, wie eine schwerfällige, dickliche Gestalt hinter den Fenstern von Raum zu Raum eilte; offensichtlich war etwas geschehen...

„Schnell, kommt! Ihr müsst fliehen! Der Hauptmann und seine Soldaten stehen in meinem Hof! Wenn ihr euch beeilt, dann könnt ihr es vielleicht noch schaffen! Hǎi wird mich töten, wenn sie davon erfährt!" Shuǐhú war so schnell er konnte durch das halbe Haus gerannt und stand nun schwer atmend vor den Pfadfindern, die zufällig einmal vollzählig im Speiseraum saßen. Ein Diener hatte ihnen gerade eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken gebracht; nun hoben alle alarmiert die Köpfe. „Wo sollen wir denn hin? Hat dein Haus einen Fluchtweg?"

„Äh – ähm, nun ja..." Shuǐhú wurde unsicher und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Sicher hat es einen Fluchtweg, aber der führt eigentlich nirgendwohin – er ist für den Schutz gegen Saurierangriffe gedacht, und daher – ach, du liebe Güte – " Er rang verzweifelt die Hände und zitterte. Hǎi hatte ihm aufgetragen, sich um die Gäste zu kümmern und ihnen zu helfen, falls solch eine Notlage eintrat – aber natürlich hatte er nie wirklich damit gerechnet –

„Es ist schon zu spät. Die Soldaten kommen." Kagamí hatte sich äußerlich völlig gefasst aufgerichtet und nahm Sénsō fest in den Arm. „Das Beste, dass wir jetzt tun können, ist, uns zu stellen."

Auch Káshira erhob sich, zwar bleich bis auf die Lippen, aber ohne ein Zittern in der Stimme hören zu lassen. „Ja, es bleibt uns nichts anderes übrig. Also bringen wir es wenigstens einigermaßen würdevoll hinter uns. Die Soldaten müssen sich ja nicht gleich darüber lustig machen, dass wir zu blöd waren, um rechtzeitig zu fliehen."

Kurz, nachdem er die Worte ausgesprochen hatte, öffnete sich die Tür und Matandua trat leise ein. Was er sah, erstaunte ihn kaum; eigentlich hatte er beinahe damit gerechnet. Hǎi hatte immerhin Aufträge zu erfüllen; es war ihr keine andere Wahl geblieben, als die Kinder auf Ròushíyú zu lassen und selbst weiter zu reisen. Trotz allem Ärger, den ihm diese Fremden eingebrockt hatten, fühlte er eine gewisse Hochachtung für sie; sich nahezu völlig allein so lange in einem fremden Land zu verbergen, war keine kleine Leistung.

„Hauptmann Matandua! I – Ich... diese Kinder, sie wurden in mein Gasthaus – Lady Hǎi hat sie – hierher – " stammelte der Gastwirt außer sich und verstummte dankbar auf den Wink des Offiziers hin. „Es ist schon gut. Mit dir befasse ich mich später. Du kannst gehen." „Oh, ich – ja, natürlich..." Schon war Shuǐhú verschwunden und zog die Tür hinter sich zu.

Leise aufseufzend wandte sich der Hauptmann wieder den Pfadfindern zu und musterte sie aufmerksam. Nun hatten sich alle erhoben und blickten ihm mit einer Mischung aus Angst, Trotz und Ärger entgegen, die ihn kaum überraschte. Sie waren ziemlich weit gekommen, und nun –  Sachou fühlte sich als Ältester der Gruppe bemüßigt, etwas zu sagen, wurde aber von Matandua sofort eingebremst. „Shh, bitte. Ich möchte keine Ausreden, Erklärungen oder Sonstiges in der Art hören. Zu allererst möchte ich wissen, wo sich Samadhi Manua aufhält. Sie hat Hochverrat gegen die Krone begangen, und darauf steht die Todesstrafe." Die Kinder sahen sich für einen Moment stumm an, dann begann Kamomé kühl. „Manua ist nicht mehr bei uns. Vor einigen Stunden hat sie uns verlassen, um irgendwohin zu fahren – genau wusste sie das selbst nicht." „So, so." Matandua lächelte leicht und neigte sanft den Kopf. „Wir werden sie schon finden. Samadhi ist im Moment auch nicht so wichtig. Ich bin wirklich froh, dass ich euch endlich gefunden habe." „Wie schön für Euch.", ätzte Káshira gehässig. „Dann bekommt Ihr wenigstens keinen Ärger mehr mit dem General, was?" „Ganz recht." Der dunkelhäutige Mann lächelte wieder und blickte dem Jungen geradewegs in die Augen. „Ihr habt der ganzen Armee ziemlich viel Arbeit bereitet – seid bloß froh, dass ihr nicht dem Hohenpriester in die Hände gefallen seid. Ständig versucht er, euren Freund auszuquetschen, wenn der nicht ständig – " „Hotáru? Meinen Sie damit Hotáru?" meinte Kamomé, urplötzlich aufmerksam geworden. „Wenn das sein Name ist... ja. Natürlich. Er ist der Einzige von euch, den wir bereits fangen konnten." „Ja, und vorher habt ihr ihn noch ordentlich verstümmelt, was?" mischte sich Watarí heftig ein. „Euer wunderbarer General ist so was von – von – " Atemlos rang er nach Worten und konnte nicht mehr weitersprechen. Matandua musterte ihn mit einem unergründlichen Blick. „Es war nicht sein Messer, dass euren Freund getroffen hat. Und er wollte niemals, dass euch etwas passiert. Darum möchte er auch verhindern, dass ihr dem Hohenpriester und seinen Schergen in die Hände fällt..." „Ausreden.", mischte sich Kitsuné nahezu tonlos ein, doch die Emotionen, die in dieser Stimme lagen, brachten selbst den abgebrühten Hauptmann leicht zum Schaudern. In diesen Augen lag ein zwingender, verzweifelter Blick – Wäre er nur älter, dachte Matandua, und hätte er eine Waffe, ich würde mich nicht in seine Nähe wagen –

„Es hilft alles nichts," meinte er laut und erhob sich, während er den Blick des kleinen Jungen tunlichst vermied. „Wir ziehen sofort los. Jetzt, wo ich euch endlich habe, gehe ich nicht mehr das Risiko ein, meine wertvolle Beute zu verlieren. Geht jetzt und packt eure Sachen. Der Gasthof ist umstellt, eine Flucht wäre also ziemlich sinnlos, überzeugt euch selbst. Ich gebe euch eine Stunde, dann gehen wir."

Damit war alles gesagt. Widerstrebend erhoben sich die Pfadfinder und schlurften müde und mit dem bohrenden Gefühl der Verzweiflung auf ihre Zimmer, um die kärglichen Bestandteile ihrer Garderobe und sonstigen Ausrüstung zusammenzupacken. Sie waren schon so weit gekommen. Und nun scheiterten sie nur eine Woche vor ihrem Ziel.

In Káshira's Kopf rasten Tausende von Fluchtplänen durcheinander, einer unwahrscheinlicher und utopischer als der andere. Wie man es auch drehte und wand – sie saßen fest. Oder, besser gesagt, in der Falle.

Nach einer Stunde folgten sie den Soldaten, denen inzwischen von Shuǐhú eine ordentliche Mahlzeit auf den Tisch gebracht worden war, den Berg wieder hinunter. Die erschöpften Camptosaurier der Armee waren gegen frische Tiere der Stadt ausgetauscht worden. Aus diesem Grund konnten es sich die Soldaten leisten, die immer müder und unwilliger werdenden Kinder kräftig auszulachen, was Matandua allerdings bald unterband. Er ritt neben Káshira her und neigte sich leicht zu ihm hinunter; sein Gesicht war ernst und nachdenklich.

„General Mosar lässt niemanden schlecht behandeln. Ihr solltet ihn nur nicht reizen oder wieder zu fliehen versuchen – er ist hartnäckig und gibt niemals auf. Glaubt mir, auf dem Königshof ist es sehr angenehm, dort befindet sich auch euer Freund." Káshira antwortete zunächst nicht, sondern starrte nur stumm vor sich hin. Dann hob er ruckartig den Kopf. „Was sollen wir überhaupt auf dem Königshof? Das ist doch total lächerlich. Der König wird uns nicht brauchen; warum lässt er uns nicht einfach tun, was wir für richtig halten? Das kann ihm doch egal sein – "

„Ihr seid fremd, und daher mit den Gesetzen unseres Landes nicht vertraut. Technik, also alles, was ihr hier besitzt, euer seltsames Boot und das Gefährt, ebenso die Waffen – das ist strengstens verboten. Wer damit in Berührung kommt, wird üblicherweise hingerichtet. Da fällt mir ein – wo befindet sich euer seltsames Fahrzeug überhaupt?"  

„Keine Ahnung.", maulte Káshira unwillig zurück und zog eine trotzige Grimasse, die Matandua allerdings wider Erwarten ohne jeden Kommentar hinnahm und schweigend weiterritt. Der braunhaarige Junge blickte ihm besorgt nach und biss sich nachdenklich in die Unterlippe. Der Wagen war in Hǎi's Schiff geblieben; auf Ròushíyú hätten sie ohnehin nichts damit anfangen können. Nun war er unglaublich dankbar dafür; die Soldaten hätten ihn ja doch nur konfisziert und mitgenommen. Und vermutlich auseinandergebaut oder sonst was, da hatte er ja schon genug Erfahrung in Sachen Aói. Hoffentlich hatte der sein Gewehr auch wirklich ordnungsgemäß wieder zusammengefügt...

Nach stundenlangem Abstieg erreichten Pfadfinder und Soldaten endlich den Hafen der Insel und steuerten auf ein großes Schiff zu, das dort vor Anker lag. Die Kleinen flüsterten eifrig miteinander und kamen einstimmig zu dem Schluss, dass es zwar größer war als die Línghún, aber auch um einiges hässlicher. Augenscheinlich regierte hier nicht die erbarmungslose Sauberkeit, die auf dem Schiff des Mädchens herrschte; eher das Gegenteil.

Der alte Hafenmeister war nirgends zu sehen; anscheinend hatte er sich vor den Soldaten, die ihn wegen den Fremden sicherlich unangenehm befragt hatten, zurückgezogen. 

Matandua führte sie zielstrebig zur Einstiegsluke der Dschunke und sprach kurz mit dem Kapitän, der langsam im Eingang erschienen war und sie alle mit undurchschaubarer Miene musterte. Dann winkte er lässig und verschwand wieder im Schiffsbauch. Tókui zitterte leicht und schnaubte. „Uh, so ein ekliger Kerl. Von dem haben wir jedenfalls keine Hilfe zu erwarten, wir sitzen fest. Das gefällt mir ganz und gar nicht." „Und Hǎi ist nicht da, die hätte uns vielleicht helfen können.", fügte Sachou, ebenfalls angeekelt und besorgt, hinzu. „Elendes Pech. Wären wir doch nur mit ihr mitgegangen – " „Sie konnte uns nicht brauchen, das weißt du doch!" fuhr ihn Kamomé plötzlich mit leiser, scharfer Stimme an. „Hör doch endlich auf, wie ein Baby zu heulen! Davon wird es auch nicht besser!" „Schrei' ihn doch nicht so an! Sachou- kun wollte doch nur – " „Halt du den Mund, ja, Tsutsumí? Wenn ich was Dummes von dir hören will, dann frage ich!" „Ja, spinnt ihr denn beide? Was soll denn das?" mischte sich Moko mit ruhiger Stimme ein und brachte so die zwei wütenden Mädchen zum Schweigen. „Wir haben jetzt wirklich ärgere Probleme als das, okay? Irgendwie müssen wir verhindern, dass wir der Armee in die Hände fallen!" Schlagartig ernüchtert verstummten alle und vermieden es, sich gegenseitig in die Augen zu sehen, während die Soldaten ihre Gefangenen weiter in Richtung Schiff führten, bis sie alle im Rumpf verschwunden waren.