29. Kapitel

Abschied

„Oh, verdammt. Jetzt sitzen wir schon seit zwei Tagen in diesem vermaledeiten Schiff fest, kommen morgen oder schon heute an, und kommen nicht weg! Es ist zum Auswachsen!"

Káshira wanderte wie ein Raubtier hinter Gittern in dem kleinen Raum unter Deck, in den sie Matandua gesteckt hatte, hin und her. Die anderen Kinder beobachteten ihn stumm, ohne weiter auf seinen Monolog einzugehen. Lediglich Kiíchigo lächelte ihm für einen kurzen Moment aufmunternd zu.

„Was wird denn der General mit uns machen? Wohin bringt er uns?" wagte Haná schüchtern zu fragen, während große Tränen in ihren Augen standen. Sie hatte Angst...

Ehe Káshira oder irgendein anderer darauf antworten konnte, öffnete sich die Tür und einer der Seeleute trat ein, belanden mit einem Tablett voll Schüsseln und Gläsern. Hinter ihm war noch ein kleiner Schiffsjunge zu sehen, der ähnlich vollbepackt war und alles mit einem leisen Aufseufzen auf den niederen Tisch in der Mitte des Raumes abstellte. Naserümpfend starrten die Pfadfinder auf die undefinierbare Brühe, die vor ihnen in den Näpfen schwappte. Noch nie hatten sie so ekelhaftes Essen gesehen –  „Na los, jetzt esst endlich! Wollt ihr die Suppe etwa kalt werden lassen? Sonst kriegt ihr gar nichts mehr!" polterte der schmierige Seemann, dessen fauliger Atem den Kindern Übelkeit brachte und sie erschaudern ließ. „Seid bloß froh, dass ihr unter dem Schutz des Hauptmanns steht! Sonst würden wir hier andere Saiten aufziehen, klar?" Unter höhnischem Lachen entfernte er sich schließlich, während der Schiffsjunge leicht verlegen grinste und ebenfalls aus dem kleinen Zimmer verschwand. Kurz darauf trat Matandua durch die niedere Tür und betrachtete sie alle der Reihe nach mit ernstem Gesicht. „Heute abend kommen wir in Casava an, dort treffen wir auf General Mosar. Wenn ich euch einen Rat geben darf – unterlasst es lieber, frech zu ihm zu sein, sonst werdet ihr es bereuen. Der General kennt keinen Spaß, und er hat schon viel Zeit mit der Jagd nach euch verloren!" „Na und? Das ist doch wohl nicht unser Problem, oder? Er ist General, das ist schließlich seine Aufgabe, oder nicht? So was Blödes!" zischte Káshira ärgerlich und warf trotzig den Kopf nach hinten. Der Hauptmann lächelte kurz und wurde dann wieder ernst. „Schön, wenn das eure Meinung ist – gut. Aber ich möchte euch trotzdem zur Vorsicht raten – sonst werdet ihr euer blaues Wunder erleben." Mit einer kleinen, spöttischen Verneigung trat er rückwärts wieder auf den schmalen Gang zurück und nur noch der Klang seiner eiligen Schritte war noch für kurze Zeit zu hören.

„Na toll." Káshira war wütend und knallte seinen Essensnapf brutal auf den Tisch zurück. „Verdammt! Oh, Verdammt! Warum mussten sie uns nur schnappen? So ein elendes Pech!" Sachou bemühte sich, ihn etwas zu beruhigen. „Hey, jetzt komm' schon... das kann man jetzt auch nicht mehr ändern, so oder so. Finden wir uns damit ab..." „Ich hab' aber keine Lust, verdammt! Das ist so was von – von – Ach, ich weiß nicht – " Vor lauter Wut konnte er nicht mehr weitersprechen und schüttelte nur noch erbittert den Kopf, bis eine leise, vor Empörung zitternde Stimme erklang. „Ach, so ist das also. Hätte ich mir ja denken können." Kitsuné stellte seine Schüssel mit einem leisen, fast vorwurfsvoll klickendem Geräusch auf den Tisch und erhob sich langsam. Sein blasses Gesicht glühte vor Zorn. „Ich wollte es ja schon seit langem sagen – Ihr solltet euch alle schämen, dass ihr es nur wisst! Es ist ekelhaft, ihr seid so was von charakterlos, das gibt's nicht! Denkt auch nur einer von euch an Hotáru?" Plötzlich und ohne dass er es gewollt hätte, stiegen bittere Tränen in seine Augen. „Er ist immerhin mein Bruder, klar? Und ihr – ihr denkt nie an ihn, er könnte tot sein, verflucht! Und er ist der einzige Bruder, den ich habe, und ich – " Die Bitterkeit schnürte seinen Hals erbarmungslos zu, und er war nicht mehr in der Lage, weiterzusprechen. Weinend rannte er aus dem Zimmer.

Für einen Moment herrschte Stille; die zurückgebliebenen Kinder sahen sich betreten in die Augen. Besonders Kiíchigo und Káshira fühlten sich nicht allzu wohl; immerhin traf auch sie ein Teil der Schuld –

Watarí folgte dem kleinen Jungen eilig und holte ihn nach wenigen Metern ein. Kitsuné hatte sich an die Wand gelehnt und ließ die Tränen einfach laufen; jetzt war ihm alles egal. Er hatte ja gewusst, dass Hotáru nicht sehr beliebt war, aber das sie so reagieren würden – sein Bruder hatte ihm das Leben gerettet, war das denn völlig egal?

„Kitsuné- kun, was soll denn das. Káshira hat das doch nicht so gemeint.", flüsterte Watarí sanft und drehte den Kleinen an den Schultern zu sich herum. „Hotáru wird es gut gehen, du wirst sehen, in ein paar Tagen treffen wir ihn schon – " „Das ist doch nicht der Punkt! Keiner will ihn sehen, keiner macht sich Sorgen! Dabei ist er nur wegen mir verletzt worden, ich bin an allem schuld! Wenn ich nicht da wäre – wenn es mich gar nicht geben würde, dann – "

„So was darfst du nicht sagen! Das ist nicht wahr! Ich zum Beispiel bin froh, dass es dir gut geht und du hier bist. Ich mag dich nämlich, du Dummkopf – " meinte Watarí streng und wischte ihm eine Träne aus dem Augenwinkel. „Aber – eigentlich wollten weder er noch ich auf diesen blöden Ausflug mit – wenn wir doch nie in dieses Schiff gestiegen wären! Dann –"

„Jetzt ist es zu spät für Vorwürfe und so was, okay? Shh, still sein." Zärtlich nahm er Kitsuné in den Arm und wiegte ihn sanft hin und her, bis sich der Kleine ein wenig beruhigt hatte. „Komm schon, das stehen wir auf jeden Fall durch! Hotáru gibt nicht so einfach auf!" äußerte Watarí noch und nickte bekräftigend, obwohl er sich selbst nicht glaubte. Hotáru und kämpfen – war ja noch nie vorgekommen.

Noch bevor Kitsuné etwas erwidern konnte, eilte der kleine Schiffsjunge durch den langen Gang auf sie zu und winkte heftig. „Los, ihr sollt schon mal anfangen, eure Sachen zusammen zu suchen, der Wind ist so günstig, dass wir in weniger als einer Stunde in Casava vor Anker gehen werden! Der Kapitän wünscht, dass wir wegen euch nicht noch mehr Zeit verlieren!" Ohne ihre Antwort abzuwarten, öffnete der Junge die Tür und trompetete seine Botschaft lauthals in das kleine Zimmer. Die Pfadfinder knurrten etwas Undefinierbares und erhoben sich stöhnend, um ihre Seesäcke zusammenzusuchen. Vielleicht gab es ja in der Hafenstadt die Möglichkeit zur Flucht... obwohl sie Hotáru nun wirklich suchen mussten. An ihn hatten sie ja schon gar nicht mehr gedacht –

Die Stunde verging schnell, bald legte die Dschunke an und ließ die Gefangenen von Bord, wo sie von einem düster – erfreuten Mosar und einem unterkühlt reservierten Sākuru empfangen wurden. „Gute Arbeit, Hauptmann. Ich bin stolz, Euch unter meinem Befehl zu haben, Ihr seid ein guter Soldat – " Der Major musste heftig schlucken, als er dieses Lob aus dem Mund seines Vorgesetzten hörte. Matandua war doch ein Idiot; er hatte nur Glück gehabt, diese Kinder waren ihm buchstäblich in die Arme gelaufen, er brauchte kein Lob. Mosar war so –

„Major! Ihr seid mit den Gedanken auch nicht hier, nicht wahr? Was ist denn heute los mit Euch?" Sākuru erschrak und zuckte heftig zusammen. „Natürlich bin ich mit den Gedanken hier. Schließlich hat Hauptmann Matandua einen großen Fang gemacht, da sind wir doch alle stolz – " „Eifersüchtig, Major? Nun ja, ich denke über eine Beförderung nach – " grinste Mosar kalt und zwinkerte boshaft, was Sākuru noch mehr in Rage brachte. „Ja, ja, der Hauptmann – toll..."

Die Pfadfinder fühlten sich alles andere als wohl, als sie den zufrieden grinsenden General an der Anlegebrücke stehen und auf sie warten sahen. Er hatte sein Ziel erreicht und würde sie jetzt an den König oder den Hohenpriester ausliefern – wie er es schon mit Hotáru getan hatte, der Himmel wusste, was die mit ihm angestellt hatten – ob er überhaupt noch lebte –

Flankiert von Soldaten und den Offizieren wurden die Vierzehn von Mosar durch die Stadt und überraschenderweise ins „Katatsúmuri" geführt, wo sie der Gastwirt schon am ganzen Körper zitternd erwartete. „Oh, General – diese Ehre – " stammelte der Mann verwirrt und verbeugte sich schlotternd.

Mosar lächelte kühl. „Lasst diese Kinder gut bewirten, gebt ihnen alles, was sie wollen, nur keine Mittel, die ihnen zur Flucht verhelfen. Wenn du deine Sache gut machst, wollen wir vergessen, dass du gewisse Mitteilungen zu spät liest – in Zukunft solltest du immer gut auf alles achten – " „Aber natürlich, Herr General – ich werde alles tun, was in meiner Macht steht – " stotterte der Wirt und eilte aufgeregt vor ihnen her, um die Zimmer vorzubereiten. Unterdessen nahmen die Soldaten ihre Positionen ein und bewachten ungerührt das Gasthaus.

„Folgt mir in den Speisesaal. Ich möchte mit euch sprechen.", meinte Mosar und eilte bereits mit eiligen Schritten voran, während sie alle noch ziemlich unschlüssig in der Gangmitte standen und den jungen Mann ängstlich und mit großem Missvergnügen musterten.   

„Also? Was wollen Sie von uns?" fragte Sachou stirnrunzelnd, als sie alle um einen großen Tisch in der Mitte des Speisesaals Platz genommen hatten und vor Ungeduld schier vibrierten. Mosar lächelte zunächst nur sehr rätselhaft und bequemte sich erst nach einer kleinen Weile, in der er alle der Reihe nach musterte, zu sprechen. „Eigentlich nicht viel. Ich möchte euch nur sagen, dass wir Shíkū festgenommen haben – Aói, falls euch das mehr sagt. Samadhi werden wir auch bald geschnappt haben, keine Sorge – " Sein Gesicht wurde plötzlich ernster und erschöpfter. „Seid bloß dankbar, dass euch nicht der Hohenpriester gefangen hat. Er will etwas von euch – ebenso wie den kleinen Shēngyīn, den ihr bei euch habt. So leid es mir tut – aber ihn müsst ihr wohl den Priestern überlassen. Es tut mir leid"; meinte er noch abschließend, während er sich bereits erhob, um zu gehen. Kamomé allerdings ließ das nicht so einfach zu. „Halt, hier geblieben. Zuerst wollen wir wissen, wie es unserem Freund geht. Sie müssen ihn gesehen haben, immerhin haben auch sie ihn verletzt." Ihre Augen bohrten sich eisig und durchdringend in die seinen, und für einen Moment stockte ihm der Atem. Dieses Mädchen hatte es in sich – genauso wenig zu unterschätzen wie Hǎi –

„Der ist wohl schon tot", ertönte plötzlich eine gelangweilte Stimme hinter ihnen, die allen einen heftigen Schrecken einjagte und sie auf die Beine brachte. Lediglich Mosar blieb kalt und ungerührt stehen. Schon wieder Sākuru –  „Ja, mag sein. Letztes Mal, als ich ihn gesehen habe, sah es nicht gut für ihn aus – wenn ihr Glück habt, könnt ihr ihn noch sehen. Obwohl die Heilerin gut ist, gibt es eben nicht immer ein Heilmittel – " „Na toll! Und Sie sind schuld!" schrie Kitsuné jäh auf und ballte die Fäuste. Blitzartig wurde es totenstill, und niemand wusste etwas zu sagen. Lediglich Sākuru lächelte wieder eisig und betrachtete den kleinen Jungen, dessen Gesicht bereits verzweifelt und völlig tränenüberströmt war, ohne jegliches Bedauern. „Das tut mir aber so leid. Bedank dich dafür bei deinen Freunden, ja? Wer wollte denn flüchten?" „Sie sind ein Schwein.", stellte Tókui mit ruhiger, trügerisch sanfter Stimme fest. „Bitte, gehen Sie, und feiern Ihren Erfolg. Uns können Sie in Ruhe lassen, ja? Immerhin haben Sie uns gefangen – Sie sind echte Helden – " Die anderen mochten keinen der Offiziere mehr ansehen und drehten kühl die Köpfe weg. „Ganz recht. Gehen Sie doch endlich und erstatten Bericht.", warf Káshira hart hin und blickte Mosar noch einmal verächtlich in die Augen, bevor er sich den anderen anschloss und leise den Raum verließ. Klappernd schloss sich die Tür, und Mosar atmete heftig aus. „War das denn jetzt nötig, Sākuru? Das sind Kinder, verdammt. So ein Schock bringt doch nichts – " „Es ist aber die Wahrheit, General," antwortete Sākuru sanft und zog einen kleinen Zettel aus seiner Tasche. „Heilerin Talingo sieht kaum noch Hoffnung für ihn – sie bittet uns, die Kinder schnell nach Shǒushìhé zu bringen, damit der Junge wieder isst und so – sie meint, er hat den Lebensmut verloren." „Na toll. War das eine Eilbotschaft? Die muss ich übersehen haben – " „Sie kam gerade an, als Ihr euch noch mit den Kindern beschäftigen wolltet – ich musste Euch suchen."

Kitsuné beruhigte sich auch in seinem Zimmer nicht mehr. Watarí stand vollkommen ratlos und verzweifelt vor seinem Bett und versuchte krampfhaft, ihn dazu zu bringen, den Kopf zu heben und mit dem Weinen aufzuhören. Der kleine Junge mit den orangen Haaren schluchzte einfach immer weiter in sein Kissen und ignorierte den besten Freund seines Bruders völlig.

„Jetzt komm schon, Kitsuné- kun. Du brauchst doch nicht zu weinen – Hotáru geht es sicher gut! Dieser Kerl ist doch ein Idiot! Was weiß der denn schon? Ich bin mir ganz, ganz sicher, dass Hotáru – " Auf einen Schlag würgte es auch ihn in der Kehle. Schon seit Tagen fühlte er sich elend, hatte es aber bisher gut verstecken können – wie er Hotáru vermisste. Er wollte ja selber verzweifelt wissen, ob es ihm gut ging – was mit seinem Gesicht los war. In seinen schlimmsten Alpträumen sah er seinen Freund vor sich, völlig entstellt – nein, das durfte nicht wahr sein. Nicht jetzt, wo er sich über seine Gefühle langsam immer klarer und klarer wurde–  im Grunde seines Herzens hatte er es schon immer gewusst. Hotáru war mehr als nur ein Freund – er war sein bester, sein einziger Freund. Ihm hatte er immer vertraut, obwohl ihm Hotáru nicht völlig vertraute – aber damit konnte er leben. Und seit sie auf Noa gestrandet waren, wurde auch etwas anderes, Verborgeneres klarer, dass er sich erst seit kurzem eingestehen konnte. Er musste sich in seinen Freund verliebt haben, und zwar ziemlich heftig. Ansätze dürfte es ja immer schon gegeben haben, aber jetzt wurde es langsam unleugbar und sicher. Was er sich am meisten wünschte, war die Erwiderung seiner Gefühle von Hotáru – wenn er ihn wiedersah, würde er ihm alles gestehen – ihn bitten, seine Liebe wenigstens in Erwägung zu ziehen. Diese Yún hatte er gehasst – sie war im Weg gewesen, ihr hatte Hotáru völlig vertraut. Warum nur? Was machte sie so einzigartig und anziehend? Es war gut, dass sie tot war. Endlich, jetzt endlich würde alles gut werden.

Als Kamomé, gefolgt von ihrem eifrigen Schatten Kagamí, wenig später durch die Türe trat, um nach Kitsuné zu sehen, fiel ihr Blick auf zwei Jammergestalten, die sich heftig schluchzend in die Decken und Polster geklammert hatten und nicht mehr aufhören wollten zu weinen. Watarí kniete am Boden, das Gesicht dicht neben Kitsuné in die Arme gelegt, und schluchzte zum Steinerweichen, während Kitsuné den Polster in Beschlag genommen hatte. Das blauhaarige Mädchen erstarrte ärgerlich und schnaubte missbilligend. „Ukí, ich sehe ja ein, dass du traurig bist – ich vermisse Suigín ja auch. Aber es hilft nichts – er ist nicht hier, und er wird auch nicht kommen. Wenn wir Glück haben, dann lügt dieser Mann, und Hotáru ist noch am Leben. Ich bin mir sicher, dass er noch lebt." Als er nicht antwortete, stampfte sie leicht mit dem Fuß auf und runzelte die Stirn. „Willst du denn jetzt den ganzen Weg zum König weinen? Komm schon, du und Kitsuné, ihr dürft jetzt nicht aufgeben! Wir brauchen euch! Die Gruppe muß jetzt zusammenhalten, wenn wir zerbrechen, dann hilft ihnen das doch nur! Diese Soldaten wollen uns fertig machen, wir müssen uns wehren!"

„Was redest du denn da?" stöhnte Kitsuné plötzlich gequält und hob den Kopf. „Aranámi, du weißt doch, das es gelogen ist, was du da sagst! Wenn ich nicht gewesen wäre, dann würde es Hotáru gut gehen – ich bin an allem schuld! In meinem ganzen Leben habe ich noch nichts Gutes zustande gebracht – meine Eltern haben nur Ärger mit mir, und sonst – " Die Tränen flossen immer noch über sein Gesicht und verschwanden irgendwo in seinen Kleidern. Kamomé schüttelte den Kopf. „Du darfst nicht im Selbstmitleid versinken. Eltern haben immer Ärger mit ihren Kindern, das ist nun mal so. Und wer weiß – Zufälle gibt es nicht. Vielleicht wäre Hotáru einen Abhang hinuntergestürzt, oder es wäre etwas Ähnliches passiert; du darfst dir nicht die Schuld daran geben. Hörst du? Suigín würde das auch nicht wollen. Er würde dir sagen, dass deine Sorgen Unsinn sind." Kagamí beobachtete sie eine Weile lang kühl und distanziert, bis sein Geduldsfaden plötzlich riss und er mit kreischender Stimme zu schreien begann. „Jetzt seid doch mal still! Was flennt ihr blöd herum? Sénsō ist weg, diese verdammten Soldaten haben ihn einfach mitgenommen! Dieser dämliche General will ihn zum Hohenpriester bringen lassen, kapiert ihr das nicht?" Selbst Watarí hob den Kopf und musterte ihn befremdet. Noch nie hatte man so was wie Gefühl aus Mángetsu's Mund vernommen – das war eine Premiere –

Noch bevor eines der Kinder den Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen, klopfte es schüchtern an der Tür und Haná trat ein. „Der – der General sagt, wir brechen morgen gleich ganz früh auf, und wir sollen schlafen gehen – der Weg ist ziemlich weit, drei Tage, sagt er, und wir werden auf einem Wagen fahren – "

„Danke, Tsubomí.", gab Kamomé kühl zurück und scheuchte die Kleine mit einer unwilligen Handbewegung aus dem Zimmer. „Wir werden es uns merken."

„Wo bleiben diese Kinder und der General? So geht das nicht weiter!" Erstaunt blickten die zwei Heiler, die sich außer Talingo noch im Baderaum aufhielten, von ihrer Arbeit auf. Sie waren gerade damit beschäftigt, dem fremden Jungen, der wie üblich nicht bei Bewusstsein war, in einem großen Zuber die Haare zu waschen. Der eine hatte sich gerade darüber lustig gemacht, wie einfach man den Jungen wie eine Puppe bewegen konnte, ohne dass er es bemerkte. „Und hört mit dieser Spielerei auf! Der Junge darf nicht zu Schaden kommen, verflixt! Wenn dem Verband was passiert, dann habt ihr von mir keine Gnade zu erwarten!"

Talingo war mehr als gereizt. Wenn heute noch etwas falsch lief, dann würde sie –

„Hallo, Heilerin! Juhu!" ertönte plötzlich eine fröhliche Stimme von der Türe her. Das junge Mädchen drehte sich wutschnaubend um und -  „Ach, Konkubine Míithaa. Was braucht ihr von mir?" „Eure Hilfe!" Verschwörerisch senkte die Frau ihre Stimme. „Ich – ich habe nämlich eine sehr interessante Entdeckung gemacht – "

Unhörbar seufzend folgte ihr die Heilerin nach draußen und wartete mehr oder weniger geduldig auf die Eröffnung des Problems, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Mit geheimnisvoller und aufgeregter Miene öffnete die Konkubine ein kleines Säckchen und zog eine längliche Pflanze heraus, die sie Talingo in die Hand drückte. Diese erkannte das Kraut sofort. „Aber – das ist ja – " „Jaha, ganz recht! Und es ist dem Hohenpriester aus der Tasche gefallen, nachdem er bei Shi Huángdì war – ist das nicht Beweis genug?" flüsterte Míithaa begeistert und deutete heftig gestikulierend auf die unscheinbare Pflanze.   

„Tja... was wollt Ihr denn eigentlich beweisen, Lady Míithaa? Der Hohenpriester ist wegen keiner Tat angeklagt, soweit ich weiß." „Ja, aber – sein seltsames Verhalten! Die Bosheiten! Das alles – " „Beweist leider absolut gar nichts! Es tut mir ja leid, Konkubine, und ich sehe Eure Besorgnis ja auch ein – aber nur, weil eine Pflanze mit stark süchtig machender Wirkung aus seiner Tasche fällt, ist der Hohenpriester nicht automatisch ein Verbrecher. Er würde Euch einfach sagen, dass er Experimente mit dieser Pflanze anstellen wollte – Konkubine Míithaa, ihr habt einfach nichts gegen ihn in der Hand."

Während die beiden Frauen noch eine ganze Weile miteinander diskutierten, trugen die zwei Heiler eine Bahre mit dem ohnmächtigen Jungen an ihnen vorbei in sein Zimmer zurück, wo sie ihn mehr oder weniger sanft auf sein Bett gleiten ließen und sich eilig entfernten.

Wenige Minuten später schlich Asuka durch die Türe und beugte sich neugierig über den Fremden. So ein Glück, dass Talingo sie nicht bemerkt hatte – ihre boshaften Blicke mochte sie nicht gerne. Jetzt konnte sie den Verletzten endlich in Ruhe betrachten. Was sie sah, erstaunte die junge Prinzessin sehr.

Obwohl Hotáru eine dicke Augenbinde trug, die nahezu die Hälfte seines Gesichtes überdeckte, sah er unglaublich süß und hilflos auf. Die durch das Bad noch feuchten, blonden Haare ringelten sich leicht und lagen zart auf seinen blassen Wangen. Je länger Asuka ihn betrachtete, desto heftiger regte sich ein sanftes Gefühl in ihrem Herzen. Bezaubert presste sie ihre Hände auf ihre Brust und lächelte atemlos. Dieser blonde Fremdling fing langsam an, ihr zu gefallen...

Früh am nächsten Morgen ließ Mosar die Kinder wecken und in einen hölzernen, rundum geschlossenen Lattenwagen setzen, um endlich die Hauptstadt zu erreichen.

Er selbst ritt auf seinem Dilophosaurus entspannt neben ihnen her und kaute fröhlich an einer Portion Gúlaab Djaamún, die ihm der Gastwirt eilig bereitet und in eine bronzene Schüssel gefüllt hatte. Die Pfadfinder beobachteten ihn mit einer Mischung aus Neid und Hunger; die Zwillinge flüsterten zuerst noch leise, dann immer lauter miteinander. „Ich will auch Süßigkeiten haben – " „Ja, ich auch..."

„Oh, das tut mir aber leid – " Der General kicherte niederträchtig und stopfte sich wieder ein Teigbällchen in den Mund. „Mmmh..." „Sadist!" maulte Haná enttäuscht und schniefte. Sie hatte Hunger...

Die Fahrt schien endlos zu dauern. Der Wagen ruckelte stark und rumpelte geräuschvoll über den löchrigen Weg und die Kinder wurden mehr als einmal heftig durchgeschüttelt. Nein, angenehm war das nicht gerade, was Kiíchigo und Hiyokó ständig mit Nachdruck bemängelten, bis Moko schließlich der Geduldsfaden riss. „Jetzt seid doch mal leise, ihr dummen Hühner! Das ist ja nicht auszuhalten! Wir müssen noch zwei Tage hier drin eingesperrt fahren, und das Letzte, was noch nötig ist, ist euer Geheule, klar?"

„Harigané! Jetzt sei doch nicht so laut! Ihr nervt!" zischte Kamomé plötzlich unerwartet und sprang abrupt auf. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, und der schmale Körper zitterte. „Ich hasse es, mit euch Idioten in diesem Käfig zu sitzen und mir euer blödes Geschnatter anzuhören! Seid leise!"

„Na? Gefällt es euch da drin?" erklang eine leise, boshafte Stimme neben dem Lattenwagen. Major Sākuru schloss mit einem tückischen Grinsen zu Mosar auf und winkte den Kindern fröhlich zu. „Oh, es ist ja so schön, alle hinter Gittern zu sehen – " „Ja, nicht wahr? Ich bin ja so froh – wir werden ruhiger schlafen, nicht wahr, Matandua?" rief Mosar nach hinten und lächelte befreit. „Shi Huángdì wird zufrieden mit uns sein" bestätigte der Hauptmann ruhig, während er Sākuru verstohlen von der Seite her musterte und die Stirn besorgt in Falten legte.

Der Major wirkte ziemlich ärgerlich, wenn er mit ihm sprach – sie konnten sich ja üblicherweise schon nicht leiden, aber in letzter Zeit – Sākuru nahm ihm seinen Erfolg anscheinend ziemlich übel...

„Ach, übrigens..." Mosar grinste wieder und griff in seine Satteltasche. Misstrauisch beobachteten die Kinder, wie er einen länglichen, in Leinen gehüllten Gegenstand hervorholte und ihn lächelnd präsentierte. Einige Sekunden lang schwieg alles verblüfft, dann erkannte Tókui als Erste das Objekt und schrie erstaunt auf. „Um Himmels Willen! Káshira, sieh mal! Das ist eine Waffe! Eine vereinfachte Version, aber immerhin! Unglaublich!"

„Ganz recht." Der General lächelte wieder und tätschelte sein Gewehr liebevoll. „Euer Freund Shíkū hatte die Güte, dieses Feuerrohr für uns zu fertigen; bedankt euch dafür bei ihm. Nun sind wir in der Lage, viel effektiver zu kämpfen – das ist zum Teil auch euer Verdienst. Hättet ihr die Waffe nicht bei ihm gelassen, dann – " „Oh nein, wir Idioten!" stöhnte Káshira entsetzt auf und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. „Warum mussten wir das Gewehr auch bei ihm lassen? Wir Trottel!" „Hǎi hat uns so schnell abgeholt, dass wir es einfach vergessen haben! Wer konnte auch ahnen, dass sie gerade Aói schnappen?" erwiderte Tókui atemlos und schluckte entsetzt, als der junge General hilfsbereit antwortete. „Sein eigener Onkel hat ihn verraten. Major Sākuru bot viel Geld für jeden verratenen Technikliebhaber, Shíkū konnte nicht widerstehen – soweit ich allerdings weiß, geht es seinem Delikatessenladen nicht schlecht. Ein weiterer Beweiß für die Unersättlichkeit des Menschen, richtig?"

„Ach, was sollen wir bloß tun?" flüsterte Tókui verzagt und legte den Kopf auf ihre Arme. „Jetzt hat die Armee auch noch Gewehre und alles, und Aói ist gefangen – furchtbar! Dieser General führt uns zum König – was der wohl mit uns machen will? Ich habe Angst..."

Moko schüttelte den Kopf und bemühte sich, zuversichtlich zu lächeln. „Na, keine Sorge. Wir werden es schon schaffen, so wie immer bis jetzt. Und abgesehen davon sehen wir Hotáru wieder – das wird Kitsuné und Watarí gut tun. Und Kamomé;" fügte er mit einem raschen Seitenblick auf das blauhaarige Mädchen hinzu, dass sie alle mit giftigem Blick musterte und leise vor sich hin murmelte. „Ich glaube, die Fahrt mit uns gefällt ihr nicht besonders – arme Aranámi. Aber dafür kann ja keiner was – " „Sie ist eine blöde Zicke.", warf Kiíchigo unvermittelt ein. „Am liebsten wäre mir, wenn wir sie einfach rausschmeißen könnten, dann wäre Ruhe – sie geht mir so was von auf die Nerven!"

Auf ihren Ausbruch antwortete keiner; selbst die Zwillinge und Haná schwiegen verlegen.

Káshira ärgerte sich plötzlich und schüttelte angeekelt den Kopf. Sie war ja selten peinlich!

Zum Glück musste er sie nicht heiraten, das hätte er wohl keine Woche ausgehalten. Hotáru war klug gewesen, sich von ihr zu trennen, sonst -  Unerwartet schoss ihm durch den Kopf, dass ja eigentlich er an der Trennung der beiden schuld gewesen war. Und abgesehen davon – irgendwie küsste Hotáru auch besser als sie –

„Warum wirst du denn so rot? Hast du Fieber, oder ist sonst was los?" fragte ihn Chujitsu unvermittelt und griff auf seine Stirn. „He, laß' das! Ich bin nicht krank!" zischte sein großer Bruder peinlich berührt und schüttelte ihn ab. „Mir – mir ist nur heiß! Sonst nichts!"

Als die Sonne beinahe hinter den Bergrücken verschwunden war, ließ Mosar endlich anhalten und befahl seinen Soldaten, den Gefangenen etwas zu essen zu bringen. Aufatmend stiegen die Männer und Frauen von ihren Sauriern, während die Pfadfinder alarmiert durch die Gitterstäbe lugten, um den Grund für den allgemeinen Aufruhr zu erfahren. Mosar näherte sich ihnen langsam. „Nun? Wie geht es meinen Gästen? Ich hoffe, die Fahrt war nicht zu anstrengend?" In seiner Stimme klang nichts weiter als pure Ironie, dennoch wagte es Kagamí, darauf einzugehen. „Aranámi- san geht es sehr schlecht. Kann sie nicht mal für kurze Zeit aus dem Wagen? Bitte."

Der junge General schluckte die scharfe Antwort, die ihm schon auf der Zunge lag, wieder hinunter, als er das blauhaarige Mädchen sah. Wie der Kleine gesagt hatte, sah sie wirklich nicht besonders gut aus. Ihre schmalen Schultern zitterten heftig und auf ihrer Stirn lag ein dünner Film aus Schweiß. „Was hast du? Ist dir übel?"

„Nein, verschwindet! Ich halte das nicht mehr aus!" Kamomé schluchzte leise auf und barg das Gesicht in ihren Händen. „Oh nein – "  Schweigend beobachtete Mosar das Mädchen für einige Sekunden und nickte dann leicht. „Gut. Macht die Tür auf und bringt sie zu mir. Aber ich warne euch – ein dummer Ausbruchsversuch, und irgend jemand wird seine Hände oder Füße vermissen. Ich habe euch lange genug nachgejagt; irgendwann einmal hat der Spaß ein Ende." Kamomé drückte sich niedergeschlagen an ihren Kameraden vorbei und wanderte leicht schwankend nach draußen, wo sie von Mosar fürsorglich am Unterarm gepackt und zu einer kleinen Gruppe von Soldaten geführt wurde.

„So, dann setz' dich gleich einmal hin. Wenn dir übel ist, dreh' dich bitte um, ja? Wir haben noch nichts gegessen." „Schon gut. Mir ist nicht schlecht.", antwortete Kamomé leise und nahm auf einer Decke, die ihr eine Soldatin fürsorglich hingeschoben hatte, vorsichtig Platz. Essen wollte sie nichts; der Hunger war ihr schon im Wagen vergangen. Nein, sie konnte einfach nicht mit so vielen Menschen auf einem Haufen zusammengepfercht in einem Leiterwagen durch das Land ziehen –

Nach weniger als einer halben Stunde verabschiedete sich der Großteil der Soldaten und machte sich langsam auf den Weg in die bereits von geübter Hand aufgestellten Zelte. Kamomé wurde etwas unbehaglich zumute, als sie bemerkte, dass lediglich Mosar, Matandua und Sākuru übriggeblieben waren und sie abschätzig musterten. Sākuru begann als erster zu sprechen und sah ihr kühl in die Augen. „So, da wären wir also, nicht? Erzähl' doch mal, warum du es im Wagen nicht mehr aushältst – " „Tut mir leid. Aber ein ganzer Tag ist fürs erste genug.", gab sie ebenso kalt zurück. Die Augen des Majors glitzerten für einen Moment anerkennend; ihre Beherrschtheit gefiel ihm. Es gab nicht viele Menschen, die im Angesicht des Feindes so ruhig und gefasst blieben –

„Also gut, genug geplaudert. Jetzt erzählst du uns erst mal, wohin ihr wolltet und wo euer Fahrzeug ist. Die Verräterin Samadhi befand sich auch nicht mehr in Hínan; wohin ist sie gegangen? Darauf wären Antworten nicht schlecht!" mischte sich Mosar ein und kreuzte abwartend die Beine. Nachdenklich schwieg Kamomé noch für einige Sekunden, überlegte angestrengt hin und her, ob und was sie sagen wollte, dann zuckte sie kapitulierend die Achseln und begann leise zu sprechen. „Manua ist nicht mehr bei uns; wohin sie wollte, weiß ich nicht genau." Mit der Zeit gewann ihre Stimme an Festigkeit, und sie hob die Augen.

„Sie hat sich irgendwelchen Räubern oder so was angeschlossen, die anscheinend die Welt verbessern wollen oder so. Unser – Fahrzeug – ist noch bei Lady Hǎi an Bord, das wisst ihr sicher, nicht wahr? Was sollen wir euch noch Neues erzählen; eure Soldaten sind sicherlich viel besser informiert als wir. Oder?" Mürrisch schüttelte sie ihr langes Haar zurück und fixierte Sākuru genauer, der beifällig nickte und ihr ein winziges Lächeln schenkte. „Natürlich wissen wir, dass ihr mit Hǎi gereist seid. Samadhi werden wir auch noch finden, und das Ziel eurer Reise? Wohin könntet ihr schon wollen?"

„Seid ihr wirklich aus einer anderen Welt? Wolltet ihr dorthin zurück?" Stille folgte auf diese Frage, und Kamomé bemerkte den ruhigen Hauptmann zum ersten Mal richtig. Er hatte sich nach vorne gebeugt und das Kinn auf seine Arme gestützt. Für einen Moment war sie leicht aus der Fassung gebracht. „Nun, ähm – wenn ihr so fragt – " Zögernd wickelte das Mädchen eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger und musterte die drei Soldaten schnell aus dem Augenwinkel. „Na ja, ja. Eigentlich schon." „Aus einer fremden Welt? Ist das wirklich wahr? Ich dachte zuerst, das wäre nur ein kranker Scherz des Hohenpriesters – aber nicht – "

Sākuru lehnte sich ebenfalls nach vorne, um keines ihrer Worte zu versäumen. Kamomé fühlte sich wie ein kleines Tierchen in der Falle und schluckte verzagt. „Ja, wir – wir waren auf einem Ausflug, und plötzlich zog ein Sturm auf – ich kann nicht sagen, wie es passiert ist, aber auf einmal – da griff uns hier ein riesiger Allosaurus an, und dann – " Immer leiser und leiser werdend brach sie schlussendlich mutlos ab und runzelte die Stirn. „Es tut mir leid – wir wollten keinen Ärger machen – wir wollten ja gar nicht hierher – " „Wie sieht es bei euch aus? Besitzen viele Leute Waffen wie diese hier?" Mosar zog das Gewehr, dass er hinter sich gelegt hatte, mit einem raschen Ruck hervor und hielt es ihr vor die Nase. Für einen Moment wusste Kamomé nicht, was sie sagen sollte und neigte den Kopf zu Seite. „Nun ja... Ja, natürlich. Und nicht nur Waffen wie diese hier – es gibt dort Feuerwaffen, die für euch unvorstellbar sind – ich verstehe ja gar nicht, wozu ihr unsere nachbauen lassen musstet. Was ist schon so toll an einem bleispuckenden Ding?"

„Wir können unsere Feinde viel effektiver bekämpfen, ist doch klar! Und die Saurier werden nicht mehr so leicht in unsere Nähe kommen wie bisher. Hier, siehst du diese Narbe?" Sākuru wies auf einen langen Striemen, der seine rechte Wange zierte und grinste kalt. „Die hat mir ein Ponaturi zugefügt – dabei war er noch ziemlich jung. Ich leider auch, und deshalb – der Heiler sagte, es wäre lediglich Glück gewesen, dass es mein Gesicht noch gibt. Ein wenig tiefer, und ich wäre einer von den vielen Krüppeln geworden, die in Hínan vor sich hin vegetieren." „Ihr kommt aus Hínan? Wirklich?" Kamomé lehnte sich ein wenig nach vorne, um ihn genauer zu begutachten. „Ihr seht den Leuten, die wir dort gesehen haben, nicht sehr ähnlich." „Meine Eltern waren Fremde, als sie dort ankamen, und sie hatten auch nicht viel Zeit, um sich einzugewöhnen. Zwei Monate, nachdem wir unser Haus bezogen hatten, fiel eine Gruppe Ponaturi in der Stadt ein und tötete meine ganze Familie. Mit acht Jahren wurde ich zur Armee verkauft und bin meinem König auch schon seit 22 Jahren treu..."

Kamomé öffnete den Mund um etwas zu sagen, begegnete dabei aber seinen Augen und schwieg. Es war unglaublich, welche Schicksale sich manchmal hinter den Gesichtern verbargen.

Nach weiteren zwei Tagen kam der gesamte Treck schließlich mehr oder weniger wohlbehalten in der Hauptstadt Shǒushìhé an. Kamomé hatte die meiste Zeit bei Sākuru und dem Rest der Truppe verbracht, nachdem klar geworden war, dass sie es mit ihren Kameraden einfach nicht aushalten konnte. Einigermaßen zufrieden war sie ziemlich schweigsam neben dem Major hergeritten, auf dem Saurier einer Soldatin, und hatte sich einige seiner Erzählungen angehört, die sie sehr nachdenklich gemacht hatten.

Der Königspalast war von außen so eindrucksvoll, dass die Kinder volle fünf Minuten nur damit verbrachten, mit offenen Mündern die Anlage zu bestaunen.

Der Hauptpalast glich der kambodjanischen Tempelanlage Angkor Wat nahezu bis aufs Haar; die dunklen Steinmauern schienen in ihre Umgebung einzufließen und mit dem Dschungel zu verschmelzen, als wäre das Schloss nicht gebaut worden, sondern völlig natürlich aus dem Boden gewachsen. Sie befanden sich nun innerhalb der ersten Begrenzung, den fünf Türmen noch nicht einmal nahe. Die Soldaten karrten den Wagen über eine lange, gepflasterte Straße, die schnurgerade in das Innere der Anlage führte und sie den Augen der Vorübergehenden schonungslos auslieferte. Kinder zeigten mit den Fingern auf sie, Männer und Frauen tuschelten angestrengt und die Menge wurde unruhig, bis Mosar eine ärgerliche Handbewegung machte und eine lange Peitsche aus seinem Gürtel zog. Diese Geste allein bewirkte Wunder; schlagartig leerte sich die Straße und die Menschen eilten weiter, die Köpfe vorsichtig eingezogen und beinahe verstummt. Der General war gefährlich, man konnte ja nie wissen –  „Jīngtǐ! Jīngtǐ, da bist du ja! Ich hatte so ein Gefühl, dass du gerade heute kommst, knapp vor Dunkelheit! Los, beeil' dich, ein Sturm zieht auf!" Eine helle, hoch erfreute Stimme durchschnitt die gedämpfte Stimmung und zog jede Aufmerksamkeit der Soldaten auf sich. Mit Erstaunen bemerkte Káshira, wie sich der Mund des Generals zu einem breiten Grinsen verzog, als er die Quelle der Rufe entdeckt hatte und er seinen Saurier eilig in diese Richtung lenkte. Eine junge Géisha mit rotbraunem Haar, in einen dunkelblauen Kimonó mit lebendigem Blumenmuster gehüllt und mit aufwendigem Schmuck in ihren Haaren eilte auf  Mosar zu und lächelte glücklich, während sich der Himmel plötzlich mit pechschwarzen Gewitterwolken überzog und die ersten Tropfen fielen. „Oh, jetzt fängt es ja schon an – schnell, wir müssen uns beeilen! Sonst wird alles nass – " „Yamá- chan! Schnell, steig' auf, sonst schaffen wir es nicht mehr – " Mosar lachte und hob die Géisha auf seinen Saurier, wo sie sich kichernd auf ihn hängte und seinen langen Zopf aus dem Kragen zupfte. „Yamanéko, kannst du nicht warten, bis wir – " „Na? So nötig?" Noch eine Stimme, die wie aus dem Nichts auftauchte und wie die Erste direkt an Mosar gerichtet war. Ein alter, beinahe glatzköpfiger Mann tätschelte vorsichtig den Hals des Dilophosauriers und grinste schräg. „Kaum angekommen, und schon eine schöne Frau um den Hals..." „Ach, Meister! Yamanéko und ich sind doch schon – " begann der junge General verlegen und brach mit blutrotem Kopf ab, als der Alte zu kichern begann. „Ja, Fräulein Jiāngguǒ und ich hatten während deiner Abwesenheit viel Zeit zum Plaudern... du wirst staunen, auf welche Dinge man kommen kann, wenn man ein Schlückchen Saké zusammen trinkt..." Auch Yamanéko begann nun niederträchtig zu lachen und küsste den General neckisch auf die Wange. „Oh, nicht böse sein, Jīngtǐ, ja? Pul- san hat mir nur einige Geschichten aus deiner Kindheit erzählt, das war so s! Ich war ganz begeistert..."

Die Kinder blieben allein bei Matandua und Sākuru zurück, als Mosar mit Pul und dem Mädchen im Schlepptau eilig einigen Gebäuden innerhalb der zweiten Begrenzung zuritt und sie völlig vergessen zu haben schien. Der dunkelhäutige Mann wandte sich nach Sekunden des Schweigens respektvoll seinem Vorgesetzten zu. „Ich glaube, wir sollten sehen, wo wir die Fremden unterbringen können. Es fängt wirklich an zu regnen." „Wir werden Madame Míkan um Rat fragen – sie ließ ausrichten, dass sie sich darum kümmern möchte. Und ich will mich ihr lieber nicht widersetzen..." antwortete der Major kühl und drehte sich zu ihm. „Hauptmann, Ihr habt diese Samadhi entkommen lassen, nicht wahr? Ha, ich wusste es – Ihr seid völlig unfähig!" Höhnisch lachend wandte er sich an die Truppe und hob ruckartig den Arm. „Los! Weiter mit dem Wagen! Wir fahren bis zum Hauptpalast und sehen dort weiter! Hauptsache, ins Trockene, klar?" Die Soldaten beeilten sich, seinen Befehl zu befolgen; Kamomé musterte ihn stumm, was er zu bemerken schien, da er sich plötzlich an sie wandte. „So, mein Fräulein. Am besten kommt Ihr jetzt auf meinen Saurier, dann kann ich die Soldatin gleich entlassen – du kannst gehen", winkte er der älteren Frau zu und packte das Mädchen unvermittelt um die Hüften.

„Hey! Was soll denn das?" zischte Kamomé überrumpelt und verpasste ihm einen ärgerlichen Schlag auf den Kopf, den er lediglich mit einem bissigen Lächeln quittierte.

„Sieh an, wild wie ein Tipua- Weibchen, und ebenso schön... " Sein rechter Arm schloss sich fest um ihre Taille und bewirkte heftiges Erröten ihrerseits. Irgendwie gefiel ihr dieser Kerl –

„Ihr werdet glücklich sein, endlich das Ziel dieser Reise erreicht zu haben, nicht wahr? Drei Tage Gewaltmarsch sind kein Zuckerschlecken – ich habe Eure Blicke bemerkt. Ihr vermisst ein schönes Bad und frische Kleider, was? Geht mir genauso, am liebsten bleibe ich in der Stadt." „Ich – ich kann Reiten nicht leiden. Mir tut der Rücken weh – wie könnt Ihr das nur so lange aushalten?" wagte Kamomé schüchtern einzuwerfen und senkte verlegen den Kopf. Sie wusste ja selbst nicht, wie sie darauf kam – aber irgendwie vertraute sie ihm –

„Aha, der Rücken. Ich hätte es mir ja fast gedacht.", flüsterte er leise in ihr Ohr und drückte sie fester gegen sich, während er mit seinem Arm sanft ihre Taille kraulte. Der leichte Schlag, den sie ihm noch verpasste, war eigentlich nur des Anstands wegen, denn eigentlich gefiel es ihr ziemlich. Noch dazu war er recht hübsch... „Na endlich! Wo habt ihr nur gesteckt? Ich suche schon die ganze Zeit!" erscholl plötzlich eine laute, ärgerliche Stimme, gefolgt von heftigen Schritten, die alle zusammenzucken ließen. Eine ältere, grauhaarige Frau eilte hastig auf sie zu, stemmte ihre Arme in die Seiten und stampfte mit dem Fuß auf. „Los, es gießt! Ich habe ein Quartier für euch bereiten lassen, direkt im Nebenpalast, in den unteren Räumen. Allerdings – " Sie wies auf ein ebenso wie Matandua exotisch aussehendes Mädchen hinter sich, dass mit verschränkten Armen auf Aufmerksamkeit wartete und ungeduldig begann. „Ich muß euch leider bitten, mich sofort zu begleiten. Euer Freund, der sich in meiner Obhut befindet, ist in so schlechter Verfassung, dass ich fürchte, er wird den heutigen Tag nicht überleben. Wenn ich bitten darf – " Sprachlos starrten sich die Pfadfinder an und konnten keine klaren Gedanken fassen. Hotáru sollte sterben? Nein, unmöglich. Das war nicht möglich, es konnte nicht wahr sein –  „Nein! Nein, bitte nicht! Das ist ein Scherz, oder?" würgte Kitsuné plötzlich entsetzt in die Stille und schlug die Hände vor sein Gesicht. Watarí musste ihn stützen, als er nach vorne kippte und haltlos zu schluchzen begann. „Bitte, bringen Sie uns zu ihm – sofort – wir müssen ihn sehen! Bitte!" flehte Kamomé das schwarzhaarige Mädchen an und grub ihre Fingernägel so heftig in Sākuru's Arm, dass er ärgerlich aufzischte und sie zu Boden gleiten ließ. „Na, du hättest auch was sagen können – "

Nachdem die Soldaten den Käfig geöffnet und sie nach draußen gelassen hatten, eilten die Kinder atemlos und völlig verwirrt hinter den beiden Frauen her, ohne miteinander zu sprechen. Eigentlich konnte man ausgenommen Kitsuné's heftigem Schluchzen nichts weiter hören als das nervöse Klicken der Schuhe auf den steinernen Bodenplatten und Moko's unterdrücktes Keuchen. Er hasste es, schnell zu laufen, ohne etwas im Magen zu haben...

Talingo führte ihre Gruppe auf schnellstem Weg in den Krankentrakt, wo sie bereits von Dengei erwartet wurden. „Heilerin Talingo, dem Jungen geht es sehr schlecht – er ist aber aufgewacht – " „Gut.", antwortete das Mädchen kühl und winkte die Pfadfinder durch eine enge Tür nach innen; in dem spartanisch eingerichteten Raum befand sich nichts weiter als ein niedriges, hölzernes Bett und ein kleiner Stuhl, über den man ein zusammengefaltetes Handtuch gelegt hatte. „So, da wären wir! Leider fürchte ich, es wird kein fröhliches Wiedersehen, sondern ein Abschied werden..." warf Talingo kalt hin und beugte sich über den blonden Jungen, der schwer atmend in den Kissen lag und ruhelos den Kopf hin und herwarf, ohne Reaktion auf ihre Ansprache zu zeigen. Achselzuckend wandte sie sich ab und trat einen Schritt zurück. „Bitte sehr. Ihr könnt mit ihm sprechen oder was auch immer; überanstrengt ihn aber nicht." Noch bevor sie geendet hatte, drängte sich Kitsuné brutal nach vorne und beugte sich weinend über seinen Bruder. „Hotáru? Kannst du mich hören? Hörst du mich? Antworte doch!"

Als Hotáru das erste Mal die Augen öffnete und Kitsuné sah, konnte er es nicht glauben. Es musste sich wieder einmal um einen Traum oder eine Halluzination handeln, denn sein Bruder konnte nicht hier sein. Kitsuné befand sich doch in Sicherheit –

„Suigín! Hotáru! Bist du wach? Wir sind hier. Es ist alles gut-" flüsterte plötzlich Kamomé in seinem Kopf. Nein, nicht in seinem Kopf; sie war hier und hielt seine Hand...

„Aranámi? Bist du wirklich hier?" Seine Augen hefteten sich beschwörend auf das blasse Gesicht des blauhaarigen Mädchens. Sie war das einzige Gesicht, dass sich aus der ineinander verschmolzenen Masse hinter ihr deutlich hervorhob. Selbst Kitsuné war nur ein unscharfer Schatten im Hintergrund – 

„Warum bist du hier? Hat man euch gefangen?" stieß er keuchend hervor und presste stöhnend die Zähne zusammen, als eine neue Schmerzwelle seinen Körper durchflutete. „Kamomé, ich – " „Nein, nein, nicht sprechen – es ist ja schon gut. Ich weiß, was du sagen willst – du musst jetzt ganz schnell wieder gesund werden, okay?" Ermutigend lächelte sie sanft und strich beinahe zärtlich über seine Hand. „Laß' mich nicht alleine, hörst du?" „Es tut mir so leid – " flüsterte er verzweifelt und drückte für eine Sekunde ganz fest zu, um ihre gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Aber ich kann nicht mehr – ich will nicht mehr – " „Shh, shh, sei still. Was willst du – " begann Kamomé verwirrt, wurde aber unerwartet am Arm gepackt und nach hinten gezerrt. „Ja, aber – " „Verschwinde endlich, Aranámi! Du blockierst den Weg schon die ganze Zeit!" zischte Kiíchigo wütend und stieß sie nach hinten, um mit Káshira im Schlepptau das Bett zu erreichen. „Du quatschst einfach zuviel! Es gibt auch noch andere Menschen als dich!" Kiíchigo tätschelte tröstend seine Wange und lächelte weich. „Du machst vielleicht Dummheiten, Hotáru! Weißt du was, wir wollen unseren Streit vergessen, ja? Ich habe es ja niemals böse gemeint – niemals – " Etwas verlegen lehnte sich nun auch Káshira über den Kranken und winkte Hotáru mit einem etwas unsicherem Grinsen zu. „He, was ist denn los mit dir? Du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt!" Als sie so sprach, schien es Hotáru, als würde er die beiden zum ersten Mal aus dem richtigen Blickwinkel betrachten können. Plötzlich lagen alle Verhältnisse vollkommen klar und logisch vor ihm; was er vorher nicht hatte verstehen können, ergab nun ein unverkennbares Muster und erzählte ihm eine Geschichte. Er musste lächeln; hatte es soweit kommen müssen, bevor er verstand?

„Ryōki- kun..." Ein heftiger Hustenanfall unterbrach ihn kurz und bewog Káshira, sich noch weiter nach vorne zu beugen, um die leise Stimme zu verstehen. „Ich möchte, dass du dich um sie kümmerst – Kiíchigo braucht jemanden, der ihr hilft, weißt du? Sie ist noch so – kann nicht alleine – " „Ja, aber – was redest du denn – " begann Káshira verwirrt und schüttelte verstört den Kopf. „Das ist doch Unsinn – du wirst wieder gesund, und dann – "

„Nein.", antwortete der blonde Junge mit einem sanften Lächeln und legte den Zeigefinger auf seine Lippen. „Es ist zu spät – und ich möchte auch gar nicht mehr. Du passt viel besser hierher – das hast du schon immer." Ohne Vorwarnung begannen plötzlich riesige Tränen aus Káshiras Augen zu quellen und auf seine Decke zu tropfen. „Was – was soll das – " Aber Hotáru konnte nicht mehr auf seinen Widerspruch eingehen, warum auch immer sein Klassenkamerad weinte – es war unwichtig geworden. Er musste nur noch Watarí dazu bringen, auf seinen Bruder zu achten, dann war alles in Ordnung – dann konnte er endlich gehen. „Watarí- kun? Bist du da?" Inzwischen war er sogar zu schwach, um die Augen zu öffnen, obwohl er sich innerlich so gut wie noch nie fühlte, richtig euphorisch. In diesen wenigen Sekunden hätte er Bäume ausreißen und Berge versetzen können – wenn er nur die Kraft besäße, aus diesem Bett zu steigen –  „Du kümmerst dich um Kitsuné, ja? Sag' ihm, ich habe ihn sehr lieb, und die ganze Aufregung tut mir so leid..." Die Antwort, falls es darauf überhaupt eine gab, konnte er nicht mehr hören, denn urplötzlich verschwand das enthusiastische Gefühl aus seinem Herzen und ließ nichts mehr zurück; mit kaltem Entsetzen sah Watarí, wie das Leben aus den Augen seines einzigen Freundes wich und stieß einen fassungslosen Schrei aus. Talingo schob sie alle mit einer heftigen Bewegung aus der Nähe des Bettes und griff hastig nach seiner Hand. Als sie keinen Puls spüren konnte, riss sie die Decke von seiner Brust und flehte im Inneren darum, einen Herzschlag zu hören – doch es war schon längst vorbei; kein Laut drang an ihr Ohr... Es bestand kein Zweifel mehr, er war tot... sein Mund öffnete sich leicht und der Kopf sank leblos zur Seite, während die schönen grünen Augen starr und leblos wurden.