30. Kapitel
Licht und Schatten„Los, raus! Dengei, führe die Fremden nach draußen und sieh' zu, dass mich keiner stört! Na los, wird's bald?" zischte Talingo in das bleierne Schweigen, dass sich über die Gruppe gesenkt hatte. Die kleineren Kinder hatten kaum mitbekommen, was geschehen war, fühlten aber instinktiv das Entsetzen der anderen... Kamomé klammerte sich zitternd an Kagamí und schien ihren Augen nicht trauen zu wollen. Hotáru war hier gestorben, vor ihren Augen – wie hatte es nur geschehen können? Warum hatte es keiner verhindert? Warum –
„Bitte folgt mir rasch! Heilerin Talingo braucht jetzt Ruhe und will von uns nicht gestört werden!" wisperte der kleine Junge folgsam und brachte die wie gelähmt wirkenden Pfadfinder nach draußen, die dann reglos im Gang stehen blieben. Eine Zeitlang sprach niemand; der Schock war einfach noch zu groß. Dann allerdings begann Kamomé mit kalter, beißender Stimme zu reden, einer Stimme, die sich schnell in wutentbranntes Kreischen steigerte.
„So, du elendes Miststück. Ich hoffe, du bist zufrieden mit dem, was du hier angerichtet hast! Wie konntest du das nur tun? Wie konntest du ihn nur auf diese Weise behandeln und dann noch so tun, als würdest du ihn lieben? Du Schlampe!" Drohend trat sie einen Schritt auf Kiíchigo zu, die angstvoll zurückwich und sich gegen eines der Fenster quetschte. „Was meinst du denn? Ich habe doch – " „Ja, ganz genau! Du hast! Und zwar mit diesem Idioten hier!" Es klatschte zweimal, und sowohl Kiíchigo als auch Káshira betasteten verblüfft ihre Wangen, auf denen nun jeweils ein roter Handabdruck prangte. Aber keiner von beiden hätte in diesem Moment gewagt, auch nur ein Wort zu ihr zu sagen – Kamomé kochte. Und sie war noch lange nicht fertig; selbst die Tränen, die plötzlich aus ihren Augen quollen, konnten sie nicht davon abhalten, endlich alles von ihrer Seele zu reden.
„Du magst zwar hübsch sein, Tsutsumí, aber sonst ist nicht viel mit dir los! Du hast dir doch nie die Mühe gegeben, ihn zu verstehen – mit ihm zu reden – du hast ja keine Ahnung – " Wieder steigerte sich ihre Stimme zu einem gequälten Aufschrei. „Und jetzt ist er tot, weißt du, was das heißt? Er wird nicht mehr da sein, um dir zu vergeben oder was auch immer – ist dir eigentlich klar, dass er ein verdammt großzügiger Mensch ist? Du – " Vor lauter Bitterkeit blieben ihr die restlichen Worte im Hals stecken; sie packte eine der tönernen Vasen, die am Boden vor dem Fenster standen und schleuderte sie wuchtig in Richtung der beiden. Zwar geschah ihnen nichts, da sie rechtzeitig zur Seite springen konnten, dennoch zersprang das Gefäß mit einem ohrenbetäubenden Knall in tausend Stücke.
Hotáru schwebte über seinem reglosen Körper, an dem sich gerade die Heilerin zu schaffen machte. Er konnte nicht sehen, was sie da tat, es interessierte ihn auch nicht mehr. Eigentlich erstaunte es ihn auch ein wenig, dass diese ganzen blöden Grenzerfahrungs – Geschichten wahr zu sein schienen – da war ein helles, strahlendes Licht, direkt vor ihm. Er brauchte nur dorthin zu gehen, und alles würde gut werden – keine Schmerzen mehr –
„AAAH!" Mit einem heftigen Knall war er plötzlich durch die Luft geschleudert worden und landete ziemlich unsanft auf einem harten Stuhl. Völlig benommen und verwirrt starrte er um sich und brauchte eine Weile, um die skurrile Szene, die sich ihm nun darbot, auch wirklich aufzunehmen...
Vor ihm saßen Yún und sein Großvater, augenscheinlich in ein interessantes Schachspiel vertieft, dass sie zur Zeit aber nicht beachteten, sondern ihn freundlich – amüsiert musterten. Soweit er sehen konnte, saßen sie in einer Art Terrassencafé an einem runden Tischchen, auf dem neben dem Schachspiel auch zwei Tassen und eine Zeitung lagen.
Er selbst befand sich auch auf einem der harten Stühle, als wäre er ein längst erwarteter Gast, der nun endlich eingetroffen war... Yún lächelte ihm zu und hob die Tasse an den Mund. „Wird ja auch Zeit, dass du endlich kommst! Wir warten schon auf dich!"
„Was? Wirklich? Ist das wahr?" stammelte er eingeschüchtert und wollte seinen Augen nicht trauen. Aber es war wahr, sie befanden sich hier, alle Menschen, die er liebte – und die so früh von ihm gegangen waren –
„Klar ist das wahr! Wann glaubst du uns denn endlich?" polterte sein Großvater auch wie zu erwarten mit tiefer Stimme los, obwohl tief in seinen Augen zwei Fünkchen munter glühten. Opa meinte es nicht so... „Endlich bin ich hier! Ich kann es kaum glauben! Wo ich euch schon getroffen habe – ich dachte, ich finde euch niemals – " Seine Stimme drohte zu versagen, als er seine Verlobte und den alten Mann am Tisch betrachtete. Und noch etwas fiel ihm auf –
„Hey! Mein Auge ist wieder gesund! Das grenzt ja an Zauberei! Mann, bin ich glücklich!" Mit beiden Händen tastete er begeistert sein Gesicht ab und bemerkte, dass alles verschwunden war – keine Narbe, kein Verband – er hatte es geschafft –
„Na, na. Freu dich nicht zu früh!" Großvater schüttelte bedauernd den Kopf und klopfte auf den Tisch, während Yún traurig lächelte. „Hier bleiben kannst du nicht, dass ist dir ja wohl klar. Fräulein Hǎiyáng und ich gehören an diesen Ort, aber für dich ist das nicht das Richtige, weißt du? Eigentlich solltest du gar nicht tot sein! So ein kleiner Kratzer im Gesicht bringt keinen um, aber mit deiner Sturheit hast du es ja wieder mal geschafft! Schämen muß ich mich für dich!" „Hör' nicht auf ihn," mischte sich Yún mit sanfter Stimme ein und legte ihre zarten Finger auf seine Hand. „Wir freuen uns alle beide, dass du es endlich geschafft hast, uns zu finden, denn so wie bisher kann es nicht mehr weitergehen. An deine Fieberträume kannst du dich sicher noch – " „Ja, genau! Opa, was hast du damals damit gemeint, als du gesagt hast, „Der Tod wäre viel besser als das hier?" Das habe ich nicht ganz verstanden – "
„Ach, du bist ein Dummkopf." Sein Großvater grinste boshaft und schien nichts weiter sagen zu wollen, was Hotáru ein wenig ärgerlich machte. „Bloß, weil du dramatisch sein wolltest, du weißt es ja selber nicht..."
„Hotáru- chan, wir haben nicht viel Zeit... möchtest du mit mir spazieren gehen?" fragte Yún freundlich und griff sanft nach seiner Hand, um ihn aus dem Sessel zu ziehen. „Du wirst sehen, die Aussicht ist wunderschön..." „Und Opa?" fiel Hotáru noch ein, während er bereits neben ihr stand und auf den alten Mann neben dem Schachbrett starrte. „Ach, Blödsinn! Geh' ruhig mit Fräulein Hǎiyáng ein wenig spazieren – ich habe nichts dagegen – "
Endlich war er mit ihr alleine und sie wanderten langsam über einen wunderschönen Sandstrand, der beinahe menschenleer zu sein schien, die fernen Menschen waren zu undeutlichen Schemen verschmolzen und berührten sie nicht...
„Ach, Yún – wenn du wüsstest, wie lange ich schon darauf warte, mit dir sprechen zu können, so wie hier – Ich – ich möchte dir so viel erzählen, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, jetzt – " Er brach verwirrt ab und betrachtete ihr Gesicht liebevoll. So lange hatte er sie vermisst, aber nun würde alles gut werden –
„Erzähl mir doch einfach, was dir in den Sinn kommt – ich habe dich sehr vermisst!" lächelte sie zärtlich und strich über seine Wange. Diese einfache Geste schien einen ganzen Damm gebrochen zu haben, denn als er sie ansah, kamen die Worte wie von alleine; aus Minuten wurden Stunden, während er ihr sein Herz ausschüttete und ihre Hand hielt.
Als die Sonne in dieser seltsamen Welt unterging, saßen sie schweigend und aneinander gelehnt auf einer steinernen Stufe, die in das Meer führte und betrachteten den farbenprächtigen Sonnenuntergang. Hotáru fühlte sich müde und zum ersten Mal seit zwei Jahren sehr zufrieden; alle Sorgen schienen von seinen Schultern abgefallen zu sein wie ein schwerer, schwarzer Schleier. Plötzlich allerdings erhob sie sich und streckte auffordernd ihren Arm aus. „Komm, Hotáru – wir müssen gehen. Besser gesagt, du musst das – es wird Zeit – " „Ja, aber – wir bleiben doch zusammen, oder? Ich dachte, wir müssen uns jetzt nicht mehr trennen, es gibt nichts mehr, dass ich dort vermisse – und keiner vermisst mich!"
„Da irrst du dich aber, Hotáru. Es gib einige Menschen, denen dein Tod sehr viele Schmerzen bereitet hat, und du musst gehen – noch gehörst du nicht hierher.", meinte Yún still und umarmte ihn heftig. Er begann zu weinen, obwohl er sich dafür furchtbar schämte, und klammerte sich an sie. „Bitte, bitte, sag' mir nicht, dass ich weg muß! Oh bitte, bitte nicht!" Aber alle Tränen nützten nichts; als die Sonne vollständig verschwunden war und sich ein graues Dämmerlicht über dem Meer ausbreitete, lächelte sie traurig und gab ihm einen letzten Kuß. „Ich wollte dir noch sagen, dass du dir keine Sorgen mehr machen sollst. Du quälst dich viel zu sehr mit Selbstzweifeln und Vorwürfen – wirf' sie einfach alle über Bord und verschließe dein Herz nicht vor denen, die dich lieben – du darfst nicht vergessen, es kann nichts zu dir zurückkommen, wenn du dein Herz nicht öffnest – " Und mit dem Grad, mit dem die Dunkelheit zunahm, verschwand auch sie immer mehr, bis die letzten Konturen wie ein feiner weißer Schleier zu verwehen schienen. Er war wieder allein.
„AU! ARGH!" Von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt und vor Schmerzen keuchend erwachte Hotáru ruckartig und riss die Augen auf. Das leichte Zupfen, dass er in seiner rechten Gesichtshälfte verspürte, belehrte ihn darüber, dass sowohl Wunde als auch Verband wieder an ihrem Platz saßen. Oh, verdammt. Für einige Stunden war er sich sicher gewesen, all dem entgültig entronnen zu sein –
Vor dem kleinen Fenster der Kammer prasselte kalter Regen an die Scheiben, grelle Blitze zuckten, und mitten aus einem ohrenbetäubenden Donnergrollen beugte sich das siegessichere Gesicht des schwarzhaarigen Mädchens in sein tränenverschwommenes Blickfeld.
„Kamomé! Hör doch auf! Du machst uns Angst!" kreischten die Kleinen im Chor und begannen eingeschüchtert und mit durchdringenden Stimmen zu heulen. Eigentlich hatte Kamomé ja noch viel mehr zu sagen, fühlte sich aber plötzlich von einem Paar kräftiger Arme gepackt und herumgedreht. Vor ihr stand Major Sākuru und grinste anzüglich, während er spöttisch mahnend den Kopf schüttelte. „Na, nicht so heftig! Hier gibt es noch andere Kranke – nicht nur euren Freund!" Als er ihren verzweifelten Blick bemerkte, wurde er allerdings schlagartig ernst und setzte sich auf den Boden. „Erzähl mir, was los ist! Warum siehst du denn aus wie drei Tage Regenwetter? Ist er – " „Er ist tot, wissen Sie?" flüsterte sie, nun etwas ruhiger, mit spröder, zerbrechlich klingender Stimme und schlang die Arme um seinen Hals. Sākuru ließ es erstaunt geschehen und drückte sie eng an sich. „Oh, das tut mir – wo ist denn die Heilerin? Wie konnte – " Das leise Knarren, mit dem sich die Tür zu dem kleinen Krankenzimmer öffnete, schnitt seinen Satz mittendurch und brachte auch alle anderen augenblicklich zum Schweigen. In banger Erwartung hoben sie ihren Blick – vielleicht war ein Wunder –
In der Türöffnung erschien eine ziemlich mitgenommen wirkende Talingo, keuchend, aber offensichtlich hoch zufrieden.
Mit einer nachlässigen Bewegung wischte sie eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und lächelte ebenso kühl wie überlegen. „So! Ich sagte ja, dass ich niemanden sterben lasse – eine kleine Herzmassage kann Wunder wirken – euer widerborstiger Freund ist wieder in das Reich der Lebenden zurückgekehrt. Möchte ich ihm auch geraten haben!" fügte sie mit gerunzelter Stirn hinzu und schüttelte ihre dichte Lockenmähne. „Ich kann es nicht leiden, wenn jemand einfach so stirbt, an einer gut versorgten Verletzung, bloß weil er keine Lust zum Leben hat! So was kommt bei mir nicht vor!"
„Können wir ihn – ist das wirklich – " stammelte Kitsuné atemlos und studierte ungläubig ihr Gesicht. Konnte es denn wahr sein? War Hotáru –
„Los, rein mit euch. Geht schon; ihr könnt es ja nicht mehr erwarten." Trotz ihrer auffallenden Kälte und Härte zwinkerte sie gutmütig und lächelte freundlich. Es war ja wirklich eine Art Wunder – sie hatte wütend mit der flachen Hand einige Male auf seine Brust geschlagen, und plötzlich hatte das Herz wieder seine Arbeit aufgenommen – ganz so, als wäre es nicht zwei Minuten zuvor stehen geblieben –
„Oh, Bruder! Du – du lebst wieder! Ich kann es nicht glauben!" schluchzte eine helle, verzweifelt – glückliche Stimme dicht neben seinem Ohr und bewog Hotáru, seinen Kopf müde zur Seite zu drehen. Kitsuné stand vor ihm und heulte zum Steinerweichen; die orangen Haare hingen wirr in sein aufgelöstes kleines Gesicht. Abgekämpft hob Hotáru seine rechte Hand und berührte damit sanft die Wange des Kleinen. „Na, nicht weinen – was hast du denn? Es geht mir doch gut, das siehst du ja – "
Immer noch weinend hob Kitsuné die Decke ein wenig an und schlüpfte zu seinem Bruder ins Bett, wo er sich heftig an ihn klammerte. „Ich gehe hier nicht mehr weg – ich lasse dich nicht mehr allein, auf keinen Fall – sonst passiert wieder was – " „Uh..." Hotáru musste seinen Kopf ziemlich weit drehen, um ihn überhaupt sehen zu können, denn er befand sich auf seiner blinden Seite. „Aber das musst du doch nicht – Mir passiert schon nichts – " „Ach nein? Es ist nur meine Schuld, dass du hier liegst – In Zukunft werde ich auf dich aufpassen, klar?" Kitsuné ließ keine Einwände mehr gelten, sondern kuschelte sich fest an ihn und schloss die Augen. Während Hotáru seinen kleinen Bruder noch mit einem nachsichtigen Lächeln betrachtete, öffnete sich die Tür leise und Kamomé sowie Watarí schlüpften vorsichtig hindurch. „He, Hotáru – wir haben uns entschlossen, dich paarweise zu besuchen, sonst wird es dir zu viel – " flüsterte das blauhaarige Mädchen sanft und setzte sich auf den Rand des hölzernen Bettgestells. Watarí grinste ihn an und strich zärtlich über seinen Kopf. „Hey, wie fühlst du dich? Kamomé hat sogar eine riesige Vase zerschmettert, weil sie so wütend auf Kiíchigo war – " „Psst! Das ist doch jetzt echt nicht wichtig!" zischte sie mahnend, schien aber nicht wirklich ärgerlich auf ihn zu sein, sondern errötete sogar noch geschmeichelt, als ihr Hotáru ein ungläubiges „Wirklich?" zuhauchte. „Na, du weißt ja, wie das so ist – es musste ihr einfach mal jemand die Meinung sagen – " „Oh, und wie du das gemacht hast – ich glaube, von dem Schock erholt sie sich einige Zeit lang nicht mehr!" kicherte Watarí vergnügt und legte seine Hand sanft auf die Brust seines besten Freundes. „Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr ich – " Seine Stimme brach plötzlich und wurde verletzlich und spröde. Bittere Tränen stiegen in seine Augen und schnürten für einen Moment seine Kehle zu. „Ich hatte solche Angst um dich – dachte, ich würde dich nie wieder sehen – aber ich habe dir doch noch so viel zu sagen – ich möchte – " Der Rest ging in bitterem Schluchzen unter, als er den Kopf auf die Decke legte und hemmungslos zu weinen begann. Kamomé schwieg für einen Moment und setzte dann zögernd an. „Ja, da hat Ukí- kun wohl recht – du darfst uns nicht einfach so alleine lassen! Wie sollen wir das denn ohne dich machen, hmm? Es gibt doch sonst keinen, mit dem ich mich so unterhalten kann wie mit dir – " „Kamomé? Kannst du mir einen großen Gefallen tun? Ich möchte Kiíchigo und Káshira noch gerne sagen, dass ich ihnen wirklich nicht böse bin wegen – " Ein schmerzhafter Hustenanfall unterbrach die Worte und ließ ihn vor Schmerz keuchen. Kamomé schnaubte ärgerlich. „Ich will ja nichts sagen, aber die beiden sind richtige Schweine. Nein, ich weiß, ich sollte das nicht sagen, aber die Zwei haben – als wir in Hínan waren – in meinem Bett – " Vor lauter Ekel und Ärger geschüttelt musste sie für eine Sekunde das Gesicht abwenden. „Weißt du, du brauchst ihnen gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben, klar? Du hast eine bessere Verlobte als sie verdient. Es wäre Verschwendung, sich wegen ihr zu kränken – "
„Ich kränke mich gar nicht, Kamomé. Kurz bevor ich – wie soll ich sagen, gestorben bin, da habe ich erst so richtig bemerkt, wie falsch ich immer gelegen bin – ich suchte die Schuld bei anderen, dabei liegt sie nur bei mir. Ich hätte erkennen müssen, dass sie ihn liebt – und er sie. Da darf ich mich nicht dazwischen stellen, weißt du?" Er lächelte leicht und wunderte sich, als sie plötzlich mit einer wütenden Bewegung auf die Beine sprang. „Ach ja? Von wegen, sich lieben! UNSINN! Findest du es denn anständig, wenn dein Verlobter – okay, Exverlobter vermisst wird, und du springst mit dem Nächstbesten ins Bett? Das ist so was von – von mies und elend, dass mir ganz schlecht wird – " Sie legte die Hände an ihr Gesicht und schüttelte aufgebracht den Kopf. „Ganz so, als hätte sie nur darauf gewartet, dass dir etwas passiert – damit sie endlich frei ist, oder was auch immer – "
„Sei nicht böse, bitte, Kamomé. Es ist lieb von dir, dass du das sagst, aber ich weiß ja selber, dass ich im Unrecht war, von Anfang an. Könntest du die Zwei mal herholen? Ich möchte es schnell hinter mich bringen – "
Wortlos und mit einem beinahe vorwurfsvollen Blick drehte sich das Mädchen langsam um und wanderte nach draußen; nach wenigen Sekunden kehrte sie mit zwei ziemlich betreten aussehenden Gestalten zurück, die sich verlegen vor sein Bett stellten und kleinlaut von einem Fuß auf den anderen traten. „Komm, Ukí, wir gehen jetzt besser," meinte Kamomé mit kalter, klarer Stimme und zog den immer noch schluchzenden Jungen mit sich. Kitsuné war nicht aus dem Bett zu kriegen; er hatte sich an die Schulter seines Bruders geklammert und war sofort vor lauter Erschöpfung eingeschlafen.
„Okay... nett, dass ihr gekommen seid," begann Hotáru leise, nachdem keiner der beiden etwas sagen wollte. „Ich – ich will euch ja gar nicht lange aufhalten, wisst ihr – aber ich wollte nur noch sagen, dass ich es ernst gemeint habe – was ich vorhin gesagt habe. Es macht mir nichts aus, dass ihr beide – " Er stöhnte und krümmte sich wieder einmal vor Schmerzen. Káshira beugte sich sofort über ihn und packte seine linke Schulter. „Oh nein – hör' auf zu reden, bitte... es ist schon gut – " „Schon gut. Mach' dir keine Sorgen – " flüsterte Hotáru schwach und warf den Kopf zur Seite. „Also, ich mache es kurz – ihr beiden müsst euch keine Vorwürfe machen oder so. Ich hätte selber sehen müssen, dass ich zwischen euch beiden stehe – hätte es früher bemerken – " Sein ausgelaugter Körper krümmte und wand sich; ein heftiger Hustenanfall hinderte ihn nun vollständig daran, weiterzusprechen. Schließlich hielt es Káshira nicht mehr aus. „Shh, shh, sei doch still! Du bist gerade erst – " So sehr er sich auch bemühte, das Wort „gestorben" brachte er nicht heraus –
„Du sollst jetzt schlafen, ja? Damit du wieder gesund wirst – schließlich wollen wir auch wieder mal weg hier, okay? Und wage es ja nicht, wieder solchen Mist zu machen wie vorher, in Ordnung? Sonst kriegst du es mit mir zu tun..."
Erst als sich der Junge über ihn gebeugt hatte, erkannte Hotáru etwas, dass ihm noch nie zuvor aufgefallen war... seine Augen hatten die selbe Farbe wie die seiner toten Verlobten... Warum hatte er es nie gesehen? Und der Ausdruck darin glich Yún so sehr...
„Du bist wie – wie sie..." keuchte er noch leise, bevor sein Kopf zur Seite kippte und er im tiefen Schlaf versank.
„Was – was ist denn los mit ihm? Das ist ja schrecklich – " schluchzte Kiíchigo hinter ihm und rang verzweifelt die Hände. Plötzlich fühlte Káshira ein ärgerliches Gefühl in seiner Brust – konnte sie denn nicht sehen, was mit Hotáru passierte? Sie ging ihm auf die Nerven!
„Komm schon, Kií. Wir gehen jetzt besser – er ist eingeschlafen. Am besten wird wohl sein, heute besucht ihn keiner mehr, ich glaube, er braucht Ruhe.", murmelte Káshira leise und zog sie an ihrem Handgelenk hinter sich nach draußen.
„Na, dann wäre ja alles in Ordnung, nicht wahr? Der König wird zufrieden sein!" jubelte Yamanéko außer sich vor Freude und küsste ihren Dánna herzlich. Gerade hatte er die Soldaten entlassen und seinen Saurier in die Ställe gebracht; auch war es ihnen gelungen, den alten Pul abzuschütteln. Nun saßen sie in ihrem Wohnzimmer auf einem der kleinen Sofas und knabberten an den Süßigkeiten, die ein kleiner Diener eilig herbeigebracht hatte. Mosar gestattete sich den Luxus, die meisten seiner Hüllen fallen zu lassen; sehr zur Freude Yamanéko's trug er nur noch einen sehr leicht geschnürten Yūkata und aalte sich geschmeidig auf den Polstern. „Ach, das tut einfach nur gut! Am liebsten würde ich ewig so daliegen – bei meiner geliebten Yamá- chan..." „Ja, ja. Faulenzen, was? Heute abend habe ich wieder ein Engagement, da kommst du doch auch hin, es ist ein großes Bankett. Alle Offiziere sind eingeladen!" Anstatt ihr eine Antwort zu geben, packte sie Mosar an den Schultern und presste ihren Körper gegen die Kissen. „He, was soll denn das? Was hast du – mmmh..." Ihre spielerische Gegenwehr hatte unter dem Ansturm seiner Küsse bald ein Ende und sie begann damit, seinen Yūkata nach unten zu ziehen. Plötzlich allerdings klopfte es heftig an der Tür.
„Verd – " Ärgerlich hob er den Kopf, um zu lauschen, wen der Diener da einlassen würde. Wie erwartet, konnte man die ruhige, sanfte Stimme des Hauptmanns hören, die nach ihm fragte. Mit einem bedauernden Seufzen schob ihn nun Yamanéko zur Seite und zog ihren Kimonó wieder in die richtige Lage; Mosar musste das selbe tun. „Immer das gleiche!"
„Ähm... Hauptmann Matandua bittet höflichst darum, mit euch sprechen zu dürfen. Er wartet im Vorzimmer..." wisperte der kleine Diener untertänig vor der dünnen Schiebetür. „Schon gut!" rief Yamanéko gereizt aus und verschwand in einem Nebenzimmer, um ihr Make-up in Ordnung zu bringen. „Geh' raus und frag' ihn, was er will, Jīngtǐ, und dann komm' so schnell wie möglich wieder, ja?"
„Ja?" Mosar war gereizt. Da hatte er einmal Zeit, um sich mit Yamá- chan näher zu befassen, und dann gleich wieder eine Störung –
„Verzeiht mir bitte. Ich würde Euch nicht belästigen, wenn es nicht dringend wäre, aber der König lässt Euch ausrichten, dass er auf Bericht wartet. Sobald es möglich ist, sollt Ihr bitte erscheinen – " Matandua zitterte am ganzen Körper. Der heftige Regen hatte ihn völlig durchnässt und die Kleider klebten an ihm; schön langsam wurde es unangenehm kühl. „Der fremde Junge bei Heilerin Talingo ist gestorben, konnte aber noch einmal ins Leben zurückgerufen werden, Major Sākuru befand sich gerade dort."
Während seiner Rede hatte sich der General eilig in seine Rüstung geworfen und zog nun gerade die letzten Schnüre fest. „Ich bin fertig, wir können gehen. Es ist besser, Shi Huángdì nicht zu reizen, sonst können wir uns auf was gefasst machen."
Mit gesenkten Köpfen eilten die Männer hinaus in den heftigen Regen. Bereits nach wenigen Sekunden konnte Mosar die unangenehme Kälte fühlen, die seinen ganzen Körper durchdrang und ihn zum Schaudern brachte. „Scheußliches Wetter, Matandua! Geht in euer Haus, der König verlangt nur nach mir! Sonst werdet Ihr euch noch erkälten!" „Ich danke Euch, General Mosar! Ihr seid zu gütig!" rief der Hauptmann erleichtert aus und verschwand eilig im dichten Regenschleier.
Erheitert schüttelte Mosar den Kopf und eilte weiter in Richtung Hauptpalast, wo ihn der Wachposten mitleidig musterte und nach innen lotste.
Im Empfangszimmer des Herrschers angekommen erwartete ihn keine freundliche Aufnahme, sondern lediglich ein unzufriedenes Gesicht. „Mosar! Soeben musste ich erfahren, dass diese Ahimsa- Rebellen eine Eisenschmiede angezündet haben – und wie geht es mit eurer Waffenproduktion voran?" „Der schwarze Staub aus Basara und der Häftling Shíkū konnten uns gute Dienste leisten. Die ersten Feuerrohre sind bereits in Produktion gegangen; ich bin sehr zuversichtlich." „Gut.", antwortete der König und vertiefte sich wieder in die Dokumente auf dem Tisch. „Ihr kümmert Euch natürlich auch um die Gefangenen, nicht wahr? Hauptsache, sie richten keinen Schaden an. Wie ich hörte, hat sich Madame Míkan des Problems der Unterkunftssuche angenommen; sie ist sehr tüchtig." Ohne Mosars Antwort abzuwarten hob er die Hand und winkte heftig. „Das war dann alles, General. Ihr könnt gehen; enttäuscht mich nicht. Gut für Euch, dass Ihr diese Kinder fangen konntet – nun kümmert Euch um die Rebellen." „Jawohl." Mosar verbeugte sich und senkte leicht den Kopf. Verdammt. Yamanéko würde ihn töten –
„Ihr könnt natürlich solange Urlaub machen, wie dieser Regen anhält – in der Zwischenzeit sind die Straßen ohnehin unpassierbar. Aber ich will, dass diese verdammte Ahimsa- Gruppe gefangen wird; solche Terroristen kann ich nicht dulden. Sie zerstören unser Reich – "
Endlich war er aus dem Schloss und eilte Yamanéko's Häuschen zu; als er es beinahe erreicht hatte, schwang die Tür auf und traf ihn kräftig an der Schulter. „AU!"
„Stell' dich nicht so an! Wie alt bist du eigentlich?" scholl ihm eine ärgerliche Stimme entgegen. Seine Géisha hatte sich in Schale geworfen und die Füße in 15 cm hohe Sandalen geschoben; nun stöckelte sie unter mürrischem Knurren unter einem Regenschirm, den ein hochgewachsener Diener sorgsam über sie hielt, auf die Straße. Wider Willen musste Mosar grinsen und schloss sich ihr an.
„Na, was soll denn das werden, hmm? Ein Gewaltmarsch durch strömenden Regen?" Er musste kichern und kassierte dafür eine heftige Kopfnuss von seinem Liebling, die Yamanéko auf ihren Sandalen gehörig ins Schwanken brachte. „Klappe, ja? Wenn ich dumme Kommentare hören will, dann frage ich danach! Ich geh' aufs Bankett, falls es dich interessiert! Da du ja keine Zeit für mich hast, gehe ich eben arbeiten! Ist ja nicht so!" „Pah, Yamá! Jetzt beruhige dich doch erst mal und hör' mir zu! Ich habe Urlaub! Solange der Regen hält! Und auch danach noch so um die zwei, drei Tage, bis die Straßen wieder passierbar sind! Ist das nicht toll?"
Irgendwie kam er sich ziemlich blöd vor, wie ihm der Regen in den Kragen lief und das Wasser in seinen Stiefeln quietschte. Yamanéko betrachtete ihn von oben herab. „Na schön. Dann will ich dir noch mal verzeihen. Komm, wir gehen jetzt zu meinem Engagement, und dann..." Ihre Stimme wurde leiser und um einiges verführerischer. „Ständig läufst du quer durch Asante, und ich habe gar nichts von dir..."
Im Teehaus angekommen empfing sie die Okami- san mit einem erstaunten Blick. „Ja, Yamanéko! Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du heute kommst – wo doch dein Dánna hier ist – " „Pah! Deshalb lasse ich doch kein Engagement ausfallen! Bloß, weil der Herr mal wieder Zeit hat..." „Ach! Yamá! Jetzt sei doch nicht so – " begann Mosar gequält und schnaubte verzweifelt. Die Okami- san wandte sich ihm nun erst richtig zu und stieß einen erschrockenen Schrei aus. „Ja, General! Völlig durchnässt! Seid Ihr denn den ganzen Weg hinter Yamanéko hergelaufen, ohne Regenschutz? Das ist ja furchtbar gedankenlos!"
Resolut packte sie seine Hand und zog ihn hinter sich her. „Ich werde Euch frische Kleider geben, sonst holt Ihr euch noch eine Erkältung. Yamanéko wird inzwischen schon mal in den Saal gehen – "
Gesagt, getan. Als Mosar schließlich ebenfalls den großen Saal des Teehauses betrat, im dem das Bankett stattfand, trug er einen hübschen Kosode- Kimonó, der Yamanéko in Begeisterung versetzte. Da sie allerdings gerade Major Sākuru bediente, musste sie sich sehr zusammennehmen. Ihr Dánna platzierte sich an dem riesigen Tisch und begann ein unkonzentriertes Gespräch mit einem der Höflinge, der neben ihm saß und schon ziemlich angeheitert wirkte. Eigentlich hätte er diesen Abend viel lieber alleine mit ihr verbracht...
Leise huschte die Géisha zur Tür und winkte die Okami- san zu sich. „Ich würde so gerne gehen – war doch eine blöde Idee, hierher zu kommen. Äh, nichts gegen dich!" stotterte sie verlegen und errötete. Die Teehausbesitzerin grinste verständnisvoll und nickte leicht. „Na, dann hau' schon ab. Wegen diesem Regen sind sowieso nicht alle da – es fällt nicht auf, wenn du mal fehlst. Den Kimonó darf er noch bis zu deinem Haus anbehalten, bring' ihn mir bald zurück, ja? So, und jetzt geh' – "
Hellauf zufrieden und glücklich kehrte Yamanéko in den Saal zurück und kniete sich neben Mosar. „Hör' mal, Jīngtǐ – ich weiß ja nicht, ob es dir recht ist, dass ich dich aus diesem interessanten Gespräch reiße, aber – die Okami- san gibt mir frei... Wir können sofort nach Hause gehen, wenn du möchtest – " „Ja! Los, sofort! Keine Sekunde länger bleibe ich hier..." Nur mit Mühe gelang es ihm, sich wenigstens bis zur Tür zusammenzureißen und langsam zu gehen; kaum befanden sie sich vor der Tür, packte er sie begeistert und wirbelte sie durch die Luft. „Juhu! Endlich mal ein schöner Abend! Und der Regen macht alles noch heimeliger...!"
Der Diener konnte ihnen nur mit Mühe folgen, als sie es schafften, trotz Yamanéko's riesiger Sohlen einen richtigen Endspurt hinzulegen. Beide Kimonós waren klatschnass und klebten an ihren Körpern, als sie endlich den Eingang des Häuschens erreichten und in den Vorraum fegten. „Shh, shh, wir müssen ein bisschen leise sein. Fräulein Fují von oben hat sich das letzte Mal beschwert, dass wir immer so laut sprechen, wenn wir durch die Tür gehen – ich bin ja bloß froh, dass sie nichts vom Wohn – oder Schlafzimmer hört." „Oh, heute gibt es jedenfalls was zu hören – da kannst du dir sicher sein!" kicherte Mosar und nahm sie fest in den Arm. Der Diener hielt sich respektvoll im Hintergrund und wartete auf weitere Befehle; vielleicht wollten die Herrschaften ja noch etwas...
„Du kannst gehen. Für heute gibt es nichts mehr, dass du uns bringen musst, in Ordnung? Vielen Dank für deine Hilfe!" lächelte Yamanéko freundlich und entließ ihn mit einem Wink. „So, und jetzt raus aus den Sachen – du wirst ja sonst noch krank..." Erwartungsvoll zupfte sie an seinem Kragen und schob ihn ein wenig zur Seite, bis seine nackten Schultern sichtbar wurden und er schelmisch zu lächeln begann. „Wie zärtlich du doch bist, meine Kleine..." Sanft begann er seine Hände über ihren Kimonó gleiten zu lassen und küsste liebevoll ihren schmalen Hals. „Mmmh... manchmal wünsche ich mir, ich könnte jeden Tag bei dir sein – müsste nicht mehr weg – aber dann – " „Dann weißt du, dass das niemals gut gehen würde – weil du gerne Soldat bist. Und ich würde das nicht wollen – dass du unglücklich bist – " Inzwischen hatte er es bereits geschafft, ihren "bi zu lösen und vorsichtig auf den Boden gleiten zu lassen. Yamanéko quittierte seine Bemühungen mit einem wissenden Lächeln. „Hmmm... du wirst immer besser, Liebling... mit jedem Mal..." „Ach, die Soldaten, du weißt ja – " „Ja, sie sind gute Lehrmeister, was?" grinste die Géisha und streckte ihm die Zunge heraus. Mosar reagierte prompt und zog fester an ihrem Gewand, bis es schließlich ebenfalls zu Boden fiel. „Na, so stürmisch?" „Soldaten sind eben schnell – im Zelt hat man nicht so viel Zeit, weißt du? Und jeder will befördert werden – "
Yamanéko konnte sich nicht helfen, sie musste einfach haltlos kichern und ungeschickt an seinem Kimonó fingern, was wiederum ihn zum Lachen reizte. „Soll ich das vielleicht für dich machen? So wie du dich anstellst – " „Psst, sei still! Ich kann das schon, wenn du aufhörst, solchen Unsinn zu reden! Wenn ich lache, dann geht's nicht – " Trotzdem riss sie sich zusammen und schaffte es doch noch, seinen Kimonó zu öffnen und über seinen Rücken nach unten zu schieben. „Ha, siehst du? Ich kann – " Weiter kam sie nicht mehr, denn Mosar küsste vorsichtig ihre Schultern und wanderte langsam nach unten, bis er an ihrem Bauchnabel angekommen war. „Hmm... meine kleine Yamá- chan..." „Uh..." Sie stöhnte und strich mit beiden Händen über seinen Kopf. „Ich mag es lieber, wenn deine Haare offen sind-"
Sanft suchte sie nach dem Band, dass den langen Zopf zusammenhielt und löste es vorsichtig; Mosar hatte keine Zeit mehr gehabt, die Haare wie üblich zu flechten. Was ihr persönlich sehr recht kam.
Nachdem er sich wieder nach oben geschlängelt hatte, fielen die weichen, weißen Haare wie ein schimmernder Wasserfall über ihre Brust und hüllten sie beinahe völlig ein. Dieses Gefühl vermisste sie jedes Mal, wenn er wieder einmal auf Reisen war und sie befürchten musste, ihn nie wieder zu sehen – schon als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, waren ihre Überlegungen sofort in diese Richtung gerutscht. Wie man sich wohl fühlen mochte unter solch einer Woge aus feinen Haaren...
„Mmmh..." Als er erneut ihren Hals und Mund zu küssen begann, entspannte sie sich völlig und ließ ihm freie Hand. Wie glücklich sie war, einen so schönen Liebhaber zu haben...
„Dieses Zimmer ist so – so überladen! Ich weiß nicht, ob ich da überhaupt einschlafen kann!" stöhnte Tókui überwältigt und drehte sich im Kreis. Die alte Frau hatte sie schließlich, als sie alle zusammen unschlüssig und erschöpft im Gang des Krankentraktes gestanden waren, eingesammelt und ihnen befohlen, ihr zu folgen. Nach einem anstrengenden Marsch durch den heftigen Regen waren sie endlich vor einem großen, weiß schimmernden Gebäude stehen geblieben. Zwar dauerte es einige Sekunden, bis sie die Konturen erkannten, aber dann –
„Unglaublich! Das Taj Mahal im Kleinformat!" platzte Kagamí als erster heraus. Die restlichen Pfadfinder staunten mit offenen Mündern, bis sie die alte Frau mit wütendem Zischen nach innen trieb. „Los, los! Beeilung, es schüttet!"
Im Inneren des Palastes sah es ebenso unglaublich aus. Feinster weißer Marmor zierte die Wände und Säulen; unzählige Reliefs und Bilder zierten die langen Gänge. Jede einzelne Tür wies prunkvolle Ornamente aus Gold und Edelsteinen auf; die Kinder wagten kaum, einzutreten. Die Zimmer waren ebenfalls kostbar ausgestattet; hier hatte man nicht mit wertvollen Stoffen gespart.
Alles hier war in einem indischen Stil gehalten, mächtige Himmelbetten, überspannt von Seidentüchern in leuchtenden Farben und dekoriert mit unzähligen Polsterrollen aus Samt und Brokat prangten mitten im Raum. Zierlich geschnitzte Möbel vervollständigten das aufwendige Gesamtbild. Kein Wunder, dass die Pfadfinder bei dieser Übermacht von gestickten Decken, Vorhängen und Teppichen kaum noch Luft bekamen. Die alte Frau, inzwischen nicht mehr namenlos, sondern Madame Míkan, verzog ihre Mundwinkel zu einem grimmigen Lächeln und hustete kurz. „Die Prinzessin bevorzugt diese Art von Ausstattung, darum ist hier jedes Zimmer nahezu gleich. Nachtgewand befindet sich in jedem der Betten; die Waschräume sind an die Räumlichkeiten angeschlossen. Ich wünsche eine gute Nacht."
Und weg war sie; die Kinder sahen sich reichlich verwirrt an. „Ja, was heißt denn das jetzt? Soll sich jetzt jeder von uns ein Zimmer aussuchen, und dann – " „Offensichtlich!" antwortete Tókui, die sich von ihrem anfänglichen Schock recht gut erholt hatte und die Zimmer nun begierig musterte. „Ist zwar nicht so ganz mein Geschmack, aber für ein paar Nächte – wie in einem teuren Hotel oder so. Total cool! Ich wollte schon immer mal wissen, wie man sich so als Prinzessin fühlt!"
Nach diesem anstrengenden Tag fielen alle mehr oder weniger erschöpft in ihre Betten; einige allerdings begann ein sehr schlechtes Gewissen zu plagen; allen voran Káshira und Kiíchigo.
Während sie in ihrem riesigen Bett lag und vergeblich einzuschlafen versuchte, kam ihr Hotáru immer und immer wieder in den Sinn, und sie begriff endgültig, dass es heute ziemlich knapp gewesen war. Er hätte tot sein können – es war wie ein Wunder, dass er den Weg zurück überhaupt geschafft hatte –
Gut, dass sie heute alleine schlief; keiner sollte ihre Tränen sehen, denn nach einer Weile heulte sie bereits wie ein Schoßhund und konnte für längere Zeit nicht damit aufhören.
Káshira ging es ähnlich, obwohl er nicht weinte, sondern handfeste Magenschmerzen bekam, die ihn beinahe bis zum Morgengrauen um den Schlaf brachten. Er konnte nicht aufhören, an diese toten grünen Augen zu denken, die anklagend vor seinen Lidern erschienen; so sehr er sich auch bemühte, sie weigerten sich zu gehen. Was vor einigen Stunden geschehen war, brannte sich immer tiefer in sein Gewissen ein und schmerzte wie eine schwärende Wunde. Und Suigín hatte ihm auch noch vergeben. Es wäre leichter gewesen, hätte er ihm Vorwürfe gemacht, aber so –
Kitsuné hatte man nicht dazu bewegen können, aus dem Bett seines großen Bruders zu steigen. Voll panischer Angst, er könnte ihn wieder verlieren, klammerte er sich an den Decken fest und weigerte sich energisch, den Raum zu verlassen. Talingo ließ ihm schließlich einen Futón richten; nach einiger Zeit würde er schon von selbst in das Bett steigen. Vermutlich wollte der Kranke auch mal seine Ruhe haben, im Moment allerdings lag er wieder einmal nahezu bewusstlos in den Laken. Na, wenigstens außer Lebensgefahr.
Watarí schlummerte die Hälfte der Nacht ziemlich beruhigt und friedlich; dann wachte er aus unerfindlichen Gründen auf und musste daran denken, dass er Hotáru nun die Wahrheit über seine Gefühle beichten musste. Er konnte nicht noch einmal seinen Tod riskieren und auf ein Wunder hoffen –
Kamomé war neben Tókui, Moko und den Kleinen die Einzige, die mit ruhigem Gewissen schlief, denn auch Sachou plagten Gewissensbisse. Er war immer stolz darauf gewesen, mit so gut wie allen Mitschülern ein halbwegs gutes Verhältnis zu haben; kaum jemand hatte so abweisend und kalt reagiert wie Suigín. Vielleicht aber lag die Schuld bei ihm, und er hätte sich mehr bemühen müssen – es war besser, nicht daran zu denken, was ihm bei ihrer Rückkehr, an die er ganz fest glaubte, geblüht hätte. Vermutlich endlose Vorwürfe von Lehrern und Eltern sowie handfeste Schläge von Seiten seines Vaters. Überhaupt wollte er nicht, dass so etwas passierte, während er für seine Clubkameraden verantwortlich war –
Kagamí dagegen verschwendete kaum einen Gedanken an Hotáru; er machte sich eher Sorgen um Sénsō. Was diese Leute wohl mit dem kleinen Saurier anstellten? Einfach schrecklich, diese Ungewissheit –
Der Regen hielt auch am nächsten Morgen in der gewohnten Stärke an; die einzigen, die das wirklich freute, waren Mosar und Yamanéko. Der Urlaub wurde immer länger...
„He, du da! Komm' mal her." Eine energische Stimme hielt Káshira zurück, als er sich gerade müde und erschöpft über den Hof drückte. Es war noch sehr früh; die Sonne hing in einem Dunstschleier über dem Horizont. Wann und wo es Frühstück geben würde, hatte ihnen keiner gesagt und er wollte auch nichts essen. Die Nacht lag ihm noch bleischwer im Magen.
Das Mädchen von gestern, die Heilerin, diese Talingo, kam mit schnellen Schritten hinter ihm her und sah ihm kühl in die Augen. „Dein Freund isst schon seit Tagen nicht, und ich habe keine Zeit, mich nur um ihn zu kümmern. Es gibt noch viele andere Patienten, um die ich mich kümmern muß, deshalb möchte ich, dass du dich darum kümmerst."
Der Regen schlug kühl und immer heftiger auf sie nieder, Talingo trat ungeduldig von einem Bein auf das andere und betrachtete ihn ärgerlich, aber Káshira konnte sich nicht dazu entschließen, zuzustimmen. Er war sich einfach nicht sicher, ob er es wagen konnte, Hotáru entgegenzutreten. Was er getan hatte, erzeugte immer größere und größere Schuldgefühle –
„Jetzt komm' schon. Hier, Dengei wird dir sein Essen geben und du kümmerst dich darum, dass er wieder zu Kräften kommt. Ich befürchte, dass sonst noch einmal so was wie gestern passieren könnte – aber dann schafft er es möglicherweise nicht mehr."
Das war keine Bitte mehr, sondern ein handfester Befehl, also machte sich Káshira mit schlechtem Gewissen und Übelkeit im Magen auf den Weg zu den Krankenzimmern, wo er schon von Dengei erwartet wurde. „Hier, Herr. Das Essen für den Patienten, wie es die Heilerin angeordnet hat!" Der Kleine strahlte und drückte ihm eine Schale mit Reissuppe in die Hand. „Ich hoffe, Ihr werdet es schaffen – bisher ist es noch keinem gelungen. Viel Glück!" Freundlich winkend verabschiedete er sich und trug weitere Schalen in andere Zimmer, um auch den dortigen Patienten ihr Frühstück zu bringen. Káshira blieb noch einen Moment lang unschlüssig stehen, dann klopfte er leise und trat verlegen in das kleine Zimmer ein. Hotáru war bereits aufgewacht und starrte mit leerem Blick vor sich hin; Kitsuné lag fest schlafend und dicht an ihn gekuschelt in dem kleinen Bett. Erst als sich Káshira verlegen räusperte, drehte der blonde Junge langsam den Kopf zur Seite und bemühte sich, trotz seines eingeschränkten Blickfeldes etwas zu erkennen. Als er ihn schließlich sah, begann er müde zu lächeln. „Oh, guten Morgen. Du bist schon wach?" „Mmh, ja. Diese Heilerin ist eine verflixt strenge Frau, weißt du? Sie hat mir gesagt, ich soll dir was zu essen bringen – du musst hungrig sein." „Nein, gar nicht. Nimm' es bitte wieder mit, ja?" antwortete Hotáru teilnahmslos und drehte seinen Kopf wieder zur Seite; offensichtlich hatte dieses Mädchen recht gehabt. Als ihn Káshira so betrachtete, fiel ihm zum ersten Mal auf, wie dünn und blaß sein Schulkollege geworden war. Der hatte doch sicher schon seit über einer Woche nichts mehr im Magen -
„Los, keine Widerreden! Du musst aber was essen!" Káshira wurde energisch. So würde das jedenfalls nicht weitergehen - „Ich will aber nicht! Geh' und laß' mich in Ruhe!" gab Hotáru mehr überrascht als ärgerlich zurück. Was sollte denn dieses plötzliche Getue? Als ob er sich um ihn kümmern wollte –
„Ende der Diskussion. Da, iss' jetzt, klar? Sonst füttere ich dich eben." „Na, dann viel Spaß. Möchte mal sehen, wie du das anstellen willst." Höhnisch grinsend streckte er ihm die Zunge heraus und schloss wieder die Augen, denn Káshira würde sicher gleich wieder gehen –
„He, was – " Hotáru schreckte entsetzt auf und starrte fassungslos um sich. Gerade hatte irgend etwas nach seinem Gesicht gegriffen – eine Hand drückte kräftig gegen sein Kiefer und zwang ihn, den Mund zu öffnen. „Káshira, versch – " Weiter kam er nicht mehr, denn plötzlich...
„Mmmh..." Der Junge, den er schon seit der Grundschule kannte, entpuppte sich als ziemlich einfühlsam und zärtlich im Umgang mit seiner Zunge. Hotáru wurde puterrot und versuchte zunächst, sich gegen den Kuß zu wehren, ließ es dann aber sein. Seit Yún gestorben war, hatte er nie mehr etwas Ähnliches gefühlt – Kiíchigo war damit nicht im mindesten zu vergleichen..
„So." Nachdem sich Káshira wieder von ihm gelöst hatte, schob er seinem ganz privaten Patienten sofort einen Löffel Reissuppe in den Mund. Hotáru war zu verwirrt, um sich zu wehren und schluckte die Portion brav, obwohl ihm davon übel wurde... sein Magen brauchte wieder Zeit, um sich daran zu gewöhnen –
Nach weiteren zwei Bissen schloss er wieder den Mund und drehte den Kopf weg, um nichts mehr essen zu müssen... aber Káshira war auf Draht.
„Wenn du jetzt aufhörst, dann küsse ich dich wieder, klar? Ich habe viel, viel Zeit – und höre erst auf, wenn die Schüssel völlig leer ist, okay? Und jetzt – " „Hör auf, bitte! Wenn mein Bruder was mitkriegt – " „Pah, die Kleinen sind doch noch verruchter als wir zwei. Die haben ihre Feuertaufe ja schon längst hinter sich..." Káshira lachte amüsiert auf und küsste Hotáru ein zweites Mal mit offensichtlichem Genuss auf den Mund, was diesen fast zur Verzweiflung brachte. „Mmmh, nein, nein, nicht – wenn uns jemand sieht – " „Tja, dann musst du eben brav essen, nicht? Da, Mund auf – " Artig und ohne sich weiterhin zu wehren, ließ sich Hotáru wieder von ihm füttern und nach einiger Zeit war die Schüssel auch wirklich leer. Gerade als ihm Káshira ein siegessicheres Lächeln schenkte und sich anschickte, ihn noch einmal zu küssen, wachte Kitsuné mit einem erschrockenen Ruck auf und starrte die beiden höchst verwirrt an. Mit einem bedauernden Seufzen lehnte sich der braunhaarige Junge wieder zurück und lächelte dem Kleinen zu. „Hey, auch mal munter? Hotáru hat gerade gefrühstückt, wenn du auch was haben willst, solltest du lieber in den Palast gehen – oh, du weißt ja gar nicht, wo der genau ist – schon okay, ich gehe dann mit dir hin. Keine Sorge..."
„Nein, ich gehe nicht weg. Ist auch nicht nötig, dass ich was esse, mir geht's gut.", antwortete der kleine Junge mit fester Stimme und schüttelte energisch den Kopf. „Ich lasse meinen Bruder nicht mehr alleine." „Aber Kitsuné... das ist doch wirklich nicht nötig! Mir geht es gut hier, in der Krankenstation kann mir nichts passieren." „Nein." Kitsuné schloss die Augen und blieb hart. „Nie wieder werde ich zulassen, dass dir etwas geschieht. In Zukunft laufe ich nie wieder weg – du sollst nie wieder leiden. Ich werde nicht zulassen, dass du Schmerzen hast." Für eine Sekunde schwiegen alle, dann lächelte Hotáru beinahe zärtlich und strich seinem Bruder über die Wange. „Ach was, um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du weißt ja, Unkraut verdirbt nicht..." „Nein." Der Kleine blieb unverrückbar bei seiner Meinung und kreuzte die Arme. „Ich werde nicht gehen." „Dann schicke ich eben Chujitsu her. Du kannst ja nicht hungrig bleiben – und er kommt sicher gern." Mit diesen rätselhaften Worten verabschiedete sich Káshira und verschwand eilig aus der Tür, während ihm der verwirrte Blick der zwei Brüder folgte. Was er damit schon wieder meinte...
Kichernd wanderte Káshira durch den strömenden Regen in Richtung Palast zurück und konnte an nichts anderes als Hotáru denken. So langsam begann ein Verdacht in ihm zu reifen; anscheinend war es mehr als nur Gemeinheit, wenn er den blonden Jungen küsste – Verdammt, wenn das so weiterging, dann mutierte er zu etwas, an dass er lieber gar nicht dachte – solche Dinge hängte man besser ungeliebten Klassenkameraden oder ähnlichen Leuten an. Nein, er hatte noch nie etwas für Männer empfunden und gedachte auch, es dabei bewenden zu lassen. Frauen waren ihm nun mal bei weitem lieber...
„AH! HILFE!!" In Gedanken versunken hatte er für einen Moment nicht auf den Weg geachtet und zuckte nun vor Schock zusammen. Vor ihm schälte sich ein großer, bedrohlich wirkender Schemen aus dem Regendunst – es sah nach einem Saurier aus –
„He, ganz ruhig, mein Kleiner – " Eingeschüchtert wich er einen Schritt zurück und schreckte beruhigend die Hand aus; das große Tier ließ sich davon allerdings kaum beeindrucken, denn es kam unbeirrbar immer näher und näher...
„He, Junge! Ganz ruhig, ja? Nicht bewegen, und auf keinen Fall berühren!" rief ihm plötzlich eine laute, heisere Stimme aus der Nähe des Palastes zu. „Bleib' einfach nur stehen – "
„Oh, oh nein! NEIN! Das darf doch nicht wahr sein!" flüsterte Káshira verängstigt und riss plötzlich die Augen weit auf, als ihm etwas äußerst Ungewöhnliches an diesem Tier auffiel – es trug nämlich ein weinrotes Kleidchen nebst weißem Häubchen...
