32. Kapitel

Asuka

„Nun? Worum möchtest du mich denn bitten?" warf die Prinzessin zuckersüß hin und lächelte entzückt, als Hotáru im ersten Moment befremdet schwieg und sie erstaunt musterte. Was dachte sich die eigentlich – na, egal, solange sie ihm helfen konnte –

„Ähm, äh – edle Prinzessin?" begann er zögernd und fasste Mut, als sie holdselig lächelte und sich auf die Bettkante setzte. „Ich – ich hätte eine große Bitte an Euch, wenn es nicht zu lästig fällt – " „Aber nein! Ich bin doch schon beinahe die Regentin dieses Reiches, da muß ich mich um meine Untertanen und so weiter kümmern... ihr seid doch nicht unsere Feinde, oder? Ich meine, so was muß ich doch wissen..." „Ähm..." Hotáru brach verwirrt ab und starrte sie etwas fassungslos an. „Nein, natürlich nicht... Aber worum es eigentlich geht – Ihr habt Euren Soldaten doch den Befehl gegeben, einen meiner Kameraden hinrichten zu lassen – könnt Ihr das Urteil denn nicht rückgängig machen? Wisst Ihr, er ist wirklich nett, wenn man ihn näher kennenlernt – " „Das ist doch der freche Kerl, der mich beleidigt hat, oder? So was Unverschämtes! Sei lieber froh, dass ich ihn vom Antlitz dieses Planeten tilgen lasse! Solche Leute machen bloß Schwierigkeiten!" zischte die Prinzessin ärgerlich und wäre beinahe wutentbrannt aufgesprungen, als sie seinen flehenden Blick bemerkte und ihr Herz schmolz. „Na, das liegt jetzt aber nicht mehr in meiner, sondern in der Hand meines Vaters – er befiehlt alle Hinrichtungen und lässt sie ausführen, weißt du? Das ist nicht mehr so einfach – " Asuka schüttelte bedauernd den Kopf und seufzte leicht. Wie schade, dass sie dem hübschen Fremdling nicht helfen konnte... „Warum bittest du ihn denn nicht einfach? Er ist doch dein Vater, da wird er nicht so hart sein – wenn du es ihm erzählst – " keuchte Hotáru verzweifelt und fasste vorsichtig nach ihrer Hand. „Ihr seid doch gütig, oder nicht? Und wer Güte zeigen möchte, muß auch manchmal seine Meinung ändern und Stolz hinunterschlucken, oder?"

In jedem anderen Fall, bei jedem anderen Menschen wäre Asuka in diesem Moment zutiefst beleidigt aufgestanden und schnurstracks zu ihrem Vater gelaufen, um alle beide hinrichten zu lassen. Aber irgend etwas hielt sie zurück. „Du bist aber ziemlich frech, weißt du das? Eigentlich würde ich dich ja genauso hängen lassen wie diesen unverschämten Kerl, aber – nun gut. Man soll der Prinzessin von Asante ja nicht nachsagen können, sie hätte keine Gnade bewiesen." Mit einem undurchsichtigen Lächeln erhob sie sich leicht und beugte sich sanft über den Kranken. „Aber dafür verlange ich eine kleine Gegenleistung..." „Und – und was?" stammelte Hotáru erstaunt und zog plötzlich mit dem Gefühl einer düsteren Vorahnung die Augenbrauen zusammen. „Ihr – wollt doch nichts – " „Nur ein kleines Küsschen! Das wird dir doch nicht gleich das Genick brechen, oder?" lächelte Asuka anzüglich und nahm sein Gesicht in beide Hände. „Komm her..."

Hotáru tat es nur für Káshira. Es war das selbe wie bei Kiíchigo – er fühlte nichts oder eher, er fühlte sich noch schlechter als zuvor. Warum konnten sie ihn nicht einmal mit ihren verdammten Trieben in Ruhe lassen? Es gab doch genug Männer auf der Welt, die hübscher und klüger waren als er. Ständig war er nur die zweite Wahl, bloß, weil er gerade hier war und sich nicht wehren konnte...

„Wirst du deinen Vater bitten? Du bist doch die Prinzessin." „Äh, ja, aber natürlich. Eine Prinzessin bricht doch nie ihr Wort, oder? Verlaß' dich ruhig auf mich." Damit verließ sie den kleinen Raum endgültig und schloss zufrieden lächelnd die Tür. Sie bekam ja doch immer, was sie wollte...

„Ach, Káshira. Warum musst du bloß immer solchen Blödsinn machen, hmm? So werden wir doch niemals nach Hause kommen!" flüsterte Hotáru schwermütig lächelnd in sein Kissen und begann leise zu schluchzen; als Talingo in den Raum trat und seine zuckenden Schultern sah, nickte sie müde und drehte um. Es war an der Zeit, etwas zu unternehmen.

In dieser Nacht brachte keiner der Pfadfinder ein Auge zu. Alle warteten starr vor Sorge auf das Morgengrauen, denn die Hinrichtung war dorthin anberaumt worden und als die ersten Strahlen der Sonne die hohen Wipfel der Schachtelhalmbäume trafen, sprangen sie nervös und überreizt aus den Betten. Auch Hotáru bemühte sich aufzustehen, wurde aber von Talingo streng und kompromisslos zurück ins Bett gejagt. „Hier bist du, und hier bleibst du auch. Solange das Fieber so hoch ist, kannst du dich gleich darauf einstellen, im Bett zu bleiben." Ärgerlich schob sie ihm eine Schnabeltasse in den Mund und hob sein Kinn so hart an, dass er vor lauter Schmerzen gequält aufstöhnen musste. Nebenbei fiel ihm auf, dass ihn die Heilerin immer weniger respektvoll behandelte – anscheinend fiel er ihr wirklich ziemlich auf die Nerven. Warum ließ sie ihn nicht einfach gehen? Er brauchte nicht bemuttert zu werden –

Als er sich heftig gegen ihren Griff wehrte und derart wütend aufbäumte, dass ihr die Tasse aus der Hand und zu Boden fiel, riss der Geduldsfaden endgültig. „Idiot!" zischte Talingo erbost und versetzte ihm eine kräftige Ohrfeige, die ihn hart in die Polster zurückschleuderte und für einen Moment die Luft aus den Lungen presste. „Siehst du denn nicht, dass ich schon alles tue, was in meiner Macht steht? Ich helfe dir ja! Du solltest langsam lernen, Geduld zu haben und anderen Leuten zu vertrauen! Selber kannst du ja nicht gerade viel tun, nicht wahr?" „Ja, aber – er wird sonst sterben! Das kann man doch nicht zulassen!" stammelte Hotáru außer sich und begann verzweifelt zu schluchzen, obwohl er sich vor den kalten Augen des Mädchens furchtbar schämte. „Bitte, helfen Sie ihm doch! Oh bitte! Es ist schrecklich! Ich hab's dem General ja angeboten..." „Ach ja? Versuchst du wieder mal wegzulaufen? So langsam durchschaue ich dich. Du bist doch bloß ein elender Feigling, der unter dem Deckmantel des Mitgefühls davonzulaufen versucht, nicht wahr? In Wirklichkeit liegt dir doch gar nichts an dem Jungen, oder? Sag' mir, dass ich mich irre! Los, zeig' mir die Wahrheit! Du Feigling!" lachte die Heilerin boshaft auf und erhob sich langsam, ohne die Wirkung ihrer Worte zu beachten. Hotáru reagierte trotzdem und packte sie heftig am Arm. „Das ist nicht wahr! Am Anfang vielleicht, mag sein, ich wollte nur weg, aber inzwischen ist das nicht mehr richtig! Er ist wirklich ein netter M- " „Ach, wie s!" ätzte Talingo bösartig und lächelte verächtlich. „Denkst du etwa, ich kaufe dir das ab? Leute wie du wollen doch bloß mit allen Mitteln Aufmerksamkeit auf sich ziehen, oder etwa nicht? Und erzähl' mir keine Lügen, von wegen Liebe und Mitgefühl! Du kleiner, mieser Schurke!" „Wie kommen Sie eigentlich dazu, so mit mir zu reden?" fauchte Hotáru unerwartet aggressiv auf und grub seine Fingernägel heftig in ihren Arm. „Sie kennen mich nicht und sagen solchen Schwachsinn doch nur, weil Sie sich darüber ärgern, dass ich nicht auf Knopfdruck gesund werde, nur, weil Sie es eben befehlen!" Talingo versetzte ihm zum Dank eine derbe Kopfnuss und kicherte spöttisch. „Trottel. Du wirst schon noch gesund, glaub' mir. Da kannst du gar nichts dagegen machen, weißt du? Ich habe dich von den Toten zurückgeholt, dann besiege ich deine Krankheit, die sowieso nur ein Hirngespinst ist, auch noch. Versuch' gar nicht, dich dagegen zu wehren, sonst zerfetze ich dich höchstpersönlich, klar?"

Nachdem er das Mädchen so reden gehört hatte, gab Hotáru jeden weiteren Versuch einfach auf und ließ sich vernichtet zurücksinken. Sie würde ihm ja doch nicht mehr glauben, es war sinnlos. Warum sie ihn so hasste, wusste er zwar nicht, es war aber auch schon egal. Ihm war alles egal. Wenn Prinzessin Asuka nicht ihre Beziehungen spielen ließ, dann sah er schwarz.

Talingo musterte ihren Patienten kurz und konnte sich ein ärgerliches Stirnrunzeln nicht verkneifen, das allerdings nicht auf Hotáru, sondern die Armee im Allgemeinen und Prinzessin Asuka im Besonderen gemünzt war. Dank der adligen Empfindlichkeit, wenn es die eigene Person anging, waren all ihre Bemühungen umsonst gewesen, wenn es hart auf hart kam. Und dabei hatte sie soviel Zeit und Mühe investiert...

Plötzlich drückte sich Dengei durch die Tür und winkte aufgeregt. „Die Hinrichtung beginnt gleich! Geht Ihr auch dorthin? Der Galgen ist schon aufgestellt!" „Ja, ich komme gleich. Du kannst schon vorangehen.", antwortete Talingo nachlässig und musste eilig den Kopf senken, als ein unerwartetes Lächeln um ihren Mund strich. Sie hatte einen Einfall...

Der große Innenhof, in dem die Soldaten schon das Kreuz und nun auch den Galgen aufgestellt hatten, schien vor lauter Menschen schier überzuquellen; der Regen hatte beinahe aufgehört und einen schimmernden Schleier auf den Pflastersteinen zurückgelassen. Mitten in der Menge stand Yamanéko auf ihren höchsten Sandalen und seufzte leise. Es war zwar schön, dass die Stürme zu Ende gingen, aber jetzt würde Mosar wohl wieder fort müssen – keine schöne Vorstellung! Sie vermisste ihn ja jetzt schon... Wenn der Regen doch nur noch einige Tage anhielte. Aber solche Wünsche brachten ja bekanntlich nicht viel...

Die Pfadfinder standen in der ersten Reihe und hofften bis zum letzten Augenblick, es würde noch ein Wunder geschehen, irgendwer würde diesen ganzen Zirkus auflösen und den Leuten sagen, sie sollten nach Hause gehen –

Kiíchigo musste die Augen schließen, als Káshira schließlich von zwei Soldaten unter heftigstem Widerstand auf das Gerüst gezerrt wurde und die Schlinge um den Hals gelegt bekam. Chūjitsu dagegen starrte mit starrem Gesicht geradeaus und reagierte auf keinerlei Ansprache oder andere Versuche, ihn von den Geschehnissen rund um seinen großen Bruder abzulenken. Selbst als Kitsuné vorsichtig nach seiner Hand griff und sie besorgt drückte, änderte sich der Ausdruck in den kalt und hoch konzentriert gewordenen Augen nicht.

„He, bitte, jetzt lasst mich doch frei! Was soll denn der Unsinn?" flehte Káshira verzweifelt und kämpfte erbittert gegen den festen Griff an. „Sei endlich still und trage dein Schicksal mit Würde! Immerhin sehen deine Freunde zu! Willst du ihnen denn keinen ehrenvollen Tod bieten?" zischte einer der Soldaten vorwurfsvoll. „Ich will ihnen gar keinen Tod bieten, klar? Zum Sterben ist es noch zu früh!" „Zum Sterben ist es nie zu früh!" antwortete der andere Soldat kichernd und tätschelte ihm leicht auf den Rücken. „Na dann, viel Glück im nächsten Leben! Das war eben Pech!"

Dann ließen sie Káshira alleine mit der Schlinge um den Hals auf dem kleinen Sockel zurück und stellten sich diskret zur Seite. Den Rest erledigte der Henker...

„Oh nein... oh, verfluchtes Pech!" stöhnte der braunhaarige Junge verzweifelt und wand sich in seinen Fesseln. So langsam stieg ihm der Angstschweiß auf die Stirn und seine Hände begannen zu zittern. „Hilfe! Jetzt helft mir doch!"

Plötzlich begann die Menge unruhig zu murmeln und die Aufmerksamkeit wurde schlagartig von ihm auf einen Punkt außerhalb seines Sichtfeldes abgelenkt. Auf einem der zahlreichen Balkons war ein Mann mittleren Alters aufgetaucht, der dank seiner prunkvollen Kleidung unschwer als hoher Würdenträger zu erkennen war. Die Menschen verneigten sich demutsvoll und flüsterten leise einen Namen. Káshira vergaß für einen Augenblick seine Angst und beugte sich eifrig nach vorne, um alles zu verstehen. „Shi Huángdì in seiner unendlichen Weisheit und Güte hat sich hierher bemüht, um diesen Frevler hinzurichten – seht nun alle, wie er diesen Übeltäter bestrafen wird – " tönte einer der Lakaien, die lautlos neben dem Mann aufgetaucht waren, mit kräftiger Stimme. Dank Sénsō und Hotáru wusste Káshira nun, dass der kostbar gekleidete Mann der König dieses Reiches sein musste – der „Göttlich Erhabene". Und nebenbei auch noch der Vater dieser zickigen Prinzessin...

Nachlässig und ohne ein Wort zu sagen hob der Herrscher den Arm und gebot der Menge Schweigen. Schlagartig wurde es still und einer der Lakaien begann mit monotoner Stimme die volle Länge des Urteils zu verkünden; bereits nach wenigen Minuten gab Káshira das Zuhören völlig auf. Der Text war durchtränkt von chinesischen und teilweise auch anderen asiatischen Worten, die er nicht einmal ansatzweise verstand, er hätte einen Übersetzer gut gebrauchen können. Was ihm vorgeworfen wurde, war ihm allerdings auch so sonnenklar. Das hatte er jetzt davon, warum musste er auch seine große Klappe zu weit aufreißen. Typisch... und gerade, nachdem er Hotáru ein bisschen besser kennengelernt hatte –

Obwohl er auf dem Gerüst des Galgens stand und sich ein dickes Bastseil um seinen Nacken schmiegte, konnte Káshira das dümmliche Grinsen, dass sich auf seinem Gesicht ausbreitete, nicht unterdrücken. Die Menge sah es und begann wie ein ärgerlicher Bienenschwarm zu brummen. „Seht ihn nur an, wie er da steht – glaubt wohl, er ist unbesiegbar..."

„Bloß, weil er aus einem fremden Land kommt..." Hunderte von bitteren Mienen schienen ihn mit giftigen Blicken aufspießen zu wollen.

Als der König schlussendlich wieder den Arm hob und Káshira eine sackartige Maske über den Kopf gezogen wurde, begannen die Pfadfinder verzweifelt im Chor zu stöhnen und die Arme vor ihre Augen zu schlagen. Keiner wollte dieses Schauspiel miterleben –

„HALT!" Das war keiner der Lakaien; eine helle Mädchenstimme hatte soeben gerufen. Erstaunt blickte die Masse zu ihrem König empor und jubelte wieder verhalten. „Die Prinzessin! Die schöne Prinzessin ist da!" „Vater! Dieser Junge ist doch den ganzen Aufwand gar nicht wert, nicht wahr? Es würde sich doch viel mehr lohnen, wenn er für uns arbeiten muß, anstatt nutzlos in der Erde zu verrotten... Bitte, verschone ihn noch mal, Vater..." bat das junge Mädchen mit schelmischem Augenaufschlag und schmiegte sich an seinen Arm. Der König warf ihr einen kurzen, prüfenden Blick zu und gab schließlich schmunzelnd nach. „Nun gut, dann soll es so sein. Dank der bewundernswerten Großzügigkeit der Híme wird dein wertloses Leben noch einmal geschont und du sogleich in das königliche Eisenschmelzwerk nahe der Hauptstadt gebracht. Dann soll es so sein!" Mit einem herrischen Handzeichen wurden die neben dem verwirrten Káshira stehenden Wächter aus ihrer Lethargie aufgerüttelt und packten den Gefangenen an den Armen. „Also gut! Dann eben in die Eisenschmelze..." murmelte der jüngere der beiden verwirrt und zuckte müde mit den Schultern. Gelöst atmeten die Pfadfinder auf und begannen vor lauter Erleichterung beinahe zu weinen; Kiíchigo und Sachou heulten wirklich. Kagamí starrte Kamomé, die völlig abwesend zur Seite blickte, erstaunt an und entdeckte plötzlich Major Sākuru, der sie interessiert musterte und mit ihr schon seit einiger Zeit intensiveren Augenkontakt zu halten schien. Seine Stirn runzelte sich ärgerlich, als er die beiden beobachtete und dabei ständig Sachou's Fingernägel in seiner Schulter fühlte. „Oh, dem Himmel sei Dank, dass es noch mal gut gegangen ist. Noch mehr beinahe – Hinrichtungen überlebe ich nicht mehr – dieser Káshira ist einfach schrecklich – " „Geh' von mir weg, Yumí. Du tust mir weh.", knurrte der Kleine missgelaunt und schoss Sākuru noch einen wütenden Blick zu, ehe er sich eilig umdrehte und in der Folge zwischen den Leibern der brodelnden Menge verschwand.

Inzwischen eilte Talingo mit einem seltsamen Glitzern in den Augen wieder zurück in die Heilstätte, wo sie für einige Zeit in ihren privaten Räumen verschwand um dann mit beschwingten Schritten in das Zimmer ihres Sorgenkindes zu fegen. Hotáru lag gerade mit geöffneten Augen, sonst aber völlig regungslos auf seinem Bett und starrte blicklos in die Ferne. Als sich die Heilerin näherte, hob er nicht einmal den Kopf; das verräterische Lächeln wischte es allerdings nicht von ihren Zügen.

„Na gut, Fremder! General Mosar ließ sich erweichen und hat einem Tausch der Opfer zugestimmt. Wenn du deine Worte wirklich ernst gemeint hast und anstatt des Verurteilten stirbst, dann lässt er den anderen leben. Es gibt allerdings keine öffentliche Hinrichtung, sondern – " mit geschickten Fingern fischte sie munter nach einem Gegenstand in ihrem Beutel. Hotáru starrte ungläubig auf die kleine weiße Kugel, die sie schlussendlich zu Tage förderte und richtete seinen Oberkörper skeptisch auf. „Was soll denn das – " „Oh, das hier ist eine Giftpille. Sie wirkt zuverlässig und schnell; wer eine davon schluckt, schläft friedlich ein und stirbt nach einigen Stunden. Jetzt kannst du mir ja beweisen, ob du deine Worte von vorhin ernst gemeint hast. Willst du deinen Freund retten, dann schlucke sie bis zum Morgengrauen! Oder, besser gesagt, bis kurz nach Mitternacht." Die kalten Augen blitzten kritisch und sie lächelte höhnisch. „Wenn die Sonne aufgeht, solltest du nämlich schon tot sein. Also dann," sie erhob sich langsam und drückte ihm die kleine Kugel in die Hand. „ich bin ja gespannt, wie ernst du deine Worte zu meinen pflegst!" Damit durchquerte sie den engen Raum und schloss leise die Tür, nachdem sie ihm noch einmal boshaft zugegrinst hatte. Solche Spiele machten wirklich Spaß... „He! In diesen Raum kommt mir bis morgen früh keine Menschenseele mehr, außer ich erlaube es ausdrücklich, klar?"

Die diensthabenden Heiler nickten gehorsam und wandten sich schweigend wieder ihrer Arbeit zu. Die oberste Heilerin schien ja ausgezeichneter Laune zu sein...

Inzwischen befand sich Hotáru wieder einmal in einem großen Zwiespalt. Also musste Káshira noch leben, so jedenfalls hatte sich die Frau angehört. Und der General wollte jetzt doch, dass er für ihn starb? Konnten die sich denn nie entscheiden?

Er wusste nicht mehr, was er tun sollte. Er wollte mit Káshira reden, mit diesem General, er wollte Kitsuné erklären, warum er sein Wort schon wieder nicht halten konnte. Er wollte ja für ihn sorgen, sich um ihn kümmern, aber es ging nicht... was sollte er denn nur tun...

„Watarí! Klar!" Mit Tränen in den Augen und wie ein Irrer vor sich hin grinsend hob er den Kopf und versuchte, aus dem Bett zu steigen um die Tür zu erreichen. Schon der erste Versuch schlug fehl; er musste seinen Körper irgendwie überdreht haben, jedenfalls landete er ziemlich hart auf dem Bretterboden. „AU! Verdammt – " Zu allem Überfluss hatte er sich auch noch den Kopf genau auf der linken Seite angeschlagen und die Wunde brannte wie Feuer. Erst nach einigen Sekunden schaffte er es, wieder Luft zu holen und den Oberkörper aufzurichten. Leise klappte die Tür.

„Was soll denn das werden, hmm? Ihr dürft noch nicht aufstehen, Fremder. Sonst hole ich Heilerin Talingo und dann wird sie sicherlich sehr ärgerlich werden, nicht wahr?" lächelte der eingetretene Heiler spöttisch und hob ihn ohne Mühe zurück ins Bett. „Ihr müsst Euch schonen, sonst geht es Euch noch schlechter als zuvor. Und hier – " Er schüttelte ironisch den Kopf und seufzte leise. „Jetzt ist die Wunde sicher aufgerissen – jedenfalls bilden sich hier kleine Blutflecken. Tut es sehr weh?" Als Hotáru nur den Kopf schüttelte und verlegen den Blick senkte, musterte ihn der Mann mit einem seltsamen Blick. „Ihr macht uns sehr viel Ärger, wisst Ihr das eigentlich? Warum macht Ihr bloß immer solche Sachen?"

„Ich möchte mich Watarí sprechen. Können Sie ihn denn nicht herholen? Bitte. Ich – ich muß ganz dringend mit ihm sprechen, könnten – können Sie das machen?" bat Hotáru schüchtern und wagte es nicht einmal, dem Heiler, der gerade den Verband abwickelte, in die Augen zu sehen. „Wenn Ihr ein braver Junge seid und jetzt die Augen schließt, werde ich es mir vielleicht überlegen.", versetzte der Heiler ruhig und drückte sanft auf sein rechtes Auge. „Und jetzt – " „Ja, ja, ich bin ja schon brav..." murmelte er müde und tat, wie ihm geheißen. Während er fühlte, wie der Mann die Wunde abtupfte und neue Verbände anlegte, quälten ihn erneut Selbstzweifel. Würde er es überhaupt schaffen, diese blöde Pille zu nehmen? Ob er es bewältigen würde, noch mal zu sterben, wusste er nicht. Wo würde er dann landen? Er hatte Angst – und vermisste Káshira. Warum passierten solche Dinge immer nur ihm? Er hatte es satt... „He, Fremder! Nicht weinen! Seid ihr ein Mann oder eine Memme?" klang es plötzlich unangenehm deutlich an sein Ohr und er hob ertappt den Kopf. Inzwischen war der Heiler mit seiner Arbeit fertig geworden und erhob sich hastig. „Na schön, ich suche Euren Freund. Wie war noch gleich sein Name – ich habe es vergessen..." „Watarí, so heißt er. Ukí Watarí, ganz genau.", flüsterte Hotáru leise und schwieg verzagt, als sich der junge Mann abrupt erhob und mit schnellen Schritten zur Tür eilte. „Ist ja schon gut. Ich hole ihn ja!" äußerte er noch, als er sich kurz im Türrahmen umdrehte und dem Jungen einen undurchschaubaren Blick zuwarf.

Káshira wurde auf einen wackeligen Karren verfrachtet und von zwei Soldaten bewacht aus der Stadt geführt. Die Eisenschmelze befand sich nur zwei Stunden weit von der Hauptstadt entfernt und stank schon aus einer Viertelstunde Entfernung wie die Hölle.

Die Soldaten lachten spöttisch, als sie seine angeekelte Miene bemerkten. „Na, gefällt nicht so ganz, was euer Gnaden hier sehen? Dabei werdet Ihr für eine lange, lange Zeit hier bleiben..." Er antwortete nicht. Der beißende Geruch schmelzender Metalle und die Hitze, die von diesem Raum ausging, raubten ihm den Atem und verursachten Übelkeit. Wie konnte das eine gnadenvolle Strafe sein –

„He! Der Gefangene ist da!" dröhnten seine Bewacher lauthals und winkten den wenigen rußverschmierten Gestalten zu, die sich abwartend an die Palisadenstämme drückten.

Káshira wurde schweigend gemustert und dann von einem der Männer so kräftig am Arm gepackt, dass er vor lauter Schmerz beinahe laut aufgeschrieen hätte. „Au! Das tut weh!"

„Klappe, du Galgenvogel! Hier hast du nichts mehr zu melden, klar?" grinste der Mann schmierig und drehte sich augenzwinkernd zu den anderen um. „He, Jungs! Frischfleisch im Anmarsch! Bedient euch ruhig, so bald kommt keins mehr!"

Langsam begann sich Káshira äußerst ungemütlich in seiner Haut zu fühlen. Was wollten die von ihm? Und warum eigentlich Frischfl –

„Oh nein. Oh nein. Das ist doch hoffentlich ein blöder Scherz, oder?" stotterte er verunsichert und blickte suchend zu den Soldaten auf. Die allerdings spendeten ihm keinen Trost, sondern lachten ihn zu allem Überfluss auch noch kräftig aus. „Na, wenn du es klug anstellst, dann hast du jede Nacht eine andere warme Bettstelle, plus Genossen, der drin auf dich wartet! Na denn, wir gehen wieder, Auftrag ausgeführt. General Mosar wird stolz auf uns sein!"

Damit wendeten sie einfach den Karren und ratterten langsam aus dem Tor, dass sich sofort hinter ihnen schloss. Zähneknirschend starrte Káshira hinterher und zuckte heftig zusammen, als ihm von hinten jemand plötzlich und unerwartet auf die Schulter tippte. „He, Neuer! Im Haupthaus kannst du dir gleich mal Arbeitskleidung abholen, in einer halben Stunde ist Essenspause, und dann nichts wie ran an die Arbeit. Zum Faulenzen bist du nämlich nicht hier!" keifte ein kleines, garstig aussehendes Männlein, dem am linken Arm der Unterarm knapp unter dem Ellenbogen fehlte, hinter ihm und grinste, als er seinen erschrockenen Blick sah. Demonstrativ wedelte er mit dem Armstummel vor seinen Augen herum und kicherte boshaft. „Ja, das war kein Saurier, sondern einer der Wagen, Junge. Und wenn du nicht aufpasst, dann passiert dir bald das selbe. Haha!" Wunderlich vor sich hin lachend watschelte er langsam vor Káshira her und zeigte ihm auf diese Weise den Weg.

Dort angekommen erhielt er einen Packen muffiger grauer Wäsche, offensichtlich äußerst robuste Arbeitsanzüge aus Flachs oder einem anderen, ähnlich kratzigem Material. Leise vor sich hin seufzend nahm er alles in Empfang und blickte sich suchend um. Das Haupthaus schien nichts weiter als ein großer Raum zu sein, in dem sich einige grobgezimmerte Schränke und lange Tische befanden. Aber er brauchte doch einen Platz, um sich umzuziehen, schon allein deshalb, da unterdessen immer mehr der Männer in das Zimmer gekommen waren. Schüchtern machte Káshira den Fehler, zu fragen. „He, ich will mich umziehen, gibt es hier vielleicht einen Raum dafür? Schließlich kann ich ja – " „Na, nicht so schüchtern! Wir beißen dir schon nichts weg!" johlten die Arbeiter beschwingt und beugten sich neugierig nach vorne, um ja alles ganz genau zu sehen. Als er keinen Ausweg mehr sah um diesem Desaster zu entkommen, gebot es der Stolz, sich keine Angst einzugestehen. Erbittert öffnete Káshira langsam den Gürtel seines Yūkata und ließ den Oberteil zögernd nach unten gleiten, als sich das Tor explosionsartig öffnete und noch ein Mann eintrat.

„Ihr sollt arbeiten, und nicht glotzen! Los, raus mit euch! Noch ist keine Mittagspause, wer jetzt nicht sofort arbeitet, dem wird sie gestrichen, klar? Na los, verzieht euch!"

Schlagartig duckten sich die Männer ängstlich und murmelten hastige Entschuldigungen, während sie bereits auf dem Weg nach draußen waren, nur schnell weg von dem wütenden Kerl, der offensichtlich eine Art Anführer sein musste. Aber seine Dankbarkeit währte nur kurze Zeit. Als der letzte Arbeiter das Haus verlassen hatte, wandte sich der Mann zu ihm und musterte ihn aus kalten Augen. „Na los, wird's bald? Zieh' diesen Fetzen aus und dann hast du zu arbeiten! Ein Verbrecher wie du hat nichts anderes verdient, nicht wahr? Also los," ungeduldig tappte er mit dem rechten Fuß auf den lehmigen Boden. „ich warte!"

Widerstrebend ließ Káshira den Yūkata nun doch zu Boden fallen und griff hastig nach den Arbeitskleidern, während der Kerl kein einziges Mal den Blick von ihm wandte. Waren denn alle hier pervers...

„Na schön, endlich fertig. Willkommen in der königlichen Schmelze, auf eine schöne Zeit hier!" kam es langsam und abwägend aus seinem Mund, während er verächtlich den Kopf wandte, um einen Priem in die Ecke zu spucken. „Mein Name ist Rìchū, wer bist du, hä?"

„Ich – mein Name ist Ryōki. Ryōki Kásh- " „Keine Vornamen, Junge. Mit der Zeit kriegst du hier ohnehin einen Spitznamen verpasst, das ist immer so. Das selbe wie auf See.", murmelte der Mann mürrisch und steckte sich einen neuen Streifen Kautabak, oder was auch immer das Zeug war, in den Mund. „Muss dir einiges über die Leute hier sagen, Kleiner. Hier befindest du dich nämlich in bester Gesellschaft – ein paar Mörder, einige Diebe, viele Betrüger – genau die gleichen Gauner wie du. Und alle wurden wir hier in diese verdammte Schmelze verbannt, um dem König wenigstens so noch nützlich zu sein." „Aber ich habe doch nichts getan! Das war ein Irrtum!" flehte Káshira inständig, während sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Diese Verrückten brachten es ja tatsächlich fertig und ließen ihn hier sein restliches Leben verrotten – lieber starb er gleich –

Rìchū lachte verächtlich und schüttelte herablassend den Kopf, während gelblicher Saft aus den Mundwinkeln in seinen Bart floss. „Ach, das sind doch immer die selben alten Geschichten. Könnt ihr euch denn nichts besseres ausdenken? Wird doch langweilig mit der Zeit, sag' es ehrlich. Du hast die Prinzessin beleidigt und noch so einige andere Sachen, so stand es jedenfalls in der Nachricht, die wir bekommen haben, und darauf steht ja eigentlich der Tod. Das du noch mal Glück hattest und jetzt unter den Lebenden weilst, ist ohnehin ein kleines Wunder."

In der nächsten Viertelstunde trabte er niedergeschlagen hinter Rìchū her und besah sich die Anlage von allen Seiten. In großen, hölzernen Karren wurde das Erz herangekarrt und anschließend in den riesigen Hochofen gekippt, während viele der Männer keuchend einen gewaltigen Blasebalg traten. „Ja, ja, das Feuer muß immer heiß bleiben, heißer als die Hölle. Wenn du zu nahe an den Rand gehst, dann verkohlt dir das Gesicht, dann kann man deine Haut gerade noch als Putzlappen verwenden, also sein vorsichtig!" kicherte der Mann beißend und versetzte ihm einen harten Knuff in den Rücken. „Du wirst allerdings Karren schieben, der Blasebalg ist nichts für Neulinge. In ein paar Wochen wirst du wissen, warum."

Mitten in die einseitige Unterhaltung tönte der durchdringende Klang einer großen Glocke und schreckte alle Arbeiter gehörig auf. „Zeit für's Mittagessen! Los, kommt!" Einige allerdings blieben in der Nähe des Ofens, um den Blasebalg weiterhin zu treten. Rìchū legte Káshira den Arm um die Schultern und führte ihn grinsend zurück zum Haupthaus, wo sich die Arbeiter bereits an die Tische geflegelt hatten und erwartungsvoll ihre Essnäpfe ausstreckten. Ein spindeldürrer, pickeliger Mann servierte an dem Tisch, den sich Rìchū für sie beide ausgesucht hatte, dampfende Suppe aus einem großen, schmutzigen Kessel. Káshira betrachtete die Brühe mit einigem Ekel und tauchte schließlich widerwillig den Löffel, übrigens das einzige Utensil neben dem metallenen Napf, in die Suppe und probierte vorsichtig. Das Zeug schmeckte einfach ekelhaft, unbeschreiblich widerlich. Zwar hatte der Koch guten Willen gezeigt und die schale Flüssigkeit mit einigen Fleischbrocken und massenweise Pfeffer gewürzt, dennoch aber kein annehmbares Resultat erzielt. Langsam hob Káshira den Kopf und betrachtete seine Tischnachbarn. Zwar bestand er selbst nicht unbedingt auf  feinste Tischmanieren, aber was hier seinen Augen geboten wurde, ließ heftigen Würgreiz in ihm aufsteigen und verdarb jeglichen Appetit, sofern jetzt überhaupt noch vorhanden.

Jeder der Männer schaufelte die ekelhafte Brühe mit bedächtigen Bewegungen in den Mund; meistens allerdings schwappte die Hälfte wieder in die Schüssel zurück oder gleich auf den Tisch. Noch dazu schienen es einige darauf angelegt zu haben, die stetigen Hintergrundgeräusche des Schmelzwerks und lärmenden Unterhaltungen der Arbeiter allein mit der Lautstärke ihrer Rülpser zu übertönen. Mehr als einmal durfte er den Anblick eines weit geöffneten, beinahe zahnlosen Rachens genießen und sich nebenbei noch über den widerlichen Schweißgestank freuen. Die Lust auf Essen war ihm jedenfalls gründlich vergangen, selbst als Rìchū auffordernd auf seinen Napf zeigte und ihm hart auf den Rücken schlug, konnte er sich nicht dazu überwinden. Lieber hungrig als das...   

„Na, was ist? Du musst ja schließlich bei Kräften bleiben für heute abend, was, Junge?"

Einer der Männer ihm gegenüber grinste begehrlich. „Wie wär's eigentlich mit „Saikōten"? So ein passender Name für unseren Neuzugang..." Káshira errötete vor Wut und stopfte sich einen riesigen Bissen Brot in den Mund, um nicht laut zu schreien. „Höhepunkt" war bei solchen Perversen sicherlich mehr als nur ein Spitzname – aber das würde er denen schon gründlich versauen –

Zuvor aber hatte er einiges zu tun. Gleich nach dem Essen wurde er von Rìchū nach draußen beordert und musste nun mit einem der Männer einen der gewaltigen Karren, vollbeladen mit Erzbrocken, ziehen; der eine zog vorne nach Leibeskräften den ledernen Riemen, der andere musste von hinten schieben und lief dabei ständig Gefahr, mit der Nase im Dreck zu landen.

Schon nach einer kurzen Weile konnte Káshira seine Arme nicht mehr fühlen. Die Muskeln in seinen Schultern, gestählt von Sport und unzähligen Besuchen im Fitnesscenter, fühlten sich an wie Gummi; seine Handflächen waren bereits durchgescheuert und begannen leicht zu bluten. Wie schafften die anderen das nur – da waren doch so viele dünne Hemden dabei –

Endlich. Der Heiler hatte es offensichtlich geschafft, Watarí zu finden und mitzubringen; mit einem letzten misstrauischen Blick ließ er sie in der kleinen Kammer allein. Verwundert betrachtete Watarí seinen Freund und war mehr als überrascht, als sich dieser hastig aufrichtete und die Arme um seinen Hals schlang. Konnte das möglich sein? Seine Träume wurden –

„Da bist du ja! Ich habe schon so lange gewartet – du musst mir – ich muss mit dir reden!" schluchzte Hotáru in seinen Kragen und fühlte einen winzigen Kiesel von seinem Herz rollen. Immerhin, besser als nichts. Die Hauptlast war zwar noch da, aber immerhin konnte er jetzt mit jemandem reden... Watarí lächelte unsicher und legte ebenfalls beide Arme fest um ihn, eine echte Wohltat. Das hatte er sich schon längste Zeit gewünscht und offensichtlich fanden seine Gefühle einen gewissen Wiederhall bei ihm, wie angenehm...

„Was – ähm, könntest du mir vielleicht einen Rat geben?" murmelte Hotáru leise und kuschelte sich noch enger an ihn. „Was würdest du tun, wenn du gerade draufgekommen bist, dass du jemanden liebst, und der schwebt in großer Gefahr? Würdest du für so jemanden sterben oder nicht?" Watarí war inzwischen dunkelrot angelaufen und dankbar, dass niemand sein Gesicht sehen konnte. „Äh – wie meinst du das denn? Mir – äh, uns geht's doch gut, oder? Aber wenn du meinst – seit wann sagst du eigentlich über Leute, dass du sie liebst? So weit ich mich erinnern kann, warst du doch immer gegen so was – hast immer darüber gelacht und so – " „Pah! Ich sage ja, dass ich immer weicher werde – du hast ja so recht..." brummelte der blonde Junge in seinen Armen verlegen und nahm nun selber eine tomatenartige Gesichtsfärbung an. „Noch vor einem Jahr wäre mir das blöde Wort nicht mal über die Lippen gekommen..." „Also, mir gefällt es, wenn du so nett und freundlich bist. Dann wirkst du ganz anders – sei nicht böse, aber seit wir hier auf Noa sind, hat sich so viel geändert..." flüsterte Watarí zärtlich und grub sein Gesicht sanft in die weichen blonden Haare. „Ich jedenfalls würde alles für dich tun..."

Hotáru bemerkte nicht, wie ernst es ihm war, sondern hielt es mit einer gehörigen Portion Naivität lediglich für eine freundschaftliche Geste. Schließlich war er immer noch sein bester Freund... Plötzlich war er sich seiner Sache ziemlich sicher; selbst Watarí hatte ihm indirekt dazu geraten. Er würde diese verdammte Pille nehmen.

„Weißt du eigentlich, dass ich dich sehr gern habe? Es tut mir so leid, dass ich immer gemein war und an dir meinen ganzen Ärger ausgelassen habe. Ich – ich würde so gerne noch einmal Geige spielen..." Er lächelte verklärt und brachte Watarí dadurch für einen Moment aus dem Konzept. „Äh – wie kommst du denn jetzt darauf? Zuhause können wir dann Geige spielen, oder was auch immer – he, weißt du eigentlich, dass Kíngyo- san, du kennst ihn ja, seit der Grundschule – das musst du dir jetzt mal reinziehen – Blockflöte spielt? Ist das nicht zum schreien?" Watarí konnte sich nicht mehr halten und platzte lauthals kichernd los. „Und ich hatte immer solche Angst vor ihm! Hahaha!" Selbst Hotáru musste grinsen.

Dem finsteren Kíngyo hätte er das auch nicht zugetraut – aber das Verhältnis mit Hachí ja  ebenso wenig. Schlagartig klappte er den Mund zu und machte ein ernstes Gesicht, als er an die beiden denken musste. Kíngyo war ihm zwar herzlich egal, er hatte sowieso genug Furcht vor ihm, aber Senpai Hachí hätte er eben doch gerne mal wiedergesehen. Schade drum...

„Mmmh – jetzt ist aber genug." Energisch löste er sich von seinem Freund und setzte sich sehr gerade hin. „Danke, dass du mir geholfen hast – und sei mir bitte wirklich nicht böse, ja? Ich hab's nicht so gemeint, wenn ich jetzt so darüber nachdenke..." „Ist ja schon gut. Ich war nie wirklich böse auf dich.", antwortete Watarí sanft und tätschelte leicht seine Hand. „Sonst noch was? Da stehen ja schrecklich viele Süßigkeiten auf dem Tisch. Von wem sind die denn?" „Ach, diese Prinzessin. Keine Ahnung, warum sie dauernd solches Zeug schicken lässt – ich mag das alles nicht." „Hat einen Narren an dir gefressen, die Schöne. Schade nur, dass sie so schrecklich reizbar ist..." Plötzlich klappte die Tür, und Talingo trat mit schnellen Schritten ein, die Stirn ärgerlich gerunzelt. Mist. Jetzt hatte ihr dieser blöde Kerl sicher den ganzen Spaß verdorben -  aber auch egal. Irgendwie hatte sie auch gar keine Lust mehr auf einen heulenden Kerl, der ihr vorhalten würde, wie grausam sie hier alle wären, bevor er endlich diese blöde Pille schluckte...

„He du, Junge! Raus mit dir. Ich hab' mit meinem Patienten noch was zu besprechen.", fuhr sie Watarí mit scharfer Stimme an und wartete ungeduldig, bis er sich stirnrunzelnd erhoben hatte und endlich aus der Tür gegangen war. Dann wandte sie sich dem erstaunten Hotáru zu und grinste bedauernd. „Das ist aber schade, dieser dumme Kerl hat mir alles verdorben. Na gut, ich will ja nicht so sein! Also, dein Freund ist gar nicht mehr in Gefahr, ich hab' geschwindelt. Wollte mal sehen, wie weit du gegangen wärst, aber ich bin mir sicher, du hättest meine Kräuter unter Tränen runtergewürgt und dich auch noch als Held gefühlt, oder? Mist!" Sie musste plötzlich kichern und bog sich schließlich vor Lachen, als sie sein ungläubiges Gesicht sah. „Oh, du bist wirklich ein niedlicher Bursche! Wie ungerecht! Wie gemein! Das tut mir ja so was von leid..."

Zuerst ungläubig, dann immer wütender werdend, starrte Hotáru das lachende Mädchen an. Jetzt reichte es aber endgültig. Wie oft würde die ihn eigentlich noch zum Narren halten? Egal wie alt sie war, das konnte sie einfach nicht machen. Aufgebracht packte er ein Kissen und warf es auf gut Glück in ihre Richtung; allerdings war er im Zielen nicht sehr gut, was sie zu einer weiteren Lachkanonade reizte. „Du solltest mal dein Gesicht sehen, haha! Ganz rot!" „Blöde Tussi!" Das zweite Kissen traf sein Ziel und landete mitten in ihrem Gesicht. „Jetzt reicht's mal, ja? Verarschen kann ich mich selber, dazu brauch' ich dich nicht! Was glaubst du eigentlich, wie du mit Leuten umgehen kannst, hä? Und so eine wie du will Ärztin sein? Das ich nicht lache! Wahrscheinlich haben sie dich sowieso bloß vom Acker geholt und hierher verfrachtet!" Auf einmal fiel jegliche Schwäche von ihm ab, er fühlte sich durch das Adrenalin wirklich gut und wieder in seinem Element. Jaha, das war Leben...

„He! Wage es ja nicht, noch mal so was zu sagen, klar? Sonst wirst du schon noch sehen, was ich kann!" Mit vor lauter Zorn verzerrtem Gesicht kam sie näher und packte ihn am Ausschnitt des Hemdes. Ihre schönen Augen waren zu schmalen Schlitzen geschrumpft und verliehen ihr so ein ausgesprochen bedrohliches Aussehen. Hotáru war zwar beeindruckt, würde das aber um keinen Preis zugeben...

„Pah! Du kannst ja auch nichts anderes, als deine große Klappe aufzureißen! Was hast du denn erwartet? Dass ich flennend zusammenbreche und meine Sünden gestehe, damit du dich ja amüsieren kannst? Wenn ich diese dämliche Pille überhaupt geschluckt hätte, dann sicher nicht vor dir! Weißt du was? Warum bringen wir es eigentlich nicht gleich hinter uns? Entweder, du rückst jetzt gleich was Giftiges raus, und zwar was, an dem ich gleich abkratze, oder du lässt es bleiben!" Ärgerlich streckte er ihr die Zunge heraus und zog eine abfällige Grimasse. Okay, er war kindisch, aber irgendwie machte das Spaß...

„Trottel!" Talingo ließ ihn wieder los und starrte ihn wütend an, bis plötzlich ein unerwartetes Schmunzeln um ihre Lippen strich. „Weißt du was, Fremder? Irgendwie mag ich dich..."

Leise vor sich hin kichernd verließ sie den Raum und grinste nach einigen Metern immer noch, während sie die übrigen Heiler argwöhnisch musterten und sich eilig wieder ihrer Arbeit zuwandten, als sie von ihrem kühlen Blick getroffen wurden.

Langsam senkte sich die Abenddämmerung sanft über die Schmelze und veranlasste einen der Männer dazu, stirnrunzelnd gen Himmel zu starren und schließlich achselzuckend einen riesigen bronzenen Gong zu schlagen, dessen dröhnender Klang weit über die Ebene schallte und einige der Saurier außerhalb des Palisadenzauns aufzuschrecken schien; kreischend stoben sie in den Schutz des Dschungels davon.

Der Mann, der die ganze Zeit mit Káshira zusammengearbeitet hatte, ließ aufstöhnend den Karren los und reckte sich kräftig. „Na endlich! Ich dachte schon, dieser Tag würde nie zu Ende gehen!" Grinsend sah er zu, wie Káshira mit erschöpftem Gesicht zu Boden sank und sich über das Knirschen seiner eigenen Gelenke erschreckte. „Na komm, Kleiner! Erst mal schaffen wir den Karren in den Lagerraum, dann dürfen wir uns waschen und was essen. Je schneller, desto besser, oder? Also los, komm. Keine Müdigkeit..."

Sinnlos vor sich hin murrend kam er wieder auf die Beine und packte mit an. Seine Hände fühlten sich an, als wären sie durch den Fleischwolf gedreht worden, die Schultern knackten erbärmlich und sein Kopf tat höllisch weh. Noch so einen Tag überlebte er einfach nicht – dabei hatte er den Vormittag gar nicht mitgemacht.

Natürlich gab es auch keine richtige Dusche wie bei Manua oder ein Badezimmer wie auf der Línghún; alle Männer mussten sich nebeneinander über einer langen hölzernen Rinne hinter dem Haupthaus aufstellen und eilig mit brackigem Wasser aus einem schmierigen, hölzernen Bottich waschen, dass ihnen von einem kleinen, ältlichen Mann gereicht wurde. Káshira wurde wie üblich neugierig und mit großem Interesse gemustert, schön langsam kam er sich wie in einer Peepshow vor. Einem der Kerle blieb sogar der Mund offen stehen.

„He! Neuer!" Wieder der picklige Bursche vom Mittagessen; eifrig rannte er hinter ihm her und hielt einen kleinen Gegenstand in der Hand, den er ihm mit einem Grinsen in die Hand drückte. „Das wirst du in der Nacht gut gebrauchen können, glaub' mir! Soweit ich weiß, will Rìchū mit dir in seinem Einzelzimmer schlafen – sei froh, dass ist ein Privileg! Sonst liegen wir oft zu acht in einer Reihe!" „Buäh, du bist vielleicht ekelhaft! Sag mal – " Als Káshira den Inhalt des kleinen Fläschchens erkannte, wurde er blass. „Öl? Was soll denn das werden? Glaubst du vielleicht, ich springe mit einem von euch Ekeln in die Kiste, oder was? Das habt ihr euch wohl so gedacht!" „Keine Sorge. Bis jetzt hat sich noch jeder gewehrt, und noch jeder ist an die Reihe gekommen. Hier lebst du eben mit vielen Männern zusammen, die Frauen werden anderswo bestraft, da kann man nichts machen! Gewöhn' dich lieber schnell daran, bald wird es dir sogar gefallen, du wirst sehen! Es ist gar nicht so schlecht hier..."

„Geh' mir bloß aus den Augen! Und den Dreck da kannst du auch gleich wieder mitnehmen! Das wirklich letzte, das ich mit euch tun würde, wäre das hier!" Mit einer wütenden Bewegung schleuderte er das Fläschchen in Richtung des Pickeligen und dampfte ab; weit kam er allerdings nicht. Mit einem Spürsinn, der schon ans Unheimliche grenzte, tauchte Rìchū hinter ihm auf und packte ihn grinsend am Arm. „Na, kleiner Saikōten? Noch so viel Energie und Kampfeslust? Komm erst mal mit, wir sollten was essen – dann kannst du mir zeigen, wie viel Kraft du noch hast..." „Ich – in der ersten Nacht tut man so was aber nicht!" konnte Káshira gerade noch zwischen zusammengepressten Zähnen hervorquetschen, bevor er sich selbst vor Zorn kräftig in die Hand biss, um nicht auszurasten. Der ältere Mann schien es nicht zu bemerken, sondern grinste freundlich und klopfte ihm auch noch liebenswürdig auf die Schulter.

Im Haupthaus wieder das gleiche Lied: die Häftlinge schlangen den dünnen Eintopf mit bemerkenswerter Geschwindigkeit und ebenso beispiellosen Manieren hinunter – Káshira wurde übel, er konnte einfach nichts von der dunkelbraunen Plörre hinunterwürgen, nicht einmal, als Rìchū drohend knurrte.

Im selben Moment nämlich hatte sich einer der Männer ein Stück Fladenbrot zwischen die Lippen geklemmt und zwinkerte ihm lüstern zu, und ein anderer entblößte seine fauligen Zähne mit einem gierigen Grinsen.

„Ich bin so müde! Kann ich jetzt schlafen gehen?" presste er eilig hervor und sprang hastig auf. Rìchū tat es ihm lächelnd gleich. „Na, sieh einer an! Da hat's jemand aber eilig!"

„Kann ich noch meine Zähne putzen? Oder macht man das hier auch nicht?" Als die gesamte Bande einmütig den Kopf schüttelte, reiften in Káshira's Kopf die ersten, wirklich konkreten Fluchtpläne, Mord und Totschlag eingeschlossen. Einer von diesen Schwachköpfen würde dran glauben müssen...  „So, da wären wir! Unser beider Domizil – ach, übrigens, man schläft hier nackt, falls du's wissen willst." Na wunderbar. Zuerst die Arbeit, dann das Essen, und jetzt das -  „Was macht ihr eigentlich, wenn jemand eine ansteckende Krankheit hat, Krätze oder so was? Der schläft aber – " „Ist das ein Problem?" meinte Rìchū verwundert und begann damit, sich seiner Kleidung zu entledigen. „Hier hat doch sowieso jeder was..."

„Iiik!" Entsetzt presste Káshira die Hände vor den Mund und bemühte sich, das gegessene Fladenbrot nicht sofort wieder von sich zu geben. „Das ist ja grässlich!!"

„Na, mach jetzt keinen Unsinn, sondern raus aus den Klamotten und rein ins Bett! Ich will nicht mehr so lange warten.", schmollte Rìchū und klopfte einladend auf die Decke neben sich. Die Betten waren nicht viel mehr als dünne Strohballen, die man in den selben Stoff, aus dem ihre Arbeitskleidung bestand, gewickelt hatte. Darüber waren zwei Decken aus grobem Flachs geworfen, in die man sich offensichtlich hüllen konnte, wenn es zu kalt war. Oder man einfach keine Lust hatte, neben solchen perversen Lustmolchen nackt zu schlafen, dachte Káshira grimmig und schälte sich brummend aus den Kleidern. Die Unterwäsche behielt er allerdings an und erklärte Rìchū, der schon wieder ärgerlich murrte, dass er sich in der ersten Nacht sicherlich nicht ausziehen würde. „Ich – ich brauche noch ein bisschen Zeit, weißt du?" stammelte er verlegen lächelnd und wickelte sich so schnell wie möglich in die kratzende Decke. Jetzt würde er schon wieder kein Auge zukriegen – abgesehen von der beißenden, harten Bettdecke, begann dieser Kerl schon wieder auf ihm herumzugraben. „Finger weg!" zischte er ärgerlich und knallte mit der Faust in die Dunkelheit. Ein leises Knacken und schmerzerfülltes Grunzen ertönte, dann war für eine kleine Weile Ruhe.

„He, Saikōten! Was hast du der Prinzessin eigentlich getan, hmm?" tönte es nach einiger Zeit in die Stille. Káshira seufzte stumm und zuckte wegwerfend die Schultern. „Ach, nichts besonderes. Anscheinend habe ich sie zutiefst beleidigt, vermutlich irgendwas Blödes gesagt oder so. Aber sag' mal, was hast du eigentlich verbrochen?"

Der Mann kratzte sich ein wenig verlegen am Hinterkopf; das Geräusch war deutlich zu hören. „Hmm, na ja, die eine Version ist, dass ich gegen den König und seine Machenschaften bin, und die andere, dass ich – hmm, ein klein wenig Profit machen wollte... Früher war ich Züchter an einer berühmten und angesehenen königlichen Saurierfarm. Dort leistete ich gute Arbeit, die berühmten Shēngyīn kamen von uns. Einer von ihnen, Jiyū, begann sich langsam gegen seine Gefangenschaft zu wehren. Eigentlich wollte ich ihn ja befreien, aber – " etwas verlegen räusperte er sich, „ich bekam so ein lukratives Angebot von Räubern – konnte nicht ablehnen. Und da haben sie mich erwischt... es war uns verboten, Saurier zu verkaufen, und zu allem Überfluss kam Jiyū auch noch frei... das war mein Ende. Seitdem bin ich hier... die Jungs akzeptieren mich als Anführer, damit bin ich ganz zufrieden, weißt du."

„Ach so.", murmelte Káshira benommen und gähnte müde. Eigentlich interessierte ihn die Geschichte gar nicht, aber das nächste, dass Rìchū von sich gab, ließ ihn aufhören. „Soweit ich weiß, hat sich Jiyū mit einer Shēngyīn namens „Arasòi" zusammengetan, beide hatten einen Sohn... ein ganz wilder Name, „Dokuritsu–sénsō", glaub' ich... Jiyū ist ja recht schnell gestorben, wurde erschossen, als er zu frech war – ja, so ist der Lauf der Welt..." murmelte der Züchter noch vor sich hin, kurz bevor er in vorgeblich tiefen Schlaf glitt.

Káshira dagegen bekam die ganze Nacht kein Auge mehr zu und nickte erst im Morgengrauen ein; zum Glück bemerkte er nicht, wie Rìchū listig den Arm um ihn legte und ihn an sich zog.