33. Kapitel
Unerwartete HilfeAls der Morgen graute, erwachte Káshira mit einem grässlichen Geschmack im Mund und steifen Gliedern. Jeder Knochen in seinem Körper schien den üblichen Platz verlassen zu haben und sich einige Zentimeter tiefer zu befinden; wie er so aufstehen sollte, war ihm unklar. Abgesehen davon –
„Verdammter Lustmolch! Hab' ich dir nicht gesagt, dass du das lassen sollst? Ist ja widerlich, nimm die Drecksfinger weg!" Rìchū hatte ihn in der Nacht praktisch überrollt; Káshira ruhte nun mehr oder weniger angenehm an seiner Brust. Der füllige Haarwuchs an eben dieser Stelle machte ihn nervös, die Dinger schienen sich wie dicke, eklige braune Tentakel in seine Richtung zu winden. Es war einfach nicht auszuhalten...
„Sogar das Schlafen versaust du mir, du Ekel! Kannst du deine Triebe nicht mal bändigen?" kreischte er wütend auf und knallte dem immer noch schlafenden Mann die Faust auf die Schulter, allerdings ohne großartigen Effekt. Rìchū schlief einfach weiter und grunzte zu allem Überfluss noch behaglich. Káshira blieb beinahe das Herz stehen, als er den dünnen Speichelfaden sah, der aus dem Mundwinkel sickerte und in der Bettdecke verschwand. Jetzt war es aber genug. Er würde diesen Kerl erwürgen, und zwar mit bloßen Händen...
Plötzlich ertönte der durchdringende Klang des Gongs, und Rìchū war mit einem Satz auf den Beinen und hellwach. „Na los, Frühstück, dann gleich an die Arbeit. In letzter Zeit müssen wir mehr Eisen gewinnen als gewöhnlich – weiß der Himmel, was in die Leute gefahren ist. Na los, Beeilung!" „Ja, ja! Darf ich mich vielleicht noch waschen, ja?" meckerte Káshira ärgerlich zurück und schlüpfte widerwillig in die schmutzstarrenden Arbeitskleider. „Dann beeil' dich aber, ja? Sonst kriegst du nichts mehr vom Essen ab.", kicherte Rìchū und stapfte alleine los, während sich Káshira zur Rinne begab. Anders konnte man diesen Witz von einer Dusche wirklich nicht nennen.
Ausnahmsweise hatte er Glück; keiner der Arbeiter war hier, um ihn zu begaffen. In aller Ruhe wusch er sich einmal richtig und blickte unterdessen höchst interessiert in die Runde. Wie ihm schon vorhin aufgefallen war, konnte man zwar den Palisadenzaun nicht leicht überwinden, allerdings war das ganze Gelände nicht sonderlich gut bewacht. Lediglich am Haupttor waren zwei gelangweilte Wachen postiert, die anscheinend ihre Zeit lieber mit Würfeln als Bewachen verbrachten. Es schien auch keiner der Gefangenen ausbrechen zu wollen, anscheinend gefiel es ihnen so gut, oder – natürlich, es gab nur einen Weg. Hinter der Schmelze lag dichtester Dschungel, dorthin würde nur ein Idiot flüchten oder jemand, der sich dort perfekt auskannte. Und selbst wenn man an den Wachposten vorbeikäme, würden die sofort einen Flugsaurier wegschicken und ein bewaffneter Trupp wäre einem auf den Fersen – trotzdem. Er musste es einfach versuchen; diese Nacht konnte er nicht hier bleiben, nicht bei dem, was Rìchū vorhatte – und er schaffte es nicht mehr, diesen Leuten beim Essen zuzusehen. Lieber ließ er sich von Soldaten fangen und an den Galgen stellen...
Langsam und müde trottete er schließlich doch noch zu den anderen, um wenigstens noch ein Fladenbrot zu bekommen, allerdings waren die um einiges schneller gewesen. Es gab nicht einmal mehr den kleinsten Brotkrümel und der große Kessel, in dem wieder die obligatorische Suppe geköchelt haben musste, war leer. Blitzblank, wie ausgeleckt, und das jetzt, wo er sie gegessen hätte, egal wie das Zeug roch oder schmeckte. Und jetzt war es zu spät. Mist.
In seinen Kopf hatte sich Mittag als günstiger Zeitpunkt zur Flucht eingebrannt... der Himmel wusste, warum. Er würde einfach ganz cool zu Beginn der Pause zu den anderen sagen, er ginge mal aufs Örtchen, und dann nichts wie weg – die Soldaten waren schon gestern nicht da gewesen, und vielleicht konnte er sie austricksen – durch Steine oder sonst was. Eigentlich machte sich Káshira über das noch keine großen Sorgen. Irgendwie würde er es schaffen...
Diesmal arbeitete Rìchū mit ihm zusammen und ließ ihn den Karren schieben. Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, dennoch fühlte sich die Luft schon heiß und stickig an; die Kleider begannen unangenehm am Körper zu kleben. Es war grauenhaft, er würde es nicht mehr schaffen. Zweimal verlor Káshira den Halt und klatschte auf den feuchten Boden, der durch die ständige feucht- schwüle Hitze aufgeweicht und dementsprechend glitschig war. Rìchū und die anderen lachten jedes Mal hämisch; ihnen war es am Anfang schließlich auch nicht anders ergangen und der Kleine verdiente eine Abreibung.
Talingo stand ungeduldig neben dem Soldaten, der über die eintreffenden Flugsaurier wachte und riss ihm sofort die kleine Hülse aus der Hand, als er ihren Namen auf der Briefrolle gesehen hatte. „Heilerin? Dürfte ich fragen – " „Nein, Sie dürfen nicht. Und die ganze Sache bleibt natürlich auch wie gewohnt unter uns, nicht wahr?" „Ja, aber – " Dem Mann blieb der Mund offen stehen, als die junge Frau, ohne ein weiteres Wort zu sagen, mit kühler Miene an ihm vorbeimarschierte und die kleine Briefhülse fest in ihre Faust gepresst hielt.
Das Wetter war wieder schlechter geworden, es tröpfelte leicht und die Menschen bemühten sich, so schnell wie möglich ihre Angelegenheiten zu regeln und sich dann wieder in den Schutz der Häuser zu begeben. Selbst die kleinen Lesothosaurier waren nicht so frech wie sonst. Mit gerunzelter Stirn überflog Talingo das kurze Schreiben und knüllte es dann rasch zusammen; eines ihrer seltenen Lächeln glitt über ihre Lippen und gab ihrem Gesicht ein jüngeres Aussehen. Obwohl sie erst achtzehn Jahre alt war, schätzten sie die meisten für älter ein, nicht wegen etwaiger Falten im Gesicht, sondern ihrer Fähigkeiten und ihrem Benehmen wegen. Es war kaum vorstellbar, das jemand, der sich selbst der Obrigkeit gegenüber so respektlos verhielt, noch so jung sein sollte, noch dazu wurde sie mit Erkrankungen und Verletzungen fertig, die selbst die ältesten der übrigen Heiler vor Rätsel stellten.
Für eine Sekunde hatte sie nicht auf die Umgebung geachtet und wurde nun von einer scharfen Stimme erschreckt, die ihren Namen rief. Ohne einen Muskel in ihrem Gesicht zu rühren, drehte sie sich langsam um und blickte der näherkommenden Gestalt entgegen. Es war Mosar; die letzten Tage seines Urlaubs wollte er eigentlich noch mit Yamanéko genießen, doch aus dem Fenster ihres Wohnzimmers hatte er zufällig die Heilerin erspäht und beschlossen, sie zur Rede zu stellen. In letzter Zeit kamen ihm ihre Aktivitäten immer seltsamer vor – was sie wohl vorhatte –
„Heilerin Talingo!" Spöttisch betrachtete sie seinen unordentlichen Kimonó und bemühte sich gar nicht, das boshafte Grinsen auf ihrem Gesicht zu unterdrücken. „Ja? Wünscht Ihr etwas, General?" Außer Atem musste er erst einige Sekunden verschnaufen, bevor er beginnen konnte, zu sprechen. Dann allerdings richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und starrte kühl zu ihr hinunter. „So, so, habt Ihr wieder einmal geheimnisvolle Briefe verschickt? Was führt Ihr eigentlich im Schilde, wenn ich so fragen darf? Ihr verbergt etwas vor uns!" „Ach? Und woher wollt Ihr das denn so genau wissen?" gab die Heilerin mit kalter Stimme zurück und schüttelte mit einer verächtlichen Bewegung ihr langes Haar zurück. „Leidet Ihr unter Verfolgungswahn, Herr General?"
Plötzlich riss Mosar der Geduldfaden und er packte das Mädchen heftig an den Schultern. „Was fällt Euch ein? Immerhin bin ich der oberste Befehlshaber des Heeres, gleich nach Shi Huángdì selbst! Ich weiß ja, dass Ihr den König hasst! Und ich verstehe das auch! Aber trotzdem kann ich nicht zulassen, dass Ihr uns alle durch irgendwelche Machenschaften gefährdet!" „Ihr wisst gar nichts, General.", antwortete Talingo beherrscht und schüttelte seine Hände ab. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich geworden, und beide Hände hatten sich zu Fäusten geballt. „Ihr habt ja keine Ahnung." Damit ließ sie ihn einfach stehen und machte sich wieder auf den Weg zur Krankenstation, während ihr Mosar hilflos hinterher starrte. Durch ein geräuschvolles Schniefen hinter sich wurde er abrupt aus seinen Gedanken gerissen und drehte sich eilig um. Hinter ihm war Pul aufgetaucht und grinste schadenfroh. „Na, hat dich die schöne Heilerin abblitzen lassen? Was hast du denn erwartet?"
„Äh... Leute, ich muss mal schnell, ja? Komme dann nach zum Essen, okay?" rief Káshira eilig über die Schulter und bemühte sich zu lächeln, als ihn gleich mehrere interessierte Blicke musterten und sich offensichtlich mit Mühe die Frage verkneifen mussten, ob sie nicht mitkommen durften. Als Rìchū lediglich beifällig nickte, nahm er die Beine in die Hand und hetzte hinter das Haupthaus, wo er in aller Ruhe den Gongschlag abwartete und dann langsam Richtung Palisaden wanderte. Juhu, die Soldaten waren nicht auf ihrem Posten... anscheinend holten sie sich Bier oder irgendwas zu Essen. Ihm sollte es recht sein.
Während sich die anderen Sträflinge im Haupthaus trafen und dort ihre triste Mahlzeit hinunterschlangen, kletterte Káshira geschickt über den Zaun und rannte über die Ebene davon, in irgendeine Richtung; sie war ebenso gut wie jede andere.
„General! Eine Nachricht aus der Eisenschmelze!" keuchte der narbengesichtige Soldat und warf sich vor den beiden in den Staub. Pul und Mosar musterten ihn erstaunt; was mochte denn so Dringendes vorgefallen sein? Gerade hatte der General seinem alten Meister die Bedenken über Talingo mitgeteilt, da kam auch schon der Hüter der Flugsaurier in höchster Aufregung zu ihnen gerannt und drückte Mosar mit zitternden Händen eine kleine Briefhülse in die Hand. Der General brauchte nur Sekunden.
„Der Gefangene, den Shi Huángdì dank der Prinzessin gestern begnadet hat, ist aus der Schmelze ausgebrochen und auf der Flucht. So ein Idiot." Er schnaubte verächtlich und mit einer Spur von Überdruss. „Ich werde ihn suchen – er kann nicht weit sein, dieser Narr..." „Armer Junge.", meinte dagegen Pul und schüttelte den runden Kopf. „Kein Wunder, dass er so schnell abgehauen ist, immerhin geht es dort wirklich zu wie bei den Wilden. Hast du die schon mal gesehen..." „Na und? Warum musste er auch weglaufen? Jetzt kann ihm keiner mehr helfen. Wenn ich ihn wieder habe, muss ich es Shi Huángdì melden, und auf die Antwort können wir uns gleich mal gefasst machen. Vermutlich lässt er ihn köpfen oder sonst was – Verflucht!" „Reg' dich nicht auf, Jīngtǐ.", äußerte Pul milde und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Du kannst es dem Jungen nicht übel nehmen."
Káshira wanderte müde und verdrießlich über das öde Land, es war wie eine Ewigkeit, obwohl sie mit dem Karren nur um die zwei Stunden gefahren waren.
Dank der anstrengenden Arbeit am Vormittag konnte er seine Beine nur schwer dazu bewegen, sich durch den lehmigen Boden zu kämpfen; das ganze Land schien durch den Regen aufgeweicht zu sein und wirkte wie ein riesiger Schwamm.
Hier gab es weder Dörfer noch vereinzelte Häuser; es schien, als würde sich alles so weit wie möglich von dieser höllischen Schmelze fernhalten. „Wie Aussätzige.", dachte er grimmig und arbeitete sich weiter durch die monotone Dschungellandschaft, als er plötzlich hinter sich ein leises Stapfen hörte, dass nur von Saurierkrallen stammen konnte. Vor lauter Erschöpfung hatte er keine Lust mehr, sich umzudrehen und seinem Verfolger auch noch in die Augen zu sehen. Sollte ihn der Trottel doch gleich –
„Na? Fühlst du dich jetzt besser, Fremder? Wohin willst du denn gehen?" Diese Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor; als er sich doch noch nach hinten wandte, konnte er Mosar erkennen, der mit einem Gesichtsausdruck, der irgendwie ärgerlich und zugleich mitleidig wirkte, auf seinem Dilophosaurus knapp hinter ihm ritt. „Irgendwohin. Bloß weg von hier! Ich kann nicht mehr." Káshira blieb stehen und sah dem General fest in die Augen. „Ich wollte nicht weit weg laufen. Ich wusste, dass Sie mich finden. Aber trotzdem – diese Schmelze ist einfach schrecklich. Es tut mir wirklich leid, aber dahin kann ich nicht mehr zurück." Trotzig hatte er den Kopf gehoben und hielt das Kinn steif, obwohl ihm plötzlich die Tränen kamen. „Jetzt müssen Sie mich wirklich töten lassen, oder? Ich meine, diese zickige Prinzessin wird sich nicht noch mal für mich aussprechen, oder?"
„Tut mir leid. Aber du hattest deine Chance", erwiderte Mosar traurig und neigte sanft den Kopf. „Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Du hättest es schaffen können."
„Wie denn? Umringt von lauter Perversen? Sie haben ja keine Ahnung, was die von mir wollten! Keine Sekunde am Tag hatte ich Ruhe vor denen, und bei einem von diesen Ekeln musste ich schlafen, und er hatte Brusthaare wie Tentakel, und überhaupt..." brach es klagend aus Káshira heraus, und wirklich rannen ihm zwei kleine Tränen über die Wangen, von Mosar gnädig übersehen. Leichtfüßig holte der Saurier den Flüchtigen ein und den letzten Teil des Weges, der immerhin noch über eine Stunde dauerte, legten sie schweigend zurück; Káshira fühlte sich auf dem schwankenden Rücken nicht sehr behaglich.
„Verdammt!" Wuchtig schlug die Faust des Königs auf den massiven Tisch vor sich und brachte die Geräte daraufhin in klirrende Bewegung. Einige Schriftstücke machten sich daraufhin selbstständig und schwebten leicht und anmutig zu Boden; Mosar folgte ihnen mit den Augen und seufzte leise. Keine gute Laune heute...
„Ich ließ diesen undankbaren Kerl auch noch begnadigen! Unfassbar, solche Frechheit! Nein, er hat keine Gnade mehr verdient." Er schnaubte, dass sich die restlichen Schriftrollen vor ihm aufblähten wie Segel im Sturm, sprang ärgerlich auf die Beine und begann unruhig auf und ab zu gehen. „Findet nicht morgen eine große Feier statt, auf der viele Vergnügungen geboten werden? Ich denke, sie war der Stadtgründung zu Ehren angesetzt – " Als Mosar zustimmend nickte, glätteten sich die gröbsten Falten auf der königlichen Stirn, und Shi Huángdì rang sich sogar zu einem kleinen Lächeln durch. „Nun gut. Dann möchte ich, dass dieser freche Kerl einen Sonderauftritt im Amphitheater bekommt – er soll uns allen beweisen, ob seine Kraft ebenso groß ist wie sein Mundwerk. Lasst diese Kundmachung sofort anschlagen, es wird ein großes Ereignis werden! Ich freue mich – habe schon lange keinen erheiternden Kampf mehr gesehen – die Saurier werden ihn einfach in die Erde stampfen! Oh, es wird sicherlich ein fröhlicher Tag!"
Obwohl der König noch kicherte, als sich sein General schon längst auf dem Weg nach draußen befand, konnte Mosar nichts Lustiges an diesem Gedanken finden. Irgendwie taten ihm diese Fremden leid – wenn es wahr war, was der Hohenpriester verzapft hatte, dann stammten diese Kinder ja aus einer fremden Welt! Wer wusste denn schon, wie die Sitten und Gebräuche dort aussahen? Vielleicht – aber das war beinahe schon ein zu gewagter Gedanke – gab es dort gar keine Könige mehr, sondern irgend etwas anderes?
Mosar mochte zwar noch sehr jung sein, aber er war sicherlich nicht dumm. Es musste auch noch andere Möglichkeiten geben...
Als die Pfadfinder am nächsten Morgen einen neuen Anschlag auf den inneren Schlosstoren fanden und ihn sich von einem der Bediensteten des Schlosses, die auch für ihr Wohl verantwortlich waren, übersetzen ließen, traf sie beinahe der Schlag. Unmöglich! Káshira schon wieder in Haft, hier, in den königlichen Kerkern? Das konnte doch wirklich nicht sein...
„Was soll denn das?" rief Tókui aufs höchste erstaunt aus, als sie sich alle um die Kundmachung scharten und wild durcheinander riefen. „Das gibt's doch nicht! Bruder!" Chūjitsu war den Tränen nahe. „Er war doch in Sicherheit! Was ist denn nur geschehen?" Auch Sachou war außer sich. „Also wirklich! Ins Amphitheater verfrachtet? Er soll dort gegen Saurier kämpfen? Was denken sich diese Leute eigentlich?"
Mitten in das wilde Stimmengemurmel klang unerwartet die kühle, gefasste Stimme der Heilerin. „Ruhe! Seid still!" Als das Rumoren abgeebbt war, sprach sie leise weiter. „Hört mir zu! Es ist wichtig, dass ihr jetzt nicht die Nerven verliert. Ich kann euch nichts versprechen. Aber wenn wir Glück haben, dann kann eurem Freund geholfen werden – vielleicht haben wir auch Pech. Jedenfalls dürft ihr niemandem, hört ihr, niemandem von diesem Gespräch erzählen, sonst ist jede Möglichkeit zur Rettung dahin. Nehmt heute auf jeden Fall alle wichtigen Dinge mit, auf die ihr nicht verzichten könnt oder die euch wichtig sind... ganz egal, was. Jedenfalls müsst ihr auf alles gefasst sein..." Nach diesen rätselhaften Worten drehte sie sich eilig um und verschwand so plötzlich in der Menge, wie sie gekommen war.
Nach einer unbequemen Nacht in der mittlerweile schon vertrauten Kerkerzelle wurde Káshira von einem mürrischen Soldaten abgeholt und durch unterirdische Gänge geschleust, bis sie zu einer weiteren dunklen Kammer gelangten, in der ein kleiner Haufen Kleidungsstücke lagerte. „Los, zieh' dich um! Aber ein bisschen schnell, wir haben schließlich nicht ewig Zeit!" murrte der Soldat unwillig und knallte die Tür gleichgültig hinter sich zu. Erstaunt nahm Káshira die Kleider in die Hand und musterte sie genauer. Dann warf er sie knallrot auf den Tisch zurück und schauderte. „Bin ich froh, dass die Kerle aus der Schmelze nicht dabei sein werden..."
„Seid ja still und setzt euch! Das wollt ihr doch sicher nicht verpassen!" wurden die Pfadfinder von einem jungen, hübschen Mädchen angeherrscht, die anscheinend mit einigen weiteren Kollegen für die Platzverteilung zuständig war. Erschrocken fügten sich die Dreizehn und drückten sich verschüchtert in die schmale Sitzreihe, während Chūjitsu unerwartet und trostlos zu schluchzen begann. Nicht einmal Kitsuné gelang es, ihn aufzumuntern; die anderen saßen ziemlich ratlos und verlegen daneben. Plötzlich erklang neben ihnen eine heitere, etwas verwirrt klingende Stimme. „Könntet ihr vielleicht noch etwas Platz machen, damit wir uns noch hier rein quetschen können? Ist die beste Sitzreihe..."
Eine junge Géisha, gehüllt in einen prachtvollen Kimonó und auf hohen Géta balancierend, lächelte sie zuerst freundlich und ein wenig abwesend an; dann allerdings erschrak sie leicht. „Oh, das seid ja ihr! Ich – ich meine natürlich..." Die Géisha wurde knallrot und passte nun farblich beinahe zu ihren Kleidern. „Das ist mir vielleicht peinlich..."
Wider willen musste Tókui grinsen und rutschte ein wenig zur Seite. „Natürlich können Sie sich hierher setzen, kein Problem." Mit etwas mehr Sarkasmus in der Stimme fuhr sie fort. „Freuen Sie sich auch schon so auf die Vorstellung? Zerfleischte Menschen sind doch einfach cool, oder?" Die junge Frau musterte sie erschrocken und schüttelte dann hastig den Kopf. „Nein, aber das hier gehört zu den Vergnügungen, die Shi Huángdì höchstpersönlich besucht, daher müssen sehr viele hier sein. Das ist Pflicht!" „Ach.", antwortete Tókui und schwieg; das ging solange, bis neben der Géisha eine weitere Person auftauchte. „Wo warst du? Ich habe dich ewig lange gesucht!" keuchte der Mann, unschwer als General Mosar zu erkennen, platzierte sich außer Atem neben sie und drückte ihr mit säuerlicher Miene einen Becher in die Hand. „Ich sagte doch, dass ich die Plätze besorge! Hast du keine Ohren?" gab die Frau schnippisch zurück und streckte ihm kurz die Zunge heraus. „Aber trotzdem, vielen Dank, dass du was zu trinken geholt hast. Ich verdurste gleich..."
Dann erkannte er die Pfadfinder und verschluckte sich beinahe an seinem eigenen Getränk. Heute, an seinem vermutlich letzten Urlaubstag, sah er einem General nicht sehr ähnlich, jedenfalls nicht so, wie sie es gewohnt waren. Statt der Rüstung trug er nun einen von dunkelgrün bis schwarz verlaufenden Kimonó, der mit einem zarten Landschaftsmuster aus dunkelblauer und silberner Seide bestickt war und eine bizarre Mondlandschaft zeigte.
„Ach... Ihr seid auch hier?" „Sieht so aus!", schnappte Tókui ärgerlich und drehte ihren Kopf demonstrativ zur Seite; die anderen taten es ihr gleich. Diesen Kerl, der praktisch an allem schuld war, hätte wohl jeder von ihnen am liebsten erwürgt.
Auf der anderen Seite nahte Talingo, hinter ihr ein sehr müder und traurig wirkender Hotáru, der sich anscheinend nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Eigentlich hatte er ja keine Lust gehabt, hierher zu kommen – aber die Heilerin hatte ihn praktisch dazu gezwungen. Vorsichtig ließ er sich neben Moko nieder, der am Ende der Reihe saß, und legte den Kopf auf die Arme. Am liebsten hätte er geschlafen...
Talingo ließ ihre scharfen Augen aufmerksam über die Kinder gleiten und erkannte mit Freuden sofort, dass sich anscheinend alle brav an ihre Anweisungen gehalten und ihre wichtigsten Gegenstände mitgebracht hatten. Jeder von ihnen hatte prall gefüllte Taschen und kleine Beutelchen unter den Gewändern versteckt. Soweit, so gut.
Bevor allerdings das Schauspiel seinen Anfang nehmen konnte, wurde erst mal gewartet.
Endlich zeigte ein dumpfes Murmeln der Menge an, dass sich anscheinend etwas tat – der König war auf seinem Balkon erschienen und ließ sich dort einsam und lediglich von zwei Wachen flankiert nieder, die kerzengerade neben seinem bequemen, thronartigen Sessel Aufstellung bezogen hatten und ebenso wie die Menge dankbar aufkeuchten, als große Markisen über die runden Sitzreihen gezogen wurden. Gleich war die Hitze um einiges leichter zu ertragen –
Neben dem königlichen Balkon befanden sich noch zwei weitere, etwas tiefer gelegte Erker, in denen nun zur Rechten die Konkubinen, zur Linken eine äußert unzufrieden dreinblickende Prinzessin, ihren riesigen Saurier im Schlepptau, Platz nahmen und vom König mit einem hoheitlichen Nicken begrüßt wurden. Die Konkubinen lächelten ihm verschmitzt zu und begannen sich kichernd miteinander zu unterhalten, während Asuka lediglich mit bockiger Miene vor sich hin starrte und jegliches Wort ihrer Erzieherin, die mit strengem Blick hinter ihr saß, ignorierte, bis ein junger Mann wie aus dem Nichts hinter ihr auftauchte und sich mit einer eleganten Geste verbeugte. „Darf ich mich erdreisten, um einen Platz neben Euch zu bitten, schöne Prinzessin?"
Als Asuka bemerkte, dass eine ältere Frau mit rosaroten Haaren neben den Konkubinen aufgetaucht war und ihnen dank ihrer strengen Miene anscheinend einen Großteil ihrer guten Laune verdarb, lächelte sie freundlich und wirkte entspannter. „Aber selbstverständlich, Mágusa- san. Ich freue mich, dass Ihr neben mir sitzen möchtet, es wird die Spiele um vieles interessanter machen..." Sie bemerkte nicht, dass der Blick des jungen Herzogs schon längst zur anderen Seite geglitten war, auf der er Konkubine Eakeno beobachten konnte. Sie war so wunderschön...
Ruckartig hob der König die Hand und der Kampfplatz erwachte zum Leben; zwei mittelgroße Ceratosaurier wurden durch zwei gegenüberliegende Tore eingelassen und begannen beinahe sofort miteinander zu kämpfen; es dauerte nicht lange und endete blutig. Der kleinere der beiden Fleischfresser schien um einiges aggressiver als sein Artgenosse zu sein; in wenigen Minuten hatte er den anderen quer durch die ganze Arena gejagt und schließlich in einer Ecke gestellt; die heftigen Bisse, die er einzustecken hatte, schien er nicht einmal zu spüren.
Der größere Ceratosaurier hielt den Kopf gesenkt und begann gefährlich zu knurren, allerdings nützte seine bedrohliche Pose nicht viel, schon nach wenigen Minuten war er durch den hohen Blutverlust so geschwächt, dass er nicht mehr in der Lage war, sich zu wehren. Knapp unter dem Tribünenrand stürzte er keuchend nieder und konnte nicht mehr aufstehen; die Soldaten eilten hinzu und erlösten das geschwächte Tier durch einen gut gezielten Pfeilschuss. Die Menge klatschte zwar hie und da begeistert auf, schien im großen und ganzen allerdings recht gelangweilt; man erwartete Aufregenderes. Und das sollten sie auch bekommen, zuerst allerdings schafften einige Soldaten die beiden Saurier fort.
Als Moko neben ihm heftig zusammenzuckte und scharf die Luft einsog, hob Hotáru langsam den Kopf und erstarrte. Eben wurde Káshira durch das Gittertor gelotst und befand sich nun mitten in der Arena; aber nicht allein dieser Umstand veranlasste die Frauen in der Menge dazu, ausgelassen zu johlen und auf den Fingern zu pfeifen. Seine Kameraden wurden rot und begannen miteinander zu tuscheln, während Hotáru die Augen nicht von ihm abwenden konnte. Was er da nämlich trug, war alles andere als bieder...
„Uuh! Seht mal, wie hübsch Senpai- san aussieht!" kreischte Haná begeistert und sprang halb aus dem Sitz auf. Kamomé konnte sie nur mit Mühe zurückhalten, gleich von der Tribüne auf den Boden zu springen und donnerte wütend: „Schäm' dich! So ein großes Mädchen, und immer noch so dumm! Hast du denn keinen Funken Anstand im Leib? Was soll nur aus dir werden?" „Pah! Du bist gemein!" schmollte Haná zurück und setzte sich wieder hin.
„Pah! Hört gefälligst auf damit!" zischte Káshira peinlich berührt und schlug die Arme trotzig vor der Brust zusammen. „Seht ihr, das habt ihr davon! Konntet ihr mir keine richtigen Kleider geben, hä?" Die Soldaten grinsten und brachen dann in meckerndes Gelächter aus. „Das ist aber nicht unsere Schuld, da kannst du dich bei den Konkubinen und Asuka- híme bedanken. Sie haben Shi Huángdì nämlich so lange genervt, bis er erlassen hat, dass alle hübschen jungen Männer in solchen – hm, Gewändern kämpfen sollen. Daher – " mit einem letzten Winken verabschiedeten sie sich von ihm. „Viel Glück noch!"
„Dankeschön!" maulte Káshira ärgerlich hinterher und blickte verlegen zu Boden.
Seine Bekleidung hatte es wirklich in sich: statt einer schützenden Rüstung trug er lediglich eine breite Schärpe quer über den Oberkörper, um die Hüften nichts weiter als ein dünnes Röckchen, darunter befand sich zwar ein kurzes Höschen, das aber nichts an der Sache änderte, und an den Füßen leichte, geschnürte Sandalen. Den Kerlen aus der Eisenschmiede hätte dieser Aufzug jedenfalls ganz sicher den Kopf verdreht. Es war einfach... erniedrigend, so vor allen Leuten stehen zu müssen, unbewaffnet und den sicheren Tod vor Augen...
„He! Junge!" Irgendwer war hinter ihm aus dem Tor getreten und brüllte laut, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Blitzartig drehte er sich um; vielleicht sollte er ja noch einmal begnadigt werden –
Seine Hoffnung wurde brutal zerstört, als er einen Soldaten sah, der mühsam ein anscheinend ziemlich schweres Gerät vor sich herschob, dass ein wenig einem Küchenbord ähnelte. Darauf hingen verschiedene Waffen, unter anderem Morgenstern und Schwert; anscheinend hatte er doch eine winzige Chance. Allerdings war sie so winzig, dass sie auf einer Nadelspitze bequem Platz gehabt hätte.
„Also dann! Wähle eine der Waffen, und dann kann's losgehen!" rief der Mann fröhlich aus und wies mit einer ausholenden Geste auf die Geräte vor sich. Im ersten Moment war Káshira völlig ratlos, dann besann er sich und griff hastig nach einem langen, breiten Krummschwert, dass eine sehr gezackte Klinge aufwies. Zwar hatte er das Desaster in Sankhya nicht vergessen, bei dem er von Mosar beinahe getötet worden wäre, hätte Hotáru nicht eingegriffen, trotzdem traute er sich diese Waffe noch am meisten zu. Schlussendlich war es ja ohnehin egal, was er tat, denn diesen Kampf konnte er nicht gewinnen, das wusste er. Zwecklos, auf ein Wunder zu hoffen... aber natürlich tat er die ganze Zeit über nichts anderes.
Die Tribüne bebte, als sich das zweite Tor öffnete und ein riesiger Allosaurus die Arena betrat, den massigen Schädel gesenkt, die kleine Augen weit und aufmerksam geöffnet. Er konnte noch das Blut seiner Vorgänger riechen; das allein genügte schon, um ihn rasend zu machen. Wie verrückt begannen die Leute zu klatschen und zu schreien; mitten in diesen Trubel beugte sich Talingo zu Moko und wies leicht auf den Saurier. „Die Tiere werden mit speziellen Drogen gefüttert, damit sie noch wilder werden. Dann würden sie selbst ihre eigenen Jungen anfallen – man kann sie in diesem Zustand nicht zurückhalten. Aber keine Sorge." Für einen kurzen Moment blitzte so etwas wie ein Lächeln auf. „Ich habe euch doch gesagt, dass wir dieses Mal das Schlimmste verhindern können – "
Obwohl keiner der Pfadfinder wirklich sicher war, ob er ihren Worten Glauben schenken sollte oder nicht, klammerten sie sich an diese winzige Hoffnung. Wenn die Heilerin das sagte, dann würde es wohl stimmen...
„Oh! Sénsō! Was tust du denn hier?" quiekte Kagamí plötzlich höchst überrascht und streckte die Arme nach dem kleinen Saurier aus, der unerwartet aufgetaucht war und nun über den Köpfen der Menschen kreiste. Langsam ließ er sich nieder und kauerte sich auf Kagamí's Schoß zusammen, der ihn hingerissen streichelte und alles um sich herum zu vergessen schien.
Unterdessen stand Káshira dem aufgestachelten Allosaurus gegenüber, seine Waffe fest in beiden Händen; obwohl er furchtlos wirken wollte, zitterten seine Knie wie Espenlaub.
Langsam näherte sich das riesige Tier und raste dann schnell entschlossen auf seinen kleinen Gegner zu; Káshira konnte sich gerade noch durch einen ziemlich uneleganten Sprung zur Seite retten und hob die Waffe. Als er zum Hieb ansetzte, hielt das Publikum den Atem an; er hatte sogar getroffen und nun spritzte dunkles Blut aus einer klaffenden Wunde am Hinterbein und durchnässte alles im Umkreis von einigen Metern.
Polternd ließ Káshira die Waffe zu Boden fallen und sank mit leichenblassem Gesicht auf die Knie. Videospiele und so was waren okay, da machte Töten nichts aus – das machte sogar Spaß; aber während er hier saß und den vor Schmerzen brüllenden und in die leere Luft schnappenden Saurier beobachtete, wurde ihm furchtbar übel. Was hatte er nur getan? Er konnte dieses Tier nicht töten. Er konnte es nicht einmal mehr mit der Waffe schlagen – nur zu gut waren ihm sowohl das Geräusch der reißenden Haut als auch das plötzliche Hervorbrechen des Blutes in Erinnerung. Vor Ekel und Angst geschüttelt schauderte er, als er bemerkte, wie warm es sich noch immer auf seiner Haut anfühlte. Nein, sollte dieser blöde Saurier ihn doch fressen, das war ihm jetzt auch schon egal. Aber noch einmal kämpfen – nein, das kam nicht mehr in Frage.
Verschwommen sah er die tobende Menge, die ihn anscheinend aufforderte, das Schwert wieder aufzunehmen und es dem Tier zu zeigen; irgendwo in dieser brodelnden Masse steckten auch seine Kameraden und sein kleiner Bruder. Er wusste nicht, ob sie es verstehen würden, aber er konnte es nicht mehr... Beschämt und verzweifelt vergrub er seinen Kopf in den Händen und begann heftig zu schluchzen.
„Was machst du denn bloß! Jetzt kämpf' doch richtig, wie es sich für einen Mann gehört!" kreischten die aufgeregten Menschen und bedachten den am Boden sitzenden Jungen mit Buhrufen und hie und da auch geworfenen Obststücken oder alten Sandalen.
Yamanéko hingegen erhob sich mit verzerrter Miene und presste eine Hand vor ihren Mund. „Das ist ja widerlich! So einen miesen, unfairen Kampf habe ich ja noch nie gesehen! Jīngtǐ, los, laß' uns bitte gehen!" Der General zögerte kurz und gab sich dann einen Ruck. „Yamá- chan, wir kommen durch diesen Hexenkessel nicht durch. Komm, warten wir noch kurz – " „Hast du etwa davon gewusst? Das die ihn an einen Saurier verfüttern wollen?" schrie die Géisha plötzlich aus und starrte ihn mit einer so wutentbrannten Miene an, dass ihm Hören und Sehen verging. „Ja, sag' mal, schämst du dich denn gar nicht? Noch vor zwei Tagen sagst du mir, die Kinder tun dir leid, weil sie keine Kämpfer sind, und dann so was?" Es knallte zweimal laut; dann rieb sich der General verdutzt die Wange und setzte zu einer raschen Entschuldigung an. „Aber Yamá! Du weißt doch, dass ich in dieser Sache nichts zu – " Aber Yamanéko hatte sich bereits herumgedreht und war in der brodelnden Menge verschwunden.
„Mist! Das darf doch nicht – " Ein dünner, hoher, entsetzlich verzweifelter Schrei ließ ihn herumfahren und wieder auf den Kampfplatz blicken. Der Allosaurus hatte sich langsam herumgedreht und musterte seinen Gegner tückisch. Er schien zu fühlen, dass er alle Zeit der Welt hatte – genussvoll humpelte er immer näher und näher an sein Opfer heran, dass wie gelähmt am Boden saß und die Hände über den Kopf geschlagen hatte, nur um nichts mehr sehen zu müssen...
„HEE! HALLO!" Irritiert drehte Mosar den Kopf hin und her, um die Quelle der lauten Rufe zu erkennen; die Menge war viel zu unübersichtlich und ständig in Bewegung, als dass man –
„Mein Gott! Seht ihr das? Seht ihr das?" Eine Vielzahl hektischer Stimmen kreischte entsetzt und völlig überrumpelt auf, als sich eines der massiven Tore öffnete und eine ganze Woge verschiedenartiger Saurier aus der Öffnung quoll.
Der General erstarrte innerlich zu Eis, als er die vor Schreck und Angst verzerrten Gesichter rund um sich bemerkte. Die Tiere würden sie auf der Stelle zerfleischen – wenn sie nicht sofort die Zuschauertribüne räumten, dann würde es Tote geben – und wo war Yamanéko hin? Wenn ihr etwas geschah - „Beeilt euch! Räumt die Plätze, führt die Leute zum Ausgang, na, macht schon!" brüllte er den wenigen, in der Menge verstreuten Soldaten zu und packte die Erstbesten an den Armen, um sie mehr oder weniger sanft hinaus zu bugsieren. Zufällig fiel sein Blick dabei auf Heilerin Talingo, und was sie tat, bestätigte zweifellos jeden einzelnen Verdacht. Mit kühler Miene und zusammengepressten Lippen war sie gerade damit beschäftigt, die Pfadfinder auf schnellstem Wege aus dem Amphitheater zu lotsen, keineswegs etwa, um sie dort seinen Soldaten zu übergeben; am Eingang, von der aufgewühlten Menge vollkommen unbeeindruckt, warteten einige vermummte Gestalten.
Abwartend saßen sie auf hochbeinigen Sauriern mit seltsam geformten Knochenkämmen auf ihren Köpfen; wäre Kagamí nicht zu sehr damit beschäftigt gewesen, zu laufen, was das Zeug hielt, dann hätte er den anderen sicherlich gern erklärt, dass es sich dabei um Lambeosaurier handelte.
Unterdessen war mitten in der Arena ebenfalls ein verhüllter Reiter aufgetaucht, der sich schützend vor den zusammengekauerten Káshira gestellt hatte und mit einer fließenden Bewegung zwei leicht gebogene Schwerter zog und sie dem verwundeten Allosaurus elegant durch die Kehle zog. Vorsichtig wagte es Káshira, seinen Kopf zu heben und sich umzusehen.
„Uäh! Was ist – " brachte er gerade noch aufs höchste erstaunt hervor, bevor Blutstropfen wie ein Platzregen auf ihn niederfielen und jegliches weitere Wort zunichte machten. Als der tödlich verwundete Saurier dröhnend zu Boden krachte, scharten sich beinahe sofort Dutzende Tiere um ihn und bemühten sich, das saftigste Stück Fleisch aus dem röchelnden Tier zu reißen. Schweres Blut pulsierte bei jedem Herzschlag aus der riesigen Halswunde; auch ohne die ungeduldigen Räuber wäre er in wenigen Minuten von selbst verendet.
Die Gestalt auf dem Saurier packte ihn ungeduldig am Arm und gab ihm durch hastige Gesten zu verstehen, dass er sich entweder lieber auf den Rücken des Tieres schwang, oder darauf wartete, dass sich die hungrigen Fleischfresser von ihrer Beute ab – und ihm zuwandten.
Eilig streckte er dem Reiter die Hand entgegen, wurde wie ein Kätzchen am Nacken gepackt und in den Sattel gehoben. „Na, da haben wir aber noch mal Glück gehabt, was, du tapferer Kämpfer!" schnurrte ihm eine bekannte, sehr amüsiert klingende Stimme ins Ohr, während sie mit schnellen Sprüngen die kreisförmige Arena durchquerten und sich schließlich, nach Überquerung zweier Innenhöfe und mehrerer Tore, glücklich im Freien befanden und über eine weite Ebene rasten. Ein Glück, dass sie nicht die einzigen waren – die panische Menge verteilte sich auf ihrer Flucht, beritten oder nicht, über die gesamte Fläche in und vor dem Amphitheater. Es war nicht mehr möglich, einzelne Gesichter zu erkennen...
Auch Mosar hatte bemerkt, dass eine Verfolgung der Pfadfinder unmöglich geworden war. Laut vor sich hin fluchend stolperte er über Sitze und bemühte sich nach Kräften, nicht auf die am Boden liegenden Menschen zu treten, als er vor sich einen roten Schimmer entdeckte und einen Freudenschrei ausstieß.
„Yamá- chan! Den Göttern sei Dank! Wo bist du nur gewesen?" Vor Erleichterung beinahe schluchzend, packte er sie an den Schultern und zog sie heftig an sich. „Du kannst dir ja nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe – tu das nie wieder, hörst du? Nie wieder!"
„Und du, lass' mich nicht mehr allein, hörst du? Ich – habe immer Angst um dich – " flüsterte die schöne Géisha außer Atem und sackte leicht in seinen Armen zusammen. „Es ist schrecklich, in so einer Panik allein zu sein – ich dachte, man hätte dich zertrampelt, oder einer der Saurier hätte dich gefressen – " Krampfhaft begann sie kurz zu schluchzen, bis sie sich plötzlich einen Ruck gab und gefasst mit dem Ärmel über die Augen wischte.
Gemeinsam beobachteten sie, wie viele Soldaten mit Netzen und dicken Seilen anrückten, um die wildgewordenen Tiere in Schach zu halten und durch bestimmte Kräuter, geschickt in riesigen Fleischklumpen getarnt, wieder zur Ruhe zu bringen. Nach einer Weile gelang es auch; erleichtert wandte sich Mosar ab und strich Yamanéko sanft über den Kopf. „Geht's wieder? Ich hatte auch Angst – diese Biester sind so unberechenbar, man möchte es nicht glauben – "
„Hurra! Geschafft!" Erleichtert und fröhlich aufjauchzend packte der Reiter, der Hotáru unter den Achseln gepackt und auf seinen Saurier gehoben hatte, nach seiner Gesichtsmaske und zog sie aufatmend hinunter. Sie waren offensichtlich die Ersten an diesem Treffpunkt; kein anderer Mensch war hier zu sehen.
„Ähm... vielen Dank für die Hilfe, aber wer sind Sie eigentlich? Sollte ich Sie kennen?" stammelte Hotáru verwirrt und musterte den jungen Mann. Kurze, weiße Strähnen fielen über das hübsche Gesicht, aus dem ein Paar unwahrscheinlich blauer Augen blitzte.
Der Mann grinste und gab ihm einen kurzen, sanften Knuff in die Wange. „Du bist aber ein niedlicher Kamerad! Kein Wunder, dass die Lady dich unbedingt retten wollte!" Als er bemerkte, dass seine Worte den Jungen vor sich nur noch mehr verwirrten, lachte er schallend auf und tätschelte gutmütig seinen Kopf. „Ach, keine Angst! Ich bin Dāorèn, Steuermann auf der Línghún und Untergebener der schönen Lady Hǎi." Mit einer knappen, komischen Bewegung verbeugte er sich dienstbereit und grinste noch schelmischer als zuvor. „Es ist ja auch gemein, wir kennen dich schon alle aus den Erzählungen deiner Freunde, und du hast anscheinend keine Ahnung, wer wir sind... Aber was soll's. Bald wirst du ohnehin alle kennen lernen, die ganze Geschichte sollten dir lieber deine Freunde erzählen."
„Und da kommen die ersten auch schon!" ertönte plötzlich eine laute, tiefe Stimme neben ihnen. Ein weiterer attraktiver junger Mann, diesmal mit flammendrotem Haar, war hinter ihnen aufgetaucht und hatte die beiden Zwillinge aufgeladen, die vor lauter Aufregung über ihre Flucht nichts um sich herum bemerkten. Begeistert schnatterten sie laut miteinander und starrten mit glänzenden Augen und weit geöffneten Mündern in die Runde.
„Also du bist der Kleine, von dem Hǎi die ganze Zeit spricht. Damit dir eins mal klar ist..." Er trieb den Saurier mit Hilfe eines sanften Schenkeldrucks näher an ihn heran und beugte sich so weit nach vorne, dass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Seine gelben Augen schienen gefährlich zu glühen; Hotáru bekam es direkt ein wenig mit der Angst zu tun. „Du lässt die Finger besser weg von ihr, ja? Sonst kannst du deine Einzelteile über ganz Asante verstreut aufsammeln, klar?" „Jetzt laß' ihn doch. Er kennt sie doch gar nicht!" warf der Mann, der sich als Dāorèn vorgestellt hatte, beschwichtigend ein. „Du übertreibst wieder mal, Inázuma..."
Noch bevor der Rothaarige antworten konnte, dröhnte wieder der Klang dumpfer Schritte, und wenige Sekunden später brachen weitere berittene Saurier durch die herabhängenden Zweige der Koniferen; Zwölf waren es insgesamt. Nebst Hǎi und ihrer Schiffscrew ritten noch fünf Unbekannte mit, die ihre Maske nicht von den Gesichtern nahmen, sondern an Ort und Stelle bezahlt wurden und dann wieder ihrer Wege ritten. Aufatmend ließen sich die Pfadfinder von den harten Rücken der Tiere gleiten; Haná und Kiíchigo waren gleich die ersten, die sich über Rückenschmerzen beklagten.
„So, da wären wir! Na, seid ihr jetzt zufrieden?" strahlte die junge Frau, die hinter Káshira stand, und zog mit einem schnellen Ruck ebenfalls ihre Maske nach unten. Endlich erkannten die Kinder, die zuerst gar nicht auf die Gesichter ihrer geheimnisvollen Retter geachtet hatten, um wen es sich dabei handelte und jubelten laut. „Lady Hǎi! Und die anderen! Dāorèn! Aañkh! Huǒshān!" schrie es wild durcheinander, die Kinder hängten sich auf die Mitglieder der Schiffscrew und Hotáru stand lediglich mit verwirrtem Gesichtsausdruck daneben, bis sich das Mädchen seiner erbarmte und zu ihm drehte. Wieder durchfuhr ihm der altbekannte Schrecken, als er die Züge erkannte, aber jetzt endlich konnte er sich beherrschen. „Oh... ich sehe. Sie sind die junge Dame, die wir auf dem Dach getroffen haben", meinte er leise. „Sie sehen jemandem sehr ähnlich, den ich mal kannte, wissen Sie?" Hǎi nickte. „Deine Freunde nahmen unsere Hilfe in Anspruch, sie haben mir von dir erzählt." Ein kleiner, wendiger und ziemlich verschlagen aussehender Compsognathus sprang mit einem gewaltigen Satz auf ihre Schulter und streckte seinen Kopf unternehmungslustig vor; Hǎi lächelte wieder. „Das ist Lóng, mein kleiner Liebling. Wenn er nicht da ist, fühle ich mich, als würde ein Teil von mir fehlen..." Plötzlich knackte es explosionsartig hinter ihnen im Gebüsch; erschrocken fuhren die Kinder herum und duckten sich in Erwartung der neuen Schrecken, die über sie kommen würden – ob der General sie jetzt schon gefunden hatte? Was für ein Pech –
Lediglich Hǎi blieb völlig ruhig, gelassen strich sie sanft über die Schnauze ihres Sauriers und lächelte. „Ich hätte dich schon früher erwartet, was hat dich aufgehalten?"
Ein Schemen erschien zwischen den Bäumen; langsam trat er aus dem Schatten der Koniferen und entlockte den Pfadfindern einen erschrockenen Aufschrei. „Sie...?"
„Ich konnte nicht eher hier sein. Der Kleine hat mich aufgehalten.", antwortete eine kalte Stimme ärgerlich, und Talingo ritt auf ihrem Saurier, Dengei vor sich, in die Lichtung ein.
