35. Kapitel

Námida

Nach der anstrengenden Nacht, die hinter den beiden lag, schliefen sie bis weit in den Tag hinein und versäumten sowohl Frühstück als auch Mittagessen, was bei den Übrigen ziemliche Verwirrung auslöste. Von Hǎi, die mit dem zufriedenen Grinsen einer Katze, die soeben den Rahmtopf ausgeschleckt hatte, an Deck saß und abwechselnd Dāorèn und ihre Meisterin ärgerte, war keine Auskunft zu erwarten. Mit einer vagen Handbewegung wies sie in eine beliebige Richtung und murmelte Unverständliches vor sich hin. Schließlich reichte es Tókui und sie erhob sich mit einem entschlossenen Ausdruck in den Augen. „Ich suche die zwei jetzt gleich, dann sehen wir weiter. Was fällt ihnen nur ein, sich aus dem Staub zu machen und uns nichts davon zu sagen. Na, ich finde sie sicherlich bald."

Sie sollte recht behalten; bereits nach einer halben Stunde wurde sie fündig, nachdem sie in jedes Zimmer gestarrt hatte (und auf Tsumé gestoßen war, der sich gerade selbstverliebt in einem bunten, reich bestickten Kimonó um die eigene Achse drehte und in einen großen Spiegel starrte. Pietätvoll war sie eilig wieder aus dem Raum geschlüpft, um seine zufriedene Selbstbetrachtung nicht zu stören) stand sie plötzlich vor Káshira, der sich gerade genüsslich in den Linnen räkelte und Hotáru fest im Arm hielt. Wie vom Blitz getroffen stand sie da. „Ja aber... was tut ihr zwei denn da? Hab' ich da irgendwas verpasst, sollte ich was wissen, oder wie? Wenn ich euch so sehe – " stammelte sie verwirrt, als sie schließlich ihre Stimme wiedergefunden hatte. „Was denkst du dann?" fragte Káshira mit einem spöttischen Grinsen und drückte seinen schlafenden Liebhaber noch enger an sich. Nur einem sehr aufmerksamen Beobachter wäre aufgefallen, dass seine Stimme ein wenig zitterte und auch der Ausdruck in seinen Augen nicht so forsch war wie sonst. Tókui, die ihn schließlich seit Jahren kannte, bemerkte es natürlich und setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, um Hotáru nicht zu wecken. „Also, ihr zwei seid jetzt – zusammen – ein Paar? Sehe ich das richtig?" Als er lediglich mit einem linkischen Achselzucken antwortete und ihr nicht in die Augen sehen konnte, begann sie plötzlich schallend zu lachen und hielt sich dann erschrocken die Hand vor den Mund, doch Hotáru war nicht aufgewacht. „Machst du dir jetzt Sorgen deswegen? Ach, Káshi- chan, du bist vielleicht einer – " Kopfschüttelnd kicherte sie noch kurz und sprach dann mit gedämpfter Stimme weiter. „Dir ist aber hoffentlich klar, worauf du dich da eingelassen hast, oder? Suigín- kun ist keine Frau. Und obwohl wir hier nicht zuhause sind, heißt das noch lange nicht, dass dir deswegen keiner auf die Nerven gehen wird." Sie seufzte leicht und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Sachou zum Beispiel ist in manchen Dingen so was von konservativ, das es mich nicht wundern würde – " Káshira beobachtete sie immer noch schweigend und zog langsam eine schmollende Grimasse, die ihr Herz zum schmelzen brachte. Seufzend erhob sie sich schließlich und tätschelte leicht seinen Kopf. „Meinen Segen hast du. Ihr beide natürlich. Noch viel Spaß und – " Gerade als sie gehen wollte, erwachte Hotáru mit einem Ruck und murmelte schlaftrunken etwas Unverständliches, bis er sie sah und erschrocken zusammenzuckte. „H – Hayasé! Eine... echte Überraschung – " „Ja, aber keine angenehme, was?" kicherte Tókui vergnügt und winkte ihm freundlich zu. „Keine Angst! Für mich geht das in Ordnung, Yumí wird' ich schon zum Schweigen bringen, falls er Dummheiten von sich gibt. Na denn – " Mit einem freundlichen Winken zum Abschied verschwand sie nun endgültig aus dem Zimmer und ließ die beiden allein. Hotáru betrachtete Káshira ein wenig verlegen und wusste nicht, was er sagen sollte. Inzwischen fürchtete er sich schon davor, an die vorangegangene Nacht zu denken – hatte er überhaupt das Richtige getan? Hoffentlich... Seine trüben Gedanken wurden durch Káshira abrupt unterbrochen, der ihn umarmte und einen zärtlichen Kuss auf seine Lippen drückte. „Kummer?" „Hmm..." antwortete er und senkte verlegen den Kopf. „Warum magst du mich?"

Die Frage schien seinen Liebhaber zu überraschen, denn er brauchte einige Zeit, um sich zu einer Antwort durchzuringen. Seine Stimme klang nervös. „Du bist hübsch und so. Und hast einen schönen Körper. Und ich mag dich. Ach, ich weiß nicht, warum ich dich mag! Ist das so wichtig?" „Hm.", gab Hotáru in Gedanken versunken zurück. „Du wirst mein Gesicht allerdings nicht mehr hübsch finden, wenn der Verband herunten ist. In dem Badezimmer hängen zwar keine Spiegel, aber der Marmor – die Narbe wird ziemlich groß sein, weißt du? Dann willst du mich sicher nicht mehr." „Unsinn!" brauste Káshira heftiger auf, als er eigentlich beabsichtigt hatte. „Du bist im allgemeinen attraktiv, auf einen kleinen Kratzer mehr oder weniger kommt's dabei nicht an! Überhaupt täuschen solche Spiegelbilder, du kannst dich in nassem Stein gar nicht richtig sehen." Damit beendete er das Thema und küsste seinen Liebling heftig. Er hasste es, diese Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme zu hören – es machte ihn traurig, denn Hotáru hörte sich dabei an, als wollte er gleich alles, inklusive ihrer Beziehung, aufgeben und sich in einem dunklen Eck verkriechen.

Seine Tröstungsversuche halfen allerdings nicht viel, denn Hotáru war fest davon überzeugt, dass sich Káshira sofort von ihm trennen würde, wenn er erst einmal sein Gesicht gesehen hatte. Zärtlich schlang er die Arme um seinen Nacken und erwiderte seine Küsse; er wollte es bis zur letzten Sekunde auskosten...

Unterdessen wanderte Sachou unkoordiniert an Deck hin und her, starrte unruhig ins Meer oder presste sekundenlang leise wimmernd die Fingerspitzen gegen seine Schläfen. Momentan dachte er nicht im geringsten daran, irgend jemanden wegen seiner Moral zu rügen, dafür hätte er liebend gern die Aufmerksamkeit der Heilerin geweckt, die ihn allerdings geflissentlich ignorierte, bis er schließlich zu Kreuze kroch. Unterwürfig kroch er zu ihr hin, als sie gerade damit beschäftigt war, sich mit Inázuma zu unterhalten, und zupfte leicht an ihrem Arm. „Ähem – Heilerin, dürfte ich Euch um etwas bitten? Mein Zahn tut so schrecklich weh – " Talingo drehte sich nicht einmal um. „Und damit behelligst du mich, Fremder? Ich habe hier zu tun, wie du vielleicht siehst."

Unter normalen Umständen hätte Sachou bei diesem Tonfall sofort umgedreht und die Flucht ergriffen; dies hier war allerdings kein gewöhnlicher Fall. In seinem braven, ordentlichen und unauffälligem Herzen regte sich der Keim der Rebellion, und der nächste Schmerzschub spülte all seine gut verborgenen Aggressionen ans Tageslicht.

Ich habe SCHMERZEN! Ich will eine Behandlung, JETZT SOFORT!!" brüllte er unerwartet so laut los, dass den Zwillingen vor Schreck die Spielsachen (oder kleinen Holzstückchen, etwas anderes gab es hier nicht) aus den Händen fielen. Laut schreiend flüchteten sie zu Moko, der den sonst so sanftmütigen Jungen erstaunt anstarrte. Die Heilerin hingegen beeindruckte sein Gebrüll nicht sonderlich, denn ohne sich umzudrehen kicherte sie leicht und griff ruhig nach ihrem kleinen Körbchen. „Ist ja schon gut! Zeig' mir mal den Zahn, der Schmerzen verursacht." Da das Licht an Deck um diese Tageszeit das beste war, ließ er sich gleich an Ort und Stelle nieder, während ihm Inázuma bedauernd zulächelte und sich die Hände rieb. „Ich bin ihr Assistent..."

„Na, dann wollen wir mal", flötete Talingo gut gelaunt und bog seinen Kopf kräftig nach hinten. Mit einem kleinen Stöckchen aus eisenhartem Holz klopfte sie behutsam an alle Backenzähne, als er plötzlich einen lauten Schrei ausstieß und sich vor Schmerzen krümmte. „Aua! Das ist er! Mein Weisheitszahn!" Die Heilerin nickte zustimmend und lächelte freundlich. „Ein kleiner Trank, damit du keine Schmerzen fühlst, und dann nichts wie raus mit dem Burschen! Am besten zieht man diese Zähne gleich. Inázuma wird mir dabei helfen, und am besten auch noch du – " Mit einer lässigen Handbewegung wies sie auf Moko, der noch immer ratlos in der Ecke stand und winkte ihn zu sich. „Auf mein Zeichen hältst du ihn fest, ja?" „Hmmpf!" quetschte Sachou verängstigt hervor und schluckte gepresst. Er hielt ja schon zuhause keine Zahnbehandlung ohne Spritze aus, und das waren gut bezahlte Profis, nicht so eine seltsame Kräuterhexe wie die da –

Innerhalb kürzester Zeit hatte Talingo den Trank, der ohnehin nur aus Wasser mit Kräuterzusätzen und einigen Tropfen aus mysteriösen, dickbauchigen Kristallflaschen bestand, zubereitet und goss ihm die Brühe ohne Umstände in den Mund. Als Sachou bemerkte, wie Inázuma und Moko seine Arme packten und sich mit ihrem ganzen Gewicht auch noch auf seine Beine stützten, brach ihm regelrecht der kalte Angstschweiß aus. Eigentlich wollte er ihr noch schnell zurufen, die Schmerzen wären schon so gut wie verschwunden, doch dafür war es bereits zu spät; mit dem Geschick jahrelanger Erfahrung hatte sie wieder seinen Kopf nach hinten gedrückt und eine eiserne Zange, die sie zuvor mit einem alkoholgetränkten Tuch gesäubert hatte, aus ihrem Korb geholt. Dann konnte es losgehen.

„AAARGHHAU!" tönte es laut an Tókui's Ohren, als sie gerade die Treppe heraufkam und bewog sie dazu, an Deck zu eilen, um zu helfen. Als sie allerdings die Menschenansammlung sah, verlangsamte sie ihre Schritte wieder und lugte neugierig in das Durcheinander, dass aus einem verschwitzt – verstörten Sachou, einer zufriedenen Talingo, die triumphierend einen großen, blutverschmierten Backenzahn in ihrer Zange hielt, einem bestürzten Moko und einem mitleidig grinsenden Inázuma bestand. „Was sollte denn das werden? Klang, als würde hier jemand geschlachtet werden!" „Aber nein, keine Angst. Wir haben nur gerade deinen Freund hier von großen Qualen befreit!" lächelte Talingo freundlich und drückte ihr den blutenden Zahn zusammen mit einem sauberen Tuch in die Hand. „Da, seine Wunde blutet noch ein bisschen. Würdest du ihm mal das Gesicht abwischen, bitte? Er sieht aus, als hätte er gerade einen Taranga mit den bloßen Zähnen erledigt!" 

Sprachlos starrte Tókui das Häufchen Elend vor sich an, dass einmal als ihr Kapitän bekannt gewesen war. Momentan erinnerte er allerdings eher an einen ausgewrungenen Putzlumpen, wie er da so leise vor sich hin wimmernd am Boden lag, eine Hand fest an seine Backe gepresst. Vorsichtig bückte sie sich und tupfte den Schweiß von seiner Stirn und nach langen Kämpfen auch das Blut von seiner Wange, als es ihr endlich gelungen war, seine Hand davon zu lösen; am besten würde sie ihn wohl ins Bett bringen. Besonders gesund sah er nämlich nicht gerade aus...

Das Wasser in der riesigen Badewanne war angenehm lauwarm und brachte Káshira beinahe zum Einschlafen. Immerhin war die letzte Nacht ziemlich anstrengend gewesen, die nächste stand schon wieder bevor, (das durfte er natürlich nicht ungenutzt vorbeigehen lassen) und er fühlte bohrenden Hunger. Als sein Magen schon zum zweiten Mal lautstark knurrte und seine Rechte forderte, beugte sich Hotáru sanft zu ihm und lächelte zärtlich. „Das klingt aber gar nicht gut. Irgendwo da drin ist ein großes Loch..." Geschickt ließ er seine Finger über den Bauch wandern. „Wo ist es denn? Hier? Oder hier?"

Erschrocken quiekte er leise auf, als Káshira beherzt nach seiner Hand fasste und sie ein ganzes Stück unter den Nabel führte. „Da ist es!" „Pah! Dummkopf!" versetzte Hotáru peinlich berührt und errötete heftig, als er flink nach vorne gezogen wurde und für einen langen Kuss mit seinem Liebhaber verschmolz. Erst als die Tür klappte, fuhren sie entsetzt auseinander und starrten den Eindringling aus großen Augen an. Es war Inázuma, der sich mit wütendem Gesicht und unter steten Schimpfen aus seinen Kleidern schälte und die beiden gar nicht so richtig bemerkt zu haben schien. „Verdammtes Vieh, es hat auf meine neuen Sachen gekotzt – auf meine Hände und meine Haare, wie soll ich dieses eklige Zeug nur rauskriegen, ach, verflucht..."

„Ähm – brauchen Sie Hilfe? Was ist denn passiert?" erkundigte sich Káshira beherzt und grinste den jungen Mann an, der sich nun eilig mit Wasser übergoss und seine Haare einseifte. „Was soll schon gewesen sein? Dieser verdammte kleine Shēngyīn hatte wieder so einen Anfall, bei dem sich die Augen nach innen drehten und der ganze Körper steif wurde – nett, wie ich nun mal bin, wollte ich ihm helfen und hab' eine ganze Ladung von seinen verdauten Heilmittelchen abgekriegt." Wütend rubbelte er sein rotes Haar. „Nie wieder helfe ich dem!"

Als er sich wieder aufrichtete und näher an sie herantrat, erkannten beide eine riesige, tiefe Narbe, die sich über seine halbe Brust zog und auch auf dem Rücken weiterführte. Im schummerigen Licht des Badezimmers hatten sie die dunklen Male nicht gleich richtig gesehen. Hotáru schluckte erschrocken und fasste unwillkürlich nach seinem verbundenen Auge. Inázuma bemerkte ihre Blicke und lachte ein wenig amüsiert auf. „Wundert euch wohl, wer mir diesen schmucken Zierrat verpasst hat, hmm? Keine Sorge, ist schon lange her. Ich war noch ziemlich klein, als ein Saurier in meiner Schulter ein Festmahl gesehen hat." Die plötzliche Härte in seinen Augen strafte den leichthin dahergesagten Worten Lügen. Unbewusst ballte sich seine rechte Hand zur Faust und zwar so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.   

Hotáru begann sich schon äußerst mulmig zu fühlen, als Inázuma plötzlich auf seinen Arm starrte und die Spannung mit deutlicher Anstrengung löste. „Das tut mir aber leid," meinte er verlegen, „normalerweise bemühe ich mich, bei solchen Sachen ganz ruhig zu bleiben. Es gelingt mir nur immer nicht ganz -  Erzählt nur Hǎi nichts, sonst wird sie wieder ärgerlich, ja?" Dann beendete er seine Dusche und gesellte sich zu den beiden.

Káshira ritt heute der Teufel; kurz nachdem sich Inázuma zu ihnen in die Wanne bequemt hatte und eine höfliche Unterhaltung begann, ließ er seine linke Hand langsam wandern und strich sanft über Hotáru's Oberschenkel, der bis zu diesem Zeitpunkt nervös und angespannt neben ihm gesessen hatte. Nun allerdings zuckte er heftig zusammen und stöhnte leise. Der rothaarige Mann warf ihm einen kurzen, fragenden Blick zu und zuckte schließlich die Schultern. Vielleicht hatte der Junge ja Schmerzen –

„Mhhm..." Hastig presste Hotáru die Hand vor den Mund, als Káshira immer weiter vorstieß und eine interessante Stelle gefunden hatte, die er nun ausgiebig betreute. Inázuma bemerkte von all dem nicht viel; munter massierte er seine Haut mit einem der kleinen Säckchen ab, die am Rande der Wanne hingen und aus rauem Bast gefertigt waren. Unterdessen erzählte er einige Anekdoten über das Leben an Bord und vergaß auch nicht, ständig zu erwähnen, wie unnötig die Präsenz seines Widersachers Dāorèn seiner Meinung nach auf der Línghún war. „Ehrlich, also echt! Ich könnte den Laden allein schmeißen, nur mit Tsumé und Hǎi, na ja, und den anderen, aber ihn bräuchte ich nicht – der kann ja gar nichts – "

Plötzlich klappte die Tür zum zweiten Mal und der Quell seines Ärgers trat mit angeekelter Miene herein. Anscheinend hatte die schlechte Gesundheit des kleinen Pteranodon nun auch von ihm Tribut gefordert. Ohne sie groß zu beachten streifte er hastig seine Kleider vom Leib und säuberte sich gründlich, während er von einem sehr verärgerten Inázuma beobachtet und gründlich gemustert wurde. „Du setzt Fett an, Dāorèn, weißt du das eigentlich?" „WAS? Wo?" fuhr der weißhaarige Mann auf und starrte entsetzt an sich herunter, bis er das leise Kichern hörte. „Bist ein Trottel, Dāorèn. Du fällst immer gleich auf alles herein, wie ein Kleinkind." „Ach ja? So wie du bin ich aber noch lange nicht!" gab Dāorèn eingeschnappt zurück und trat hoch erhobenen Hauptes zur Badewanne. „Im Gegensatz zu dir hat mich Hǎi viel lieber. Sie verbring mehr Zeit mit mir, das würdest du auch merken, wenn du eine Uhr lesen könntest – " Würdevoll ließ er sich ins Wasser gleiten, nur um gleich wieder mit einem erschrockenen Aufschrei in die Höhe zu jagen. Inázuma hatte mit einem schmierigen Grinsen das Bastsäckchen genau unter seinem Allerwertesten platziert und rieb sich nun vor hinterhältiger Schadenfreude die Hände. „Ist was, Dāorèn?" fragte er scheinheilig und begann in der Folge lauthals zu lachen. „Du bist ja so dämlich!" japste er schließlich unter Tränen und wischte sich über die Augen. Dāorèn hingegen lachte nicht, sondern packte wütend das unschuldige Säckchen und knallte es seinem Widersacher kräftig auf den Kopf. Schlagartig verstummte das Lachen, und eine wilde Wasserschlacht begann, während Káshira seine Finger mit einem bedauernden Seufzen wieder entfernte und sich zusammen mit Hotáru in eine Ecke drückte, um keine der unkontrolliert in der Gegend herumfliegenden Gegenstände abzukriegen. „HE! Was soll denn das?" Unbemerkt waren zwei weitere Personen in den Raum getreten, bei deren Anblick nicht nur die zwei in der Ecke im Boden versinken wollten.

„L – Lady Hǎi! So eine Überraschung..." murmelte Dāorèn verlegen, während Hotáru beinahe bis zur Nasenspitze in die Fluten tauchte, knallrot bis über beide Ohren. Ausgerechnet sie und Talingo! Was wollten die beiden nur im Männerbad?

„So, so! Wir streiten mal wieder, was? Ihr wisst ja, welche Strafe darauf steht." Mit einem niederträchtigen Grinsen verschränkte sie die Arme und tappte leicht mit dem Fuß auf. Die beiden Männer erröteten und starrten sie bittend an. „Nein, das nicht – bitte..." „Na los. Keine Widerrede!" antwortete Hǎi hochgradig amüsiert und wedelte auffordernd mit der Hand. „Ich bitte mir ein Küsschen aus! Und zwar ein richtiges, nicht nur auf die Wange!"

Alles Maulen und Stöhnen half den beiden nichts, am Ende mussten sie ja doch nachgeben und es hinter sich bringen. Mit zusammengebissenen Zähnen beugten sie sich nach vorne, Inázuma griff vorsichtig nach dem Kinn seines Gegenüber, ärgerlich schlossen sie noch die Augen, und dann -  Hǎi wartete gespannt auf den Augenblick, in dem sich schließlich ihre Lippen sanft berührten und sich eine ganze Weile nicht mehr voneinander lösten.

„Na also! War doch gar nicht so schwer!" jubelte das Mädchen fröhlich und lächelte Talingo glücklich zu, die dem ganzen Schauspiel spöttisch – amüsiert gefolgt war. „Das die zwei noch hier arbeiten – das wundert mich wirklich, weißt du?" „Ach, das war noch gar nichts. Solche Strafen sind sie schon gewöhnt..." gab sie lässig zurück und grinste boshaft. „Du solltest mal sehen, wie süß die beiden in einem Bett aussehen – erst recht ohne Kleidung – "

Mehr brauchte Káshira nicht zu hören. Die war ja krank – warum ließen sich die beiden eigentlich so was gefallen? So dumm konnte Liebe doch gar nicht machen –

„Na gut, genug geplaudert! Dāorèn, Inázuma, an die Arbeit, die Pflicht ruft. Und ihr zwei – " Mit einem Kopfnicken wies sie auf Káshira und Hotáru in der Ecke, „Talingo braucht euch. Verbandwechseln und so, das Übliche eben." Murrend erhoben sich die beiden Männer mit schamroten Gesichtern, kleideten sich an und schlichen hinaus, ohne Hǎi direkt an zusehen. Sie blickte ihnen noch eine Weile grinsend nach, dann verließ auch sie den Raum und nur die Ärztin blieb zurück. Diese musterte sie eine Weile prüfend, nickte schließlich wissend und trat zu Hotáru. „Wie fühlst du dich? Ich hoffe, dein Freund hat sich an meine Anweisungen gehalten." Ein kurzer, abschätziger Blick glitt zu Káshira, dann seufzte sie leicht auf. „Na ja, auch egal. Jedenfalls, ich habe heute beschlossen, deinen Verband zu entfernen. Die Wunde ist zwar noch lange nicht verheilt, aber immerhin geschlossen genug, um es zu wagen. Natürlich musst du trotzdem noch verschiedene Kräuterbäder und Salben benutzen, aber ich möchte es versuchen. Vielleicht heilt sie an der frischen Luft schneller." Zuerst freute er sich natürlich, dann allerdings fiel ihm ein, dass sich Káshira immer noch hier befand – die letzte Person, die er bei so was dabeihaben wollte. Wie sollte er ihm bloß klarmachen, dass er dabei allein sein wollte? Glücklicherweise bemerkte es sein Liebhaber von selbst; taktvoll verbeugte er sich und stieg vorsichtig aus der Wanne (Talingo drehte sich natürlich nicht weg, viel Anstand schien sie ja nicht zu haben), schlüpfte hastig in seine Kleider und verabschiedete sich. „Ich komme dann wieder, ja? Freue mich für dich!"

Nervös lächelnd blieb Hotáru in der Wanne sitzen und drückte sich verlegen gegen die glatte Wand. „Könnten Sie sich nicht umdrehen? Das wäre nett..."

„Na, du bist aber prüde.", meinte die Heilerin schnippisch und drehte sich gelangweilt zur Wand, ständig entnervt mit dem rechten Fuß auf den Marmorboden tappend, bis er endlich fertig abgetrocknet und in seine Kleider geschlüpft war. Das Herz schlug ihm bis zum Halse. Wie sein Gesicht wohl aussehen würde? Er machte sich große Sorgen –

Nachdem ihn das junge Mädchen zurück in das Zimmer gelotst hatte, in dem er und Káshira bereits die Nacht verbracht hatten, war der große Moment gekommen. Langsam löste sie die Verbände und tupfte noch einmal leicht über den Schnitt, bevor sie sich erbarmte und ihm einen großen Spiegel vor die Nase hielt.

Sehen konnte er mit dem Auge tadellos, soviel war jedenfalls mal sicher. Der Rest – Hotáru sog scharf den Atem ein und erlitt beinahe einen Herzinfarkt, als sein Blick zum ersten Mal auf den Spiegel fiel; eine mindestens fünf Zentimeter lange Narbe zog sich über die Wange.

Natürlich war es ein Schock, denn obwohl er immer jeglichen Kommentar über sein angeblich so hübsches Gesicht mit einem verächtlich – ungläubigen Lachen abgetan hatte, war er sich bis jetzt nicht so hässlich vorgekommen. Bis jetzt.

Als er vor seinem eigenen Spiegelbild saß und die lange, dunkelrote Narbe betrachtete, noch nicht völlig verheilt, die Haut rings umher in allen Farben schillernd und schmerzhaft spannend, kam er sich schlimmer vor als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Für ihn gab es nur noch einen einzigen, grausam und punktgenau passenden Ausdruck: Scheusal.

„Geh' weg! Ich will jetzt keinen sehen, klar? Verschwinde! Geh!" zischte er mit einer so verbittert klingenden Stimme zu Talingo, dass ihr jeglicher Spott sofort im Hals stecken blieb. Erstaunt zuckte sie die Schultern und klopfte ihm leicht auf den Arm. „Was hast du? Sieht doch ganz gut aus! Heilt schnell, der Schnitt wird ja auch noch kleiner werden mit der Zeit, und wenn sich die Haut erst mal beruhigt hat, dann – " „Halt den Mund und geh! Ich will jetzt weder dich noch sonst jemanden sehen, klar?" fauchte Hotáru wieder und konnte nur noch mit Mühe die Tränen zurückhalten, und als sie gegangen war, gab es kein Halten mehr. Müde, verzagt und mutlos warf er sich schließlich der Länge nach auf den weichen Futón und vergrub den Stein des Anstoßes in seinen Armen. Wenn er dieses zerstörte Gesicht noch einmal sehen musste, konnte er für die Sauberkeit des Zimmers nicht mehr garantieren. Es war schrecklich, einfach furchtbar. Im Grunde seines Herzens, so tief, dass er selbst kaum einmal dorthin vordrang, war er sich nie so hässlich oder unansehnlich vorgekommen wie jetzt. Káshira würde ihn nicht mehr haben wollen, und wenn er sich doch noch zu einem Küsschen erbarmen würde, dann nur aus Mitleid. Und darauf konnte er nun wirklich verzichten, es war das letzte, dass er wollte. 

Irgendwie tat es gut, sich wieder mal so richtig auszuweinen, obwohl er sich danach vermutlich beinahe schlechter fühlen würde als momentan, aber das war ihm egal. Er hatte ja Zeit...

Es mussten mehrere Stunden vergangen sein, in denen er abwechselnd wie ein Schoßhund geheult oder stumm und bockig gegen die Decke gestarrt hatte. Die Stille tat gut, so konnte er sich wenigstens ein klein wenig an die neue Situation gewöhnen. Dann klappte die Tür.

„Hier bist du also." Kamomé klang wie immer, kühl und besonnen, nicht einmal sonderlich besorgt über sein verweintes Gesicht. Mit gemessenen Schritten durchquerte sie den Raum und tauchte erst mal ein sauberes Tuch in die Schüssel mit klarem Wasser, die auf einem kleinen Kästchen neben dem Bett stand, um ihm das klamme Gewebe, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die Stirn legte. „So, und jetzt wischst du dir mal das Gesicht ab. Warum weinst du überhaupt? Wie ich sehe, bist du den Verband endlich los. Freust du dich denn nicht?" „Worüber sollte ich mich schon freuen?" gab er lustlos zurück. „Auf diese Verunstaltung, die mal ein Gesicht war, kann ich nicht besonders stolz sein, oder? Jeder läuft weg, wenn er diese Fratze sieht." „Ach ja? Laufe ich etwa?" fragte Kamomé spitz und bestrafte ihn mit einem kurzen, schmerzhaften Klaps auf den Arm. „Du Idiot. Glaubst du etwa, eine kleine Schramme wie die da wäre so schrecklich? Mach dich nicht lächerlich." Mit einem Hauch von frivoler Neugier umweht setzte sie sich plötzlich auf die Bettkante und lächelte spitzbübisch. „Was ist eigentlich mit dir und Ryōki los? Ich konnte ein wenig aus Hayasé herausquetschen – ist das wahr?" Als er verlegen und zustimmend nickte, grinste sie noch ein wenig mehr. „Das ist ja süß. Hund und Katze in einem Bett! Aber ich gönne es euch beiden."

„Vergiss' es!" platzte Hotáru plötzlich heraus. „Er wird mich nicht mehr haben wollen, mit diesem Gesicht! Kapierst du das?"

Noch bevor sie antworten konnte, ging wieder die Tür und ein ziemlich verwirrter Watarí, der sich anscheinend gerade vor irgendeiner Arbeit gedrückt  hatte, denn er hielt noch Nadel und Faden in seinen Händen, taumelte in den Raum und entdeckte Hotáru mit einem leisen, entzückten Schrei. „Ah, Ho- chan! Habe ich dich endlich gefunden!"

Als er allerdings die rotgeränderten Augen und den bitteren Zug um den Mund seines Freundes sah, erschrak er heftig und stürmte zu ihm. „Was ist denn passiert? Nun sag' doch!"

„Es ist nichts.", gab Hotáru dumpf und niedergeschlagen zurück, das war allerdings die falsche Antwort für Watarí, der sogleich erschrocken die Arme um ihn schlang und seinen besten Freund fest und dennoch zärtlich an sich drückte. „Nun sag' doch! Warum bist du so traurig? Aber ich bin froh, dass der Verband weg ist. Jetzt sieht man dein Gesicht wenigstens wieder ganz!" „Also, ob das was Gutes wäre!" keifte Hotáru bissig zurück und bemühte sich redlich, dem kräftigen Griff zu entkommen. Aber Watarí war stark, und er selbst nach seiner Krankheit viel zu geschwächt, um eine ernsthafte Chance zu bekommen. Amüsiert sah Kamomé zu, wie er sich immer weniger wehrte und zuletzt müde und kraftlos in seinen Armen zusammensank. Watarí lächelte stolz und wiegte ihn wie ein Baby hin und her; endlich gehörte sein Herzblatt ihm. Wie gut, dass er nicht ahnte, was in diesem Zimmer und genau auf diesem Bett die Nacht zuvor geschehen war! Káshira hätte dann wohl ein paar Zähen eingebüßt.

Hotáru wunderte sich unterdessen ein wenig über seinen Freund. Seit wann benahm sich Watarídori eigentlich so seltsam? Ständig suchte er Hautkontakt und ähnliches, das hatte er früher doch nie getan. Vermutlich aus Mitleid! Aber das konnte er sich sparen, so was wollte er nicht, das würde er ihm noch sagen.

Kamomé erhob sich leise und ging; unter dem Türbogen traf sie mit Huǒshān zusammen, die den beiden Jungen auf dem Bett einen seltsamen Blick zuwarf, denn immerhin hatte sie Káshira zusammen mit Hotáru gesehen und verstand somit die enge Umarmung mit Watarí nicht ganz. Schweigend warf sie einen neuen Yūkata über den kleinen Sessel in der Ecke und verschwand eilig, um das Problem ausführlich mit Aañkh und Dāorèn zu besprechen, die sich gerade zusammen eine Tasse Tee gönnten. Atemlos stürmte die Kleine in den Raum.

„He! Ihr glaubt nicht, was ich – " begann sie gerade, als ihr Blick auf Aañkh fiel und sie verstummen ließ. „Was hast du denn? Ist dir nicht gut?" plapperte sie erschrocken hervor, als Dāorèn rasch die Hand hob und sie zum Schweigen brachte. „Sei mal ein bisschen leise, ja? Aañkh hat im Moment ziemliche Sorgen." „Ach, laß' nur. Es ist ja nicht so schlimm!" begann die ruhige Frau mit ungewohnt fahriger Stimme. „Ich konnte nichts anderes erwarten!"

Ungeduldig hockte sich Huǒshān auf den Boden und musterte sie scharf. „Hattest du etwa Ärger oder Streit? Erzählen kannst du es uns doch!"

Als sie in die zwei erwartungsvollen Gesichter sah, die sich ihr zuwandten, seufzte Aañkh schließlich laut und müde auf; dann begann sie widerwillig zu sprechen.

„Na gut, wenn ihr es unbedingt wissen müsst! Es ist wegen Talingo. Wir kennen uns schon länger, nicht erst seit dieser Schiffsreise, sondern schon seit einigen Jahren. Bevor ich auf der Línghún zu arbeiten begann, war ich Heilerin am Königshof. Und Talingo war ebenfalls dort. Die ersten zwei, drei Jahre gingen glatt, ich sah nicht viel von ihr, sondern musste mit der alten Frau, die von Kōri und Yánshí mitgebracht worden war, zusammenarbeiten. Schon mit ihr war es nicht leicht, gut auszukommen, doch es ging so einigermaßen. Aber als Talingo zwölf Jahre alt wurde und sich immer mehr in die Angelegenheiten der Heiler einmischte, wurde es langsam schlimmer und schlimmer. Sie zog alle anderen auf ihre Seite, weil sie außergewöhnlich begabt war, alles schien ihr zu gelingen, jede Krankheit wurde geheilt." Aañkh schluckte leicht und schüttelte sich. „Nur mir gelang nichts mehr. Meine Patienten gerieten immer mehr in Lebensgefahr, ihre Wunden heilten schlecht, meine Medizin half nicht mehr. Da hatte Talingo den Hebelpunkt gefunden, nach dem sie anscheinend immer gesucht hatte, denn binnen eines Jahres war mein Ruf dahin und sie setzte es durch, dass man mich vom Königshof verbannte. Danach konnte ich keine Stellung mehr finden, da jeder meiner Kunst misstraute. Hätte Hǎi mich nicht aufgenommen, wäre mir keine andere Wahl mehr geblieben, als in Schimpf und Schande zu meiner Familie zurückzukehren. Und heiraten wollte ich nicht, denn etwas anderes wäre mir dann nicht mehr übrig geblieben."

Als sie so geendet hatte, starrte sie Huǒshān mit offenem Mund an, während Dāorèn sanft ihre Hand tätschelte und noch etwas Tee nachgoss. Nach einer kurzen Weile begann er zu sprechen, um ihr wieder ein wenig Mut zu machen; Huǒshān stimmte ihm kräftig zu.

„Auf der Línghún warst du doch immer unentbehrlich, Aañkh. Auch wenn du dich jetzt mit Talingo nicht gut verstehst, sie wird nicht ewig hier bleiben! Und Hǎi hat dich gerne. Du bist unsere Freundin!"

Aber Aañkh war nicht völlig überzeugt. „Talingo ist ebenso mit Hǎi befreundet wie ich. Und heute hat sie bereits darüber gemäkelt, wie schlecht der Verband sei, den ich gemacht habe, denn sie kann ja alles besser. Du musst dir ja keine Sorgen machen, dass sie dich hinauswirft! Weder du noch Inázuma. Huǒshān auch nicht, Tsumé ist für die Küche da, und ihre alte Meisterin wird sie wohl auch nicht von Bord weisen. Aber ich! Durch Talingo bin ich leicht zu ersetzen. Sie wird vielleicht gar nicht mehr am Königshofe aufgenommen, immerhin hat auch sie dazu beigetragen, dass die Gefangenen des Königs entkamen. Na ja, und da ist die Línghún doch der geeignetste Ort für einen Neubeginn!" lachte sie bitter und wischte sich leicht über die Augen. Huǒshān hielt es nicht mehr aus und sprang mit einer heftigen Bewegung auf die Beine. „So ein Unsinn! Das würde Lady Hǎi niemals tun. Wenn ich ihr erzähle, dass du Talingo nicht magst, dann schickt sie die ganz sicher weg! Keine Sorge!" Und mit einem Satz war sie zur Tür hinaus und verschwand polternd um die Ecke.

Kopfschüttelnd, doch mit dem Ansatz eines leichten Lächelns sahen ihr die beiden erwachseneren Seefahrer noch eine ganze Weile schweigend nach.

Hotáru war unterdessen eingenickt und in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen; Watarí machte sich Sorgen. Abgesehen davon wunderte er sich sehr über den seltsamen Yūkata, den sein Freund hier trug; offensichtlich fehlten da ein paar Teile. Leise aufseufzend erhob er sich schließlich, um sich etwas zu trinken zu holen, Essen wäre auch nicht schlecht. So schön es ansonsten war, hier bei Hotáru zu sitzen, ein voller Magen hatte eben auch seinen Reiz. Vorsichtig erhob er sich und schlich nach draußen.

Unterdessen hatte Káshira seinen Liebhaber schon überall verzweifelt gesucht, er wollte sein Gesicht sehen, mit ihm sprechen, und ein weiches Bett war auch nicht zu verachten... Verlegen vor sich hin kichernd und mit roten Ohren versuchte er sein Glück schließlich wieder bei dem Raum, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatten. Mit einem leicht unruhigen Gesichtsausdruck lag Hotáru in den weichen Kissen und schlief; die rechte Hälfte seines Kopfes war tief in den Decken verschwunden. Leise und zärtlich schlich Káshira zu ihm und berührte sanft seine Schulter; mit einem heftigen Ruck fuhr Hotáru hoch und schlug entsetzt den Arm vor sein rechtes Auge, als er ihn erkannte. „Káshira... Warum bist du denn hier?" quetschte er verlegen hervor, während ein eisiger Schock nach seinem Herzen fasste. „Ist der Verband endlich herunten? Zeig' doch mal!" lächelte sein Liebhaber freundlich und versuchte, einen Blick auf das weiße Gesicht zu erhaschen. Hotáru aber drückte sich immer fester in die Kissen und legte die Arme um seinen Kopf. „Sieh' mich bitte nicht an, geh' weg! Wenn du mich siehst, dann willst du nie mehr was mit mir zu tun haben.", wimmerte er kläglich. Káshira war im ersten Moment zutiefst erstaunt, dann zog er entschlossen die Hände von seinem Gesicht und drehte ihn herum. „Was hast du denn?" „Ich bin ein Scheusal, dass ist alles!" kreischte Hotáru zur Antwort und bemühte sich redlich, sein Gesicht wieder zu verbergen. Doch Káshira war wie üblich stärker und schaffte es, ihn ganz herumzudrehen, sein Gesicht zwischen beide Hände zu nehmen und es genau zu betrachten.

Klar, die Narbe war noch ziemlich rot und sah schmerzhaft aus; auch die leichte Schwellung der Augenumgebung war zu sehen. Aber alles in allem –

„Und das soll so schlimm sein? Du siehst doch niedlich aus!" flüsterte er schließlich sanft und beugte sich nach vorne, um die rechte Wange zärtlich zu küssen und mit der Zunge leicht an der Narbe herumzuspielen. Im ersten Moment hatte sich Hotáru völlig versteift und krampfartig die Luft angehalten, dann allerdings begriff er, dass es seinem Liebhaber offensichtlich Ernst war. Machte es ihm wirklich nichts aus? Aber die Wunde sah doch immer noch so hässlich aus...

Plötzlich erhob sich Káshira, packte ihn um die Hüften und hob ihn leicht und geschickt hoch.

„Komm, gehen wir woanders hin! Ich möchte nicht, dass uns Talingo oder sonst wer aufspürt, Tókui weiß ja auch, dass wir hier sind.", meinte er leichthin und griff auch noch nach dem Yūkata, der Vergessen in der Ecke lag. „Jetzt ist ja ohnehin schon Nachmittag, dann können wir bald zu Abend essen. Glaub' mir, selbst wenn du jetzt noch keinen Hunger hast, wirst du ihn sicherlich in Kürze haben!" „Ja, aber – ekelst du dich denn nicht? Der Schnitt sieht doch einfach furchtbar aus- " begann Hotáru verwirrt und wurde durch einen Kuss sofort unterbrochen. „Idiot! Du weißt ja gar nicht, wie hübsch du bist!" rief sein Liebhaber ärgerlich aus und drückte ihn fest in die Kissen des Futón, der in einem kleinen Zimmer richtiggehend auf sie zu warten schien. Aber das konnte doch selbst Hǎi nicht vorhergesehen haben!

Während sich die beiden in ihrem neuen Zimmer bis zum Abendessen vergnügten, fand Watarí seinen Liebling nicht wieder. Verwirrt öffnete er verschiedene Türen, wurde von Tsumé aus seinem Privatgemach geworfen und stöberte Talingo auf, die gerade einen geheimnisvollen Trank aus sehr eigenartigen Zutaten zusammenbraute, aber der Grund seiner Suche blieb auch weiterhin verschwunden. In weiser Voraussicht hatte Káshira sowohl den Riegel als auch einen Stuhl vor die Tür geschoben und blieb somit ungestört, im Gegensatz zu Tókui und Sachou, zu denen Watarí uneingeladen hereinplatzte. Und das gerade in dem Moment, in dem Sachou nach ihrer Hand gegriffen und im Fiebertaumel „Mama" geflüstert hatte. Natürlich war Tókui nicht im geringsten beeindruckt oder so; trotzdem überzog eine leichte Röte ihr verlegenes Gesicht. Gut, dass Yumí dafür die Entschuldigung mit seinem gerissenen Zahn hatte! Sonst würde sie ganz anders –

„Was suchst du denn hier, Ukí? Hast du was verloren?" fragte sie erstaunt, als der schwarzhaarige Junge verlegen in der Tür stand und nach Worten rang. Schließlich gelang es ihm doch, sich einigermaßen zu fassen und seine Frage hervorzuquetschen. „Entschuldigung, aber habt ihr zufällig Hotáru gesehen? Ich kann ihn nicht finden..." „Nein, tut mir leid. In letzter Zeit war ich hier und habe mich um Yumí gekümmert – Talingo hat ihm einen Weisheitszahn gezogen. Schlimme Sache! Jetzt hat er Fieber, der Arme!" lächelte sie freundlich und zuckte nachdenklich die Schultern. „Hast du schon bei Káshira nachgesehen? Der weiß sicherlich mehr..." Watarí begriff nicht, warum sie kicherte und runzelte ärgerlich die Stirn. „Ach, was! Die zwei können sich doch gar nicht leiden, oder? Warum sollten sie dann zusammen irgendwo sein, hmm?"

Für einen Moment war sich Tókui nicht sicher, ob er sie nicht auf den Arm nehmen wollte; als sie allerdings in seine Augen sah und darin nur ehrliche Sorge und ein wenig Ärger sah, verstand sie plötzlich und wurde weich. Instinktiv durchschaute sie ihn und wurde sich darüber im klaren, dass Hotáru mehr als nur einen Freund hatte, der mehr wollte als nur Freundschaft... Ihre Stirn runzelte sich mitleidig, aber aus Gründen der Pietät gegenüber Káshira zuckte sie wiederum nur gleichgültig die Schultern und drehte sich wieder zu ihrem Patienten. „Tut mir leid, keine Ahnung. Vielleicht wollte er ja was essen und ist in der Kombüse." „Hmm, ja... vielleicht hast du recht, danke, Hayasé.", antwortete Watarí zweifelnd und drehte sich zögernd um. Dann gab er sich schließlich einen Ruck und ging vollends hinaus, noch immer auf der Suche.

Während die Línghún nun schon den zweiten Tag in Richtung Casava segelte und die Pfadfinder ein Abenteuer nach dem anderen erlebten, war auch der General nicht untätig geblieben. Sofort, nachdem die Kinder geflohen waren, hatte man ihn vor den König zitiert und unangenehm gerügt. Shi Huángdì brüllte, schrie und tobte schlimmer als jeder Saurier; denn nicht nur die Gefangenen, sondern auch der kleine Pterosaurier waren fort und da auch die fähigste Heilerin des Hofes zu den Flüchtigen gehörte, war sein Ärger grenzenlos. Zu allem Überfluss war auch Hohenpriester Chié aufgetaucht, wie immer flankiert von seinen ständigen Begleitern Hakunétsu und Fánghù, die Mosar mit starren Augen musterten und ihm gehörige Angst einjagten. Noch hatte Chié  nichts gesagt; allerdings war es mehr als deutlich, dass bei einem neuerlichen Versagen diesmal er die Bestrafung in die Hand nehmen würde.

Wie Mosar den Hohenpriester kannte, würde er ihn vermutlich auf einen Insektenhaufen binden und elend verrecken lassen. Oder er würde ihm bei lebendigem Leibe die Eingeweide herausschneiden und sie dann vor ihm auf eine Leine hängen...  Als er mit klopfendem Herzen und anscheinend mehr Glück, als ihm bewusst war, wieder bei seinen Leuten in der Kaserne saß, unterbrach die sanfte Stimme seines Hauptmanns solche und andere triste Gedanken. „General?" meinte der dunkelhaarige Mann leise und beugte sich zu seinem geistesabwesenden Vorgesetzten. „Die Mannschaft steht natürlich voll und ganz hinter Euch. Wenn Ihr befehlt, dann schwärmen wir noch in dieser Stunde in alle Himmelsrichtungen aus, um die Flüchtigen zu finden..." Wider Erwarten taten diese Worte wohl. Obwohl Mosar ihn schon oft wegen seiner zu großen Weichherzigkeit gerügt hatte, wäre er jederzeit dazu bereit gewesen, Sākuru den Majorsposten wegzunehmen und ihn Matandua zu geben, wenn Sākuru nicht schlicht und einfach der bessere Beobachter und kühlere Stratege gewesen wäre...

Die Tür klappte und sein Major trat ein, wie üblich ein abschätziges Lächeln auf den Lippen und sein Schwert, an dem Blut klebte, in der Hand. Nach einer kurzen, knappen Verbeugung trat er zu den beiden Offizieren hin und spitzte aufmerksam die Ohren, als Mosar sofort direkt und ohne Einleitung zu ihnen sprach. „Matandua, Sākuru! Ihr beide wart ebenso wie ich in der Arena, deshalb frage ich euch: Kamen euch die Männer bekannt vor?" Matandua schüttelte nur nachdenklich den Kopf und schwieg, während der Major sofort schaltete. „Das waren nicht nur Männer, General. Die Person, die den Jungen mitten in der Arena rettete, war definitiv eine Frau, eine junge Frau, würde ich sagen." Leise und für die anderen unhörbar seufzend nickte Mosar zustimmend und zuckte im Geist die Achseln. Das war eben das Problem. Sākuru hatte sofort begriffen, das die Gestalt auf dem Lambeosaurier eine Frau war, Matandua dagegen fehlte der Blick für solche Details. Es war ein Jammer...

„Worauf wartet ihr noch?" fragte er sanft und hob milde erstaunt den Kopf. „Sucht alle Häfen ab, befragt die Hafenmeister und verfolgt jedes in Frage kommende Schiff! Und – " Mit Erstaunen sahen die Offiziere ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. „Es würde mich wundern, wenn die Línghún nicht zufällig ebenfalls vor Anker gelegen hätte und zur selben Zeit abgelegt hat. Welch Zufall!" Nun lachte er wirklich, während sich seine Untergebenen ratlos gegenseitig anstarrten und dann seinen Befehlen Folge leisteten.

Der junge General selbst packte noch am selben Abend seine Sachen und verabschiedete sich wieder einmal von einer aufgeregten Yamanéko, die vor allem über das Verschwinden der Heilerin rätselte und ihm gute Reise wünschte, ohne eingeschnappt zu sein. Schließlich war sie diesmal ganz in der Nähe eines aufregenden Vorkommnisses gewesen!

Als er sich gerade auf dem Weg zu den Ställen befand, wurde er plötzlich von königlichen Lakaien zurückgepfiffen und sofort und unverzüglich zum Hohenpriester befohlen, der ihn bereits in seinem Arbeitszimmer nahe dem Schrein hinter dem Schloss erwartete. Er schrieb, anscheinend völlig vertieft, und ließ ihn erst mal eine gehörige Weile warten, bis sich seine Aufmerksamkeit dem angespannt und unglücklich dasitzenden General zuwandte.

„Nun, General Mosar? Fleißig auf der Jagt?" lächelte er beunruhigend und wirkte gefährlicher als jeder Raubsaurier. Mosar schluckte verlegen und zwang sich zu einer leidlich gehorsamen Erwiderung. „Natürlich, Hohenpriester. Weder ich noch meine Männer rasten oder ruhen, bevor wir nicht – " „Schön, schön.", schnitt der Hohenpriester seine Worte mit einer raschen Handbewegung ab, erhob sich und kramte nach einem grün schillernden, eigenartig geschliffenen Stein, der in ein seidenes Tuch geschlagen in einem Beutelchen lag. „Ich bin der letzte, der Euch von dieser Mission abhalten will, noch dazu, wo doch Shi Huángdì ohnehin so verstimmt ist. Nein, worum ich Euch nur bitten will, ist dies: Solltet Ihr diesen kleinen, entflohenen Shēngyīn finden, dann zeigt ihm erst mal diesen Stein, denn dann wird er Euch folgen, wohin auch immer Ihr es ihm befehlt." Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinen Papieren zu und schickte Mosar mit einem befehlenden Wink hinaus; Hakunétsu folgte ihm und schlug das Tor hinter ihm zu. Sinnend betrachtete Mosar den kleinen Beutel in seiner Hand und machte sich nicht zum ersten Mal Gedanken über die Redlichkeit dieses Priesters...