36. Kapitel

Eine bittere Entdeckung

„Ich fange an, mir Sorgen um das Wetter zu machen", meinte Hǎi unvermittelt zu Ráiu, als beide wieder an Deck saßen, die alte Frau an einer riesigen Pfeife ziehend. „Die Stürme werden nicht auf sich warten lassen. Ich kann das Wetter fühlen und es schlägt bald um, wenn wir uns nicht beeilen, werden wir Uerū nicht schnell genug erreichen können. Und Ròushíyú hat keinen so geeigneten Hafen, wie ich dachte. Morgen werden wir in Casava ankommen, sehr früh, wenn die Sonne aufgeht, und dann müssen wir uns sehr beeilen. Nach Ròushíyú sind es ja schon zwei Tage, nach Uerū drei." „Hmm.", antwortete Ráiu unbestimmt und starrte den Rauchringen hinterher, die sie kunstvoll gegen den Mast geblasen hatte. „Was wirst du wegen der anderen Sache tun? Mosar ist nicht dumm, er hat dich sicher erkannt." „Das interessiert mich nicht.", versetzte Hǎi, urplötzlich ernst und verschlossen geworden, während sie unruhig an ihren Haaren zupfte. „Die Zeiten sind längst vorbei und werden nicht mehr wiederkehren. Also vergiss' es, ja?" „Du kannst nicht immer davonlaufen. Eines Tages wirst du entweder freiwillig zurückkehren, oder er wird dich durch die Soldaten holen lassen. Es- " Weiter kam sie nicht mehr, denn Hǎi war wütend aufgesprungen und starrte sie erbost an. „Schlag es dir aus dem Kopf! Wenn ich noch mal solchen Unsinn höre, dann – " Aufgebracht drehte sie sich um und verschwand unter Deck, vermutlich um sich von Inázuma oder sonst jemandem trösten zu lassen, während die alte Frau stirnrunzelnd den Kopf schüttelte und weiter an ihrer Pfeife zog.

Unterdessen wanderte Hotáru am anderen Ende des Schiffdecks langsam hin und her, hielt sich an der Brüstung fest und betrachtete staunend das schimmernde Meer. Tief unter ihm tummelten sich riesige Fischschwärme, deren silberne Leiber hin und wieder im hellen Mondlicht aufblitzten. Dazwischen konnte man sogar einige Ammoniten erkennen, die zwischen dem ganzen schwebten und mit ihren räuberischen Tentakeln nach den Fischen schnappten. Hin und wieder sprang auch ein kleiner Ichthyosaurier nach oben und durchbrach die ruhige Wasseroberfläche, die dann wie ein riesiger Spiegel zu zerbrechen schien... alles in allem eine bemerkenswert schöne Nacht. Und trotzdem musste er plötzlich an Hachinohe denken – wie es jetzt zuhause wohl aussah? Machten sich ihre Eltern Sorgen? Wo würden sie ihre hoffnungslose Suche beginnen, und würden sie jemals aufgeben? Es tat ihm leid, dass sie irgendwann einsehen mussten, dass ihren Kindern nicht mehr zu helfen war – vermutlich ertrunken, unerreichbar gesunken auf dem Meeresgrund, ewig schlafend...

Wie hatten sie nur jemals denken können, dieser Planet hier, so schön er auch war, sei etwas anderes als ein Gefängnis? Sie würden es niemals schaffen, von hier wegzukommen. Am Anfang hatten sie sich an diese winzige Hoffnung geklammert, dass man von überallher, wo man hingekommen war, auf dem selben Weg wieder zurückkommen musste. Aber das war nicht wahr. Manchmal strandete man irgendwo in Ewigkeit, wie hatten sie überhaupt auf Manua hören können? Auf dieses seltsame Mädchen, dass jetzt abgehauen war und mit irgendwelchen Räubern ihr Unwesen trieb. Er hatte sie schon von Anfang an nicht leiden können.

Hotáru ahnte nicht, dass er aus der Dunkelheit heraus schon seit einer ganzen Weile beobachtet wurde, und zwar von einem Paar ziemlich nervöser Augen, die einem nicht minder nervösen Watarí gehörten. Jetzt endlich hatte er den Mut gefasst, den er brauchte, um das Objekt seiner Begierde anzusprechen. Hier und jetzt würde er Hotáru sagen, wie sehr er ihn liebte und brauchte – und sollte er lachen, würde er einfach ins Meer springen. So einfach war das. Während Watarí tief Luft holte und entschlossen die Fäuste ballte, raste nur dieser eine Satz durch sein verzweifeltes Hirn; es war so einfach. Er würde jetzt da hin gehen und Hotáru ansprechen, und dann –

Plötzlich hörte man Schritte; irgend jemand kam gerade die enge Treppe zur Reling hinauf und ging in ihre Richtung. Selbst der durch das belebte Spiel des Mondes auf dem Wasser abgelenkte Hotáru horchte auf und lächelte unerwartet glücklich, als er den Ankömmling erkannte und ging ihm ein paar Schritte entgegen. Watarí hingegen zog sich noch tiefer in die schwarzen Schatten zurück, um zu horchen.

Der Neuankömmling war Káshira, der Hotáru ohne Umschweife um die Taille packte und zärtlich küsste, was bei ihrem ungebetenen Zuschauer einen halben Herzinfarkt auslöste. Die beiden? DIE? Aber – er und Káshira – die hatten sich doch noch nie leiden können...

Als sich das Pärchen auch noch dazu entschloss, noch eine Weile gemeinsam den Mond zu betrachten und leise kichernd miteinander flüsterte, zerbrach etwas in ihm, und er schlich sich so leise davon, wie er zuvor gekommen war. Weder Hotáru noch Káshira bemerkten auch nur das geringste; das leise Scharren auf den Holzplanken hielten beide achtlos für den Wind.

Außer Sicht – und Hörweite musste sich Watarí einen Moment setzten, bevor er wieder klar denken konnte. Schmerzhaft pochte sein Herz an die Rippen, sein Mund fühlte sich so trocken an, als hätte er seit Tagen nichts mehr getrunken, und die Hände zitterten unkontrollierbar. Was war nur geschehen? Wie hatte das nur geschehen können? Warum?

Aber so sehr er sich auch bemühte, in dieser Nacht kam Watarí auf keine logische Antwort. Schmerzhafte Gedanken flatterten durch sein gemartertes Hirn, während er die Fäuste so fest geballt hielt, dass die Nägel in das zarte Fleisch des Handballen einschnitten und kleine, halbmondförmige Narben blieben.

„He! Ukí! Ich will mit Káshira reden, und zwar gleich! Weißt du, wo er ist?" Das war keine Frage, sondern ein glatter Befehl. Kiíchigo war dicht vor ihm aufgetaucht und musterte sein verkniffenes Gesicht mit aufreizend angewiderter Miene. Langsam hob Watarí den Kopf und musterte ihr hochmütiges, schönes Gesicht, während er sich sowohl den qualvollen, langsamen Tod seines Kontrahenten oder aber einen Amoklauf gut vorstellen konnte – dann kam ihm eine kleine, feine, boshafte Idee.

„Sieh' doch mal da hinten nach, aber sei leise", meinte er darum nur kurz, bevor er sich wieder schweigend umwandte und leicht wankend in der Dunkelheit unter Deck verschwand.

Am nächsten Morgen kamen sie zeitig in Casava an und gingen vor Anker; Hǎi musste eilig Wasser nachtanken und sich um die Vorräte kümmern. Noch dazu hatte sie Sachou, der inzwischen von den Toten auferstanden und wieder in der Lage, schmerzfrei und deutlich zu sprechen war, eindringlich um den Gefallen, Aói zu retten, gebeten. Die schöne Seefahrerin war zwar nicht sonderlich begeistert gewesen, aber gut –

„Na schön! Ich werde eurem Freund schon helfen. Jetzt sitzt er ja schon lange genug im Bau, da schaden ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht – " meuterte sie gespielt ärgerlich, während Sachou verlegen die Finger knetete, eine wütende Tókui im Nacken.

Watarí ignorierte seinen ehemals besten Freund geflissentlich, unterdessen lief Kiíchigo mit knallrot geheulten Augen herum und suchte jemanden, bei dem sie sich aussprechen konnte. Bei Kamomé hatte sie allerdings am wenigsten Glück, denn die hielt ihr auch gleich noch eine heftige und lange Predigt über die Wörter „Diskretion" und „Privatsphäre". Und zu den Kleinen mochte sie nicht gehen.

Shíkū zu befreien ging schneller und leichter, als Hǎi gedacht hätte. Da seine Aufgabe als Waffenerzeuger nun beendet war, da das Heer nun alles weitere übernommen hatte, wurde er nicht mehr allzu scharf bewacht und war gegen ein paar schwere Goldmünzen leicht aus seiner Zelle zu befreien. Fröhlich und wie immer in seinem Rededrang ungebrochen hüpfte er glücklich um seine Retter herum und plapperte so lange, bis es Hǎi schließlich nicht mehr aushielt und ihm am Markt einige Süßigkeiten kaufen ließ. Vorsichtig, um nicht von einem der Marktweiber erkannt und aufgedeckt zu werden, eilten sie schließlich Richtung Schiff. Plötzlich allerdings blieb Aói stocksteif stehen und war nicht mehr zum Weitergehen zu bewegen. Mit zitterndem Zeigefinger wies er auf ein kleines, gedrungenes Haus.

„Das „Xiānměide"! Mein Onkel, sein Laden! Der Dreckskerl!" sprudelte es plötzlich ohne Punkt und Komma aus ihm heraus. „Ich will ihm die Meinung sagen!"

„Später, Shíkū, wenn du in Sicherheit bist. Jetzt bist du bloß ein entlaufener Gefangener, den die Soldaten ohne Umstände wieder einsperren und diesmal sicher härter bestrafen würden. Gib' deine Rachepläne im Moment auf!" hielt ihm Hǎi entgegen, doch er hörte nicht auf sie. „Nein, ich werd's ihm jetzt sagen! Mitten ins Gesicht!" kreischte der blauhaarige Junge wütend und wand sich überraschend kräftig aus ihrem Griff.

Ärgerlich zischend folgten ihm Hǎi und Dāorèn, die sich gegenseitig böse Vorwürfe über die blöde Idee, diesem undankbaren Kerl zu helfen, machten. Atemlos blieben sie vor der geschlossenen Hintertüre stehen; glücklicherweise hatte der Junge genügend Verstand besessen, nicht zur Vordertür hereinzuplatzen, wo jeder sie gesehen hätte.

Ein dunkelhäutiger, nicht unattraktiver Mann öffnete und betrachtete den aufgebrachten Jungen und seine ungewöhnliche Begleitung schweigend, bis er sie nach einigen Sekunden zögernd ins Haus ließ. „Dein Onkel ist mit dem Verkauf beschäftigt. Ihr müsst hier im Lager warten.", meinte er kühl, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte und sie einfach stehen ließ. Hǎi warf sich schnell auf den einzigen Stuhl, der an einem kleinen Tisch stand, streckte die Beine aus und griff ungeniert nach einer ananasähnlichen Frucht. Stück für Stück verschwand sie in ihrem hübschen Mund, während Dāorèn abwechselnd sowohl sie als auch die Früchte hungrig musterte. Schließlich bemerkte sie es lachend und ließ ihn freundlicherweise am Boden neben ihrem Stuhl Platz nehmen, wo er dann ebenfalls ein paar Scheiben abkassierte. Aói bekam gar nichts.

Endlich bequemte sich sein Onkel, zu erscheinen und sich den giftigen Blicken seines Neffen zu stellen. Shíkū schien älter und gebeugter geworden zu sein, seitdem er Aói gegen klingende Münze verraten hatte; sein Haar war noch grauer als sonst und die furchigen Hände zitterten. Lady Hǎi streifte er lediglich mit einem kurzen, angsterfüllten Seitenblick; dann glitten seine unstet umherirrenden Augen zur Seite, als hätte er etwas Unangenehmes gesehen. Schwer atmend nahm er auf dem zweiten wackeligen Stuhl Platz und musterte seinen Neffen für einen kurzen, abschätzigen Moment. „Was willst du?"

„Was ich will? Da fragst du auch noch so scheinheilig? Ich will eine Entschuldigung und eine Rechtfertigung deinerseits, klar? Schließlich musste ich nur wegen deiner Geldgier so lange im Gefängnis sitzen!", kreischte Aói empört auf und sprang mit einem einzigen, heftigen Satz direkt vor ihn hin und hielt ihm seinen Zeigefinger unter die Nase. „Na los, ich warte!"

„Da kannst du lange warten. Ich bereue nichts.", erwiderte der Alte trotzig und verschränkte störrisch die Arme vor seinem Bauch, obwohl er im Innersten zitterte. Nach einer Weile war es ihm schon gehörig an die Nieren gegangen, dass er wirklich so weit gegangen war – aber der Major hatte ihn so gut gelöhnt, dass er einfach nicht widerstehen - 

„Ich wüsste da einen Kompromiss.", warf Hǎi urplötzlich ruhig ein, als sie die beiden Trotzköpfe wie zu Stein erstarrt am Tisch stehen und sich gegenseitig wutentbrannt mustern sah. „Shíkū bezahlt mir das Bestechungsgeld, durch das ich Aói freibekommen habe, zurück, und wir reden nicht mehr darüber. Dann darf der Junge mit uns mitfahren, und wenn sich die Gemüter ein wenig beruhig haben, dann kommt er ganz einfach wieder zurück und die Sache hat sich." Zwar schnaubten beide Kontrahenten abfällig, als sie das hörten, da ihnen aber auch nichts Besseres einfiel, behielt Hǎi somit wieder einmal die Oberhand. Nur, als sie das doppelte des eigentlichen Bestechungspreises nannte, hob Dāorèn missbilligend die Augenbrauen und seufzte leise, jedoch ohne etwas zu äußern. Der Laden des Alten ging ja nicht gerade schlecht – und Aói lachte schon wieder. Er fand die Aussicht, mit ihnen zu reisen, wunderschön. Hǎi und ihre Schiffscrew sah das wohl ein wenig anders.

Fröhlich pfeifend und mit einem Haufen teuerer Früchte und Meerestiere beladen wanderten die drei wieder zurück zur Línghún, wo sie bereits sehnlichst erwartet wurden. Durch irgendwelche geheimnisvollen dunklen Quellen hatte Talingo bereits davon erfahren, dass ihnen der General höchstpersönlich auf den Fersen saß; angespannt trieb sie zur Eile.

Sénsō ging es besser, inzwischen schien er seinen Drogenentzug überstanden zu haben, denn mit gesundem Appetit fraß er, ohne zu fragen, die Hälfte der teuren Früchte auf und rülpste lediglich frech und herzhaft, als ihn Hǎi wütend zur Rede stellte.

Aber zum Streiten blieb nicht viel Zeit. In zwei Tagen mussten sie Ròushíyú erreichen und von dort aus so schnell wie möglich nach Uerū weiterfahren; nicht nur der General, sondern auch das schlechte Wetter saßen ihnen bohrend im Nacken. Die See wurde auch langsam immer unruhiger, Einbildung hin oder her, jedenfalls mussten sie bald in Sicherheit sein.

Káshira gefiel die Schiffahrt am meisten, jetzt hatte er genügend Zeit für seinen Liebling und auch während der heftigsten Stürme würden sie entweder auf der Insel oder an Bord bleiben müssen. Und hier wie dort würde es sicher immer ein schönes, weiches Bett für ihn und Hotáru geben – über seine neue Flamme vergaß er beinahe alle anderen Menschen um sich. Kiíchigo hatte inzwischen ihre Tränen getrocknet und trug das Ganze mit mehr Fassung, als ihr jeder eigentlich zugetraut hätte. Inzwischen hing sie ziemlich oft mit Watarí herum, der im Grunde ja das selbe Schicksal mit ihr teilte; die Sache mit Hotáru machte ihm immer noch schwer zu schaffen. Wenn es wenigstens nicht gerade in dem Moment gewesen wäre, in dem er seine Liebe gestehen wollte. Na ja, es war immerhin nicht ganz so peinlich, als wenn er eine Abfuhr von seinem besten Freund kassiert hätte. Wie war er überhaupt auf diesen Gedanken gekommen?

Trotzdem begann er nach einiger Zeit wieder normal mit Hotáru zu reden, als wäre nie etwas geschehen, da er sich selbst eingestehen musste, dass er seinem Freund eigentlich keinen Vorwurf machen durfte. Woher sollte Hotáru etwas erahnen, dass er sich selbst erst vor so kurzer Zeit eingestanden hatte? Káshira war eben einfach schneller gewesen. Obwohl es doch sehr verwunderlich war, dass gerade der große Frauenschwarm solche Gefühle hegte.

Auch Kiíchigo begann sich nach und nach zu beruhigen, und als sie in Ròushíyú anlegten, schaffte sie es wenigstens, eine halbwegs freundliche Miene an den Tag zu legen. In den zwei Tagen hatte sie sich so gut mit Watarí angefreundet, dass sie sich sogar ein leises Gefühl der – aber nein, dafür war es noch zu früh. Im Moment trauerte sie immer noch heftig um Káshira, und wer konnte schon sagen, ob ihre Chance nicht eines Tages doch noch kommen würde? Immerhin hatte sie ihn vor ihrem Exverlobten gehabt – darauf war sie immer noch ein wenig stolz.

Das Wetter wurde, nachdem sie Ròushíyú in weniger als einem Tag hinter sich gelassen hatten, immer wechselhafter und trüber. Ab und zu regnete es ein wenig, zwar noch lange nicht genug, um von einem Sturm oder ähnlichem reden zu können, dennoch schien sich Hǎi immer größere Sorgen zu machen. Vier Tage dauerte die Fahrt nach Uerū nun mal, das konnte man nicht ändern, aber dennoch – und natürlich passierte es genau am Ende ihrer Reise, als sie nur noch ein einziger Tag vom rettenden Hafen trennte.

Schon am Morgen war der Himmel trüb und wolkenverhangen gewesen; unruhig starrte Hǎi in die Ferne und seufzte ab und zu leise. Die Kinder waren lästig und hyperaktiv wie schon lange nicht mehr, trieben die Älteren zur Weißglut und brachten sogar den sonst so sanften und geduldigen Sachou an den Rande des Nervenzusammenbruchs, während Sénsō ständig über Kopfschmerzen klagte und sich selbst durch riesige Mengen Süßigkeiten tröstete, da ihn sonst keiner sonderlich bedauernd wollte, nicht einmal Kagamí.

Ráiu und Tsumé stritten sich bühnenreif; einmal jagte sie der wutentbrannte Schiffskoch sogar mit einem riesigen Mörser bewaffnet quer über das halbe Deck, während sie mit geworfenen Tellern konterte. Kiíchigo begann zu guter Letzt entnervt zu heulen und warf ständig forschende Seitenblicke zu Káshira, der sie allerdings gar nicht bemerkte, sondern so unauffällig wie möglich an Hotáru herumzuzupfen versuchte, der ihm nicht nur einen Klaps auf die Finger verpassen musste. Schließlich sahen ihnen ihre kleinen Brüder zu! Die zwei dagegen warfen sich ziemlich seltsame Blicke zu und erröteten ständig aus unbekannten Gründen. Alles in allem ein nervtötender Tag, noch dazu war die Luft stickig und heiß, schlimmer als in einer Sauna. Nach wenigen Minuten schwitzte man bereits entsetzlich.

Ohne Vorwarnung brach es schließlich kurz nach dem Mittagessen über sie herein, ein gewaltiger Sturm begann. Jedenfalls gewaltig in den Augen der Kinder; die erfahrenen Seeleute winkten lediglich ab und sprachen von einem „kleinen Unwetter". Wie auch immer, die Wirkung war letztendlich katastrophal.

Als die ersten heftigen Böen die Segel besorgniserregend zu schütteln begannen, dass man glauben musste, sie würden jeden Moment reißen, ließ Hǎi die Segel reffen und schickte alle außer ihre Mannschaft unter Deck.

„Es ist einfach zu gefährlich für euch, versteht das bitte. Wenn euch etwas passieren würde, könnte ich mir das nie verzeihen." Und dabei blieb es auch.

Ausnahmsweise weigerte sich niemand; die Macht des Sturmes jagte allen Angst ein. Selbst die unerschrockenen Zwillinge wollten diesmal ihre Neugier nicht unter Beweis stellen und so suchten sie still und leise ihre Zimmer auf.

Die beiden frisch Verliebten störte das stürmische Wetter nicht so sehr wie ihre Kameraden, denn endlich konnten sie das tun, was ihnen schon seit Tagen das Liebste war – stundenlang im Bett zu liegen und nichts zu tun. Endlos unterhielten sie sich über die verschiedensten Themen oder ließen ihrer Zuneigung freien Lauf. Nur, wenn das Schiff allzu heftig bebte und schwankte, klammerte sich Káshira fest an seinen Liebling und vergrub das Gesicht verlegen an seiner Brust. „Ich mag keine Stürme auf dem Meer, weißt du? Überhaupt erinnert mich das zu sehr an unsere Ankunft auf diesem seltsamen Planeten. Wer weiß, vielleicht wachen wir ja plötzlich kurz vor Tomakomai wieder auf und merken, alles war nur ein Traum..." „Möchtest du denn gerne, dass alles nur ein Traum wäre? Hast du dir eigentlich überlegt, was wir, sollten wir wider Erwarten jemals wieder nach Hachinohe kommen, tun sollen? Unsere Eltern werden ausflippen, soviel ist sicher..."

„Ach, du Pessimist! Erstens, hier auf Noa brauchen wir uns deshalb keine Sorgen zu machen. Außer Sachou, Tókui, Aranámi und Kiíchigo hat das doch keiner mitgekriegt. Na gut, Moko vielleicht auch. Aber sonst? Die Kleinen sind sowieso viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und wenn wir wieder zuhause sind, werden wir auch eine Lösung finden. Vielleicht müssen die es ja gar nicht erfahren! Mein Vater zum Beispiel kriegt schon seit Jahren nicht mehr mit, was zuhause so läuft.", antwortete Káshira mit schmeichelnder Stimme und stahl Hotáru eilig einen Kuss, bevor er antworten konnte. Heute wollte er nicht allzu genau über mögliche Zukunftsperspektiven oder Schwierigkeiten nachdenken. Der Sturm hatte schon sein Gutes – wenigstens konnten sie schön faul hier herunten liegen, während sich die Crew mit der ganzen Sache herumärgern musste – nur Hotáru runzelte noch ärgerlich und ängstlich zugleich die Stirn. Nur zu gut erinnerte er sich an den Tag, an dem ihm außer Kamomé jeder die Schuld an der Kursabweichung gegeben hatte – sein Bettgenosse als einer der Ersten, wohlgemerkt. Eigentlich war es schon sehr seltsam, dass gerade sie beide zusammengekommen waren. Abgesehen davon hatte er sicherlich keine Romanzen im Sinn gehabt, als sie an jenem schicksalhaften Sommertag zu einem einwöchigen Ausflug aufgebrochen waren. Hier herrschte ewiger Sommer – irgendwie vermisste er den kühlen Herbst oder die beißende Kälte des Winters zuhause, obwohl er genau wusste, dass er sich dann nur wieder Sommer wünschen würde. Einer plötzlichen Eingebung folgend beugte er sich tief über seinen friedlich vor ihm liegenden Liebhaber und küsste ihn zärtlich. Er wollte Káshira nicht aufgeben – auch später auf der Erde nicht, sollten sie jemals dorthin zurückkehren.

„Mmmh, du willst wohl auch nicht warten", murmelte sein Liebhaber und missverstand die Situation völlig, als er ihn zärtlich tief unter die Decke zog und dort mit Händen und Lippen sanft bearbeitete. Aber es gefiel ihnen trotzdem...

Unterdessen war auf Deck die Hölle los, obwohl der Sturm seinen Höhepunkt gerade hinter sich hatte und bereits im Abflauen war. Dennoch wurden die feuchten Planken durch wütendes Geschrei erschüttert. Ráiu hatte soeben bemerkt, wie weit die Línghún nach draußen auf offene See getrieben worden war – viel zu weit aus dem schützenden Bereich des Korallenriffs, der die größeren Meeresreptilien sonst immer dem Schiff fernhielt.

Jetzt saßen sie wirklich in der Patsche, wenn nicht alle Glückssterne günstig standen und ihnen eine unbemerkte Rückkehr in die Sicherheit des Riffs ermöglichten – wenn ein Liopleurodon in dem Schiff leichte Beute witterte und sie zum Sinken brachte, die Folgen waren nicht auszudenken! Aber natürlich treffen Schwierigkeiten mit Sicherheit immer dann ein, wenn man sie am wenigsten brauchen kann.  

Gerade als der Himmel wieder klarer geworden war und die Sonne den Schiffsrumpf kitzelte, registrierte Dāorèn, der wie üblich auf dem höchsten Mast spazieren ging, eine leichte Bewegung in der weiten Fläche des sonst einigermaßen geglätteten Meeres. Zwar trieben immer noch abgerissene Pflanzenteile, Bäume oder tote Fische an der Oberfläche, doch diese zielstrebige Bewegung war keine Einbildung. So schnell wie möglich hangelte er sich wieder nach unten und teilte seine Befürchtung Lady Hǎi mit, die darüber alles andere als glücklich war. Dennoch konnte sie im Moment nicht viel mehr unternehmen, als allen an Deck befindlichen Personen absolute Ruhe und nur ja keine Hysterie zu befehlen. Wenn sie Glück hatten, jagte der Räuber lohnendere Beute und ließ sie unbehelligt in Ruhe.

Den Kleinen wurde ziemlich bald langweilig. Jetzt durften sie zwar an Deck stehen, frische Luft schnappen und das klare Sonnenlicht bewundern, aber spielen oder auch nur lauter als gewöhnlich sprechen war ihnen ausdrücklich verboten worden. Trotzig murrten die Zwillinge und Haná miteinander, während Kagamí eifrig bemüht war, den äußerst gelangweilten und unzufriedenen Sénsō abzulenken, indem er kleine Steinchen ins Wasser warf und mit ihm die schönen Kreise bewunderte. Das ging eine Weile ganz gut, bis Hǎi das Treiben bemerkte und spürte, wie ihr das Herz stockte. Eilig hastete sie zu den beiden und entriss ihm den letzten Kiesel, den er noch in der Hand hielt.

„Ja, bist du denn wahnsinnig? Weißt du eigentlich, was du da tust?" zischte sie entsetzt, denn ihre Stimme schien sich vor Schreck bereits in eine Ecke verkrochen zu haben und ließ nur ein heiseres Flüstern zurück. Kagamí dagegen fühlte sich keiner Schuld bewusst. „Nein, was denn? Irgend etwas muss ich doch schließlich tun dürfen, oder? Sénsō ist schon so langweilig, dass er nicht mehr weiß, was er tun soll..."

„Du Idiot! Dann könntest du doch wenigstens fragen, ob du so was tun darfst oder nicht, nicht wahr? Hast du nicht gehört, dass wir in großer Gefahr schweben?" fauchte Hǎi aufgebracht und starrte ihn noch eine ganze Weile wütend an. Nach einiger Zeit aber, als nichts Auffälliges geschah, wagte sie langsam auf einen guten Ausgang ihres unfreiwilligen Ausflugs zu hoffen und begab sich zur anderen Seite des Decks.

Unterdessen planten die Kleinen nichts als Dummheiten. Als neben dem Schiff urplötzlich ein Schwarm kleiner Ophthalmosaurier auftauchte und wie lustige Delphine in die Luft zu springen und neben dem Schiff herzuschwimmen begann, jubelten sie begeistert und winkten den hübschen Tieren mit der interessanten Zeichnung und den langen Schnauzen fröhlich zu.

Die Küste befand sich bereits in sichtbarer Nähe; nur noch wenige Stunden trennten sie vom rettenden Hafen der Insel. Selbst der riesige Liopleurodon hatte offensichtlich eingesehen, dass sich die Dschunke nicht gerade als lohnende Beute eignete und schwamm mehr oder weniger friedlich seiner Wege, nachdem er einen der Ophthalmosaurier gerissen und sofort vor den neugierigen und entsetzten Augen der Kinder verschlungen hatte.

„Puh! Das war ja echt widerlich!", rief Sángo seinem Bruder und Haná gut gelaunt zu und winkte völlig arglos zu ihnen hin, als plötzlich einer der bisher hoch über dem Schiff kreisenden Pterosaurier senkrecht nach unten stieß und ihn leicht an der Schulter packte. Erschrocken kreischend versuchte er noch rasch, sich vor dem soeben wieder herabstoßenden Tier in Sicherheit zu bringen, als es auch schon zu spät war. Noch bevor einer der Erwachsenen reagieren konnte, hatte sich der ausgewachsene Pteranodon bereits kräftig in die Schultern des Jungen gekrallt und hob ihn nun, scheinbar völlig mühelos, in die Höhe.

Sángo begann vor lauter Schreck und Schmerz wie am Spieß zu schreien, während Haná und Okami völlig aufgelöst, heulend und kreischend, im Kreis rannten und dabei noch alle anderen behinderten, die nun ebenfalls erschrocken an die Reling gestürzt kamen.

„Was ist denn nur los? Was ist geschehen?" schrie Tókui den kleinen Okami an und schüttelte ihn heftig hin und her, während sich Sachou redlich bemühte, Haná zu beruhigen, um brauchbare Informationen aus ihr herauszuholen. Viel gab es allerdings nicht mehr zu fragen, als Okami auf den davonschwebenden Flugsaurier wies, der nur noch schwach erkennbar in der Ferne schwebte. „Der da hat meinen Bruder mitgenommen!" schrie er außer sich vor Entsetzen und war in den nächsten Minuten nicht mehr zu beruhigen.

„Verdammt! Konntet ihr denn nicht besser aufpassen, ihr Idioten? Wie sollen wir den Kleinen denn jetzt zurückholen?" donnerte Tsumé wütend und erschrocken zugleich, während Dāorèn den heulenden Okami in den Arm nahm, um ihn zu beruhigen. „Shhh..."

„Der ist mit ihm sicher zur Küste geflogen, um ihn an seine Jungen zu verfüttern. Das war nämlich ein Weibchen!" rief Hǎi aufgeregt und wedelte mit ihrer schmalen Hand vor Tsumé's Gesicht herum. „Ich kenne sogar ihren Nistplatz, da kommen wir in ein paar Stunden hin. Keine Angst, das schaffen wir schon. Bitte, jetzt heult doch nicht!"

Verzweifelt blickte sie in die aufgelöste Runde. Kiíchigo hatte unterdessen ebenfalls zu weinen begonnen, während sich Haná an Inázuma presste und die Planken des Schiffes von ihrem Geheule erbeben ließ. Schön langsam hielt es die sonst so hartgesottene Seefahrerin nicht mehr aus – selbst Lóng schien sich die Ohren zuzuhalten.

„Ruhe jetzt! Los, setzt die Segel! Hört auf zu flennen! Noch ist ja kein echtes Unglück geschehen!" schrie sie wie aus heiterem Himmel abrupt los und knallte ihre Faust gegen einen Mast. „Das ist ja nicht auszuhalten!"

Während sie wütend von hinnen stapfte, erschienen Káshira und Hōtáru auf der Bildfläche und wurden sofort von ihren fassungslosen Brüdern in Beschlag genommen. Haltlos sprudelte die ganze Geschichte aus ihnen heraus.

Allerdings dauerte es nicht lange, bis sich zwei drohende Gestalten mit wuchtigem Schritt an die Gruppe herandrängten und die zwei Kleinen zur Seite schoben. „Na, sieh' einer an! Das ihr euch auch noch hierher bemüht! Leider zu spät!" Wer schon, außer Kiíchigo und Watarí, die offensichtlich beschlossen hatten, das Kriegsbeil wieder auszugraben. Schließlich war diese ganze Geschichte noch lange nicht ausgestanden.

Káshira zuckte nur teilnahmslos die Schultern. „Was soll denn das schon wieder? Ist es vielleicht meine Schuld, dass Sángo von so einem Saurier geschnappt worden ist?" „Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn ihr beide nicht ständig unter Deck stecken würdet, um euch miteinander zu vergnügen! Überhaupt nutze ich hiermit die Gelegenheit, euch zu sagen, für wie ekelhaft ich eure Beziehung halte! Uäh! Igitt!" zischte Kiíchigo wütend und warf ihre schimmernden braunen Haare mit einer heftigen Bewegung zurück. Watarí stand still neben ihr, während er sich redlich bemühte, Hōtáru keines Blickes zu würdigen, doch natürlich beobachtete er ihn verstohlen aus den Augenwinkeln.

Káshira konterte mit einem unverblümten Grinsen und schlang die Arme fest um seinen erschrockenen Liebhaber, der im ersten Moment nicht den leisesten Schimmer einer Ahnung hatte, was gleich geschehen würde. Kiíchigo verschränkte abwartend die Arme, während sie das ihr dargebotene Schauspiel mit Ekel und Argwohn musterte. Sie sollte nicht enttäuscht werden; mit lauter Stimme trompetete er los. „Ich habe ihn vernascht, na und? Hast du etwa was dagegen, Kií- chan? Du müsstest das doch am besten von allen hier verstehen, nicht wahr?"

Eine Schrecksekunde lang herrschte entsetzte Stille, dann hob Hōtáru entsetzt die Hand und versetzte ihm eine heftige Kopfnuss. „Ja, bist du denn verrückt geworden? Was posaunst du das denn so laut herum? Spinnst du? Ich dachte, das sollten nicht gerade alle wissen!"

„Als ob das ohnehin nicht schon alle wüssten, dass du es ständig mit dem Kerl da treibst. So was Charakterloses wie dich findet man nicht oft; ich dachte eigentlich immer, er wäre einer deiner größten Feinde!" warf Watarí plötzlich mit ruhiger, tonloser Stimme ein und lächelte süffisant. „Aber das wirkte wohl doppelt so anziehend, was? Ja, da wirft man doch gerne jegliche Moral über Bord!"

Hōtáru wandte ihm sein Gesicht zu. Die Narbe war immer noch nicht völlig verheilt, sondern schimmerte in einem tiefdunklen Rot, auch die Augenpartie wies noch leichte Schwellungen auf. Aber der Blick war ernst und eindringlich wie eh und je.

„Glaubst du das wirklich? Ich meine, ist es dir wirklich Ernst mit dem, was du da eben gesagt hast?" Als ihn sein ehemals bester Freund nur schweigend musterte, legte er noch ein wenig nach. „Ich meine, was habe ich dir getan, dass du solche Dinge über mich sagst? Warum bist du wütend auf mich?"

Watarí warf trotzig den Kopf zurück und trat unruhig von einem Bein auf das andere, hielt seinem Blick allerdings stand. „Natürlich ist es mir ernst! Mehr als ernst sogar! Weißt du eigentlich, wie du dich benimmst?" Plötzlich schien er neuen Mut zu fassen; mit einer aggressiven Bewegung trat er einen Schritt nach vorne. „Selbst Dreck behandelst du besser als deine angeblich „besten Freunde"! Ich hab' es jetzt entgültig satt! Jahrelang musste ich mir deine Litaneien über Ryōki anhören, und jetzt so was! Wofür habe ich denn die ganze Zeit deinen Stiefelabstreifer gespielt, dafür, dass ich jetzt eurem neuen Eheglück zusehen darf?"

„Dazu zwingt dich doch keiner! Was ist denn bloß los mit dir? Ich hätte dich nie für so prüde gehalten, dass dir unsere Beziehung so ein Dorn im Auge ist! Zwischen uns beiden ändert das doch nichts!" antwortete Hōtáru mit erstaunter Miene und runzelte verwirrt die Stirn. Ihm erschien dieser Streit ziemlich Zweck – und grundlos; schließlich hatte Watarí mit seinem Liebesleben überhaupt nichts zu schaffen. Lediglich Kamomé schaltete schnell. „Vielleicht hat die ganze Geschichte mehr geändert, als du dachtest;" warf sie mit einem spöttischen Lächeln ein. „Watarídori hat dich nämlich sehr vermisst – " „Was soll das jetzt schon wieder heißen, du blöde Kuh? Kümmere dich um deinen eigenen Kram!" kreischte Kiíchigo unvermittelt los und stellte sich neben Watarí, während sie Kamomé wütend anfunkelte und ihr dann in einem Aufwall heftiger Gefühle eine Haarnadel, mit der sie schon die längste Zeit zwischen den Fingern gespielt hatte, vor die Füße schleuderte. Am liebsten hätte sie gespuckt.

„Du elendes Miststück! Zuerst machst du dich an Hōtáru ran, bis der verschwindet, und dann tust du so, als könntest du unsere Gegenwart nicht mehr ertragen und wirfst dich diesem Major an den Hals!" Wie ein seidener Faden bahnten sich Tränen ihren Weg über das schöne, gepflegte Gesicht, doch Kamomé kannte kein Mitleid. Sie konterte heftig.

„Als dein, wohlgemerkt, Exverlobter gefangen war und im Sterben lag, hattest du ja nichts besseres zu tun, als mit Ryōki in mein (mein!) Zimmer zu schleichen und dich dort mit ihm zu vergnügen, ohne daran zu denken, dass es Hōtáru vielleicht ein klein wenig weh tun könnte! Wenn du schon jemanden ein Miststück nennen willst, dann dich selber! So arrogant, heuchlerisch und verlogen ist nämlich hier kaum jemand! Lieber noch schließe ich mich den Truppen dieses Generals an, bevor ich dir noch einmal helfe!"

„Püh! Als würdest du das nicht ohnehin tun, wenn der Major mal mit seinem Lendenschurz winkt! Du Schlampe!" gab Kiíchigo heftig zurück und streckte siegessicher ihre Zunge heraus. Mit einem Schlag war es totenstill.

Selbst die Kleinen, die sich bis jetzt mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt hatten, klappten verstört den Mund zu und beobachteten Kamomé, die urplötzlich kreidebleich geworden war und furchterregend aussah wie noch nie. Ihre Augen wirkten wie dunkle, vor Wut funkensprühende Diamanten, und die glatten, blauen Haare sträubten sich, als läge eine hohe elektrische Spannung in der Luft. Langsam trat sie einen Schritt nach vorne.

„Juhu! Ich setze auf die mit den blauen Haaren!" durchschnitt plötzlich ein lauter Ruf die drohende Stille, und Lady Hǎi winkte begeistert mit einem kleinen Geldbeutel. „Los, wer bietet mit? Ich beginne mit einer Goldmünze!"

Der gefährliche Moment war vorüber. Während Sachou und Moko hastig zwischen die verfeindeten Parteien traten und Beschwichtigungsarbeit leisteten, begaben sich die Mitglieder der Mannschaft eilig wieder an ihre Arbeit. In spätestens zwei Stunden, so meinte Hǎi zuversichtlich, würden sie die Küste ganz bestimmt erreicht haben. 

Hōtáru trat langsam zu Kamomé, die sich wieder beruhigt zu haben schien, und runzelte die Stirn. „Was hast du denn damit gemeint?" fragte er leise, packte sie am Ellbogen und führte sie zur Reling. „Was ist denn los mit Watarí? Fehlt ihm was? Hab' ich ihm was getan?"

Kamomé musterte ihn ernst. „Willst du damit sagen, du hast nichts bemerkt?"

„Nein, was denn? Seit wir uns kennen, ist es immer schon so gewesen. Ich meine, es hat sich doch nichts geändert! Okay," er zuckte leicht verlegen mit den Achseln „ich behandle ihn schlecht. Oder – mein Gott, er ist doch sonst nicht so eine Memme! Wenn er wütend über irgendwas ist, soll er es eben sagen!"

„Du bist vielleicht naiv." Das blauhaarige Mädchen lachte und klopfte ihm leicht auf die Wange. „Weißt du eigentlich, dass du anscheinend auf ziemlich viele Leute anziehend wirkst? Ryōki, Ukí – " „Ach was, jetzt aber ehrlich! Das meinst du doch im Spaß, oder? Bist du böse, weil ich – " sein Gesicht färbte sich rosarot, „mit Káshira – ähm, sozusagen – zusammen bin? Okay, das hätte ich – nie hätte ich damit gerechnet! Ich meine, ich bin doch nicht schwul! Das war irgendwie – " Er brach ab und blickte leicht verträumt in den strahlend blauen Himmel, während sich seine Wangen immer röter färbten, „so selbstverständlich – ich habe mir darüber früher nie Gedanken gemacht, aber bei ihm, da fühle ich mich irgendwie geborgen. Als wäre es richtig, ihn zu lieben – als würde ich endlich mal das Richtige tun. Ich hab' doch schon so viele Fehler gemacht!" Verlegen lächelnd strich er sich durch das feine, blonde Haar und räusperte sich. Kamomé sah ihn von der Seite her an und schüttelte leicht den Kopf, während eine Welle voll warmer Zuneigung durch ihr Herz flutete und sie die Augen niederschlagen musste, um sich nicht zu verraten. „Mein Herz ist wie Eis," dachte sie mit einem kribbelnden Gefühl in ihrer Brust „so spröde, leicht gebrochen. Deshalb achte ich auch darauf, dass es niemand unachtsam behandelt – aber bei diesem Dummkopf kann ich nicht anders." Resignierend zuckte sie mit den Achseln und schenkte ihm ein feines Lächeln. „Weißt du was, Hōtáru? Ich bin froh, dass wir uns etwas besser kennengelernt haben. Zu schade! Noch vor einem Jahr hielt ich dich für einen schlimmeren Idioten als Ryōki."

Unvermittelt starrten sie sich an und lachten herzhaft los, bis sich eine dritte Person zu ihnen gesellte. Überrascht blickten sie sich um; es war Kagamí. Mit gesenktem Blick und dunkel umrandeten Augen murmelte er eine hastige, verlegene Entschuldigung und schickte sich an zu gehen. Kamomé hielt ihn zurück, die weiche Stimmung machte sie versöhnlicher.

„Ist ja schon gut, ich trage es dir nicht mehr nach. Aber trotzdem geht mein Leben nur mich etwas an, genauso, wie jemand anderes an deinem nichts herumzumäkeln hat. Verstanden?" „Okay" antwortete Kagamí verlegen und biss nervös an seinen Fingernägeln herum. Die letzten drei Tage, in denen Kamomé ihn mehr oder weniger übersehen hatte, waren nicht gerade lustig gewesen. Da er nichts davon hielt, sich auf die anderen Kinder einzulassen, war er sehr einsam gewesen. Sénsō war da auch keine große Hilfe; in letzter Zeit nervte er ihn ziemlich mit Fragen nach der Erde. Und obwohl Kagamí seiner Meinung nach erwachsen war und sich keine Gefühle erlauben wollte, würgte es ihm bei dem Thema immer noch heftig in der Kehle.

Eine trügerische Ruhe legte sich nun über die „Línghún". Die Schiffscrew arbeitete still und fleißig, während sich Hǎi in ihre Kajüte zurückgezogen hatte, um einige Karten zu studieren. Die Kinder beschäftigten sich nun wieder mit sich selbst; Haná und Hiyokó sprachen angeregt über diverse Kosmetika oder Fernsehserien, die sie leider versäumt hatten, Kitsuné hatte sich widerstandslos von Chūjitsu am Arm packen und mitnehmen lassen, und die Großen spielten eine mehr oder weniger lustige Partie Mājan miteinander. Okami starrte stumm ins Meer.

Zwar hatten sie Sachou versprechen müssen, sich zu vertragen, dennoch linste Kiíchigo ständig mit bockiger Miene zu Kamomé, die mit kühlem Kopf ihre Griffe tat. Allein ihr Gesichtsausdruck reizte Kiíchigo bereits nach kurzer Zeit über alle Maßen. Sie knallte wütend ihre Faust auf den Boden und brachte so das gesamte Spiel in Unordnung, ohne sich jedoch dafür zu entschuldigen. Tókui sah sie an. „Was hast du denn auf einmal? Bist du eingeschnappt, weil du im Moment nicht gewinnst, oder was? Konzentrier' dich eben!"

„Daran liegt es gar nicht!" rief das braunhaarige Mädchen mürrisch aus und wies mit anklagender Miene auf die teilnahmslose Kamomé. „Sie nervt mich die ganze Zeit!"

„Du solltest deine eigenen Fehler nicht ständig auf andere Leute abwälzen, Kiíchigo", antwortete Hōtáru an ihrer Stelle und ordnete leicht abwesend einige Steine. „Du bist ja bloß eifersüchtig, weil sie klüger ist als du."

„Von so einem abartigen Homo wie dir lasse ich mir schon gar nichts sagen! Geh' doch mit dem Schiffskoch ins Bett, vielleicht kriegen wir dann wenigstens was Besseres zu essen!" schnappte sie mit überschlagender Stimme zurück „Du dämlicher Trottel!"

„Bitte, jetzt hört doch auf zu – " begann Sachou mit sorgenvoll gefurchter Stirn, wurde aber sofort von Tókui unterbrochen, die ihm einfach den Mund zuhielt. „Entschuldige dich jetzt gefälligst dafür, klar?"

„Püh! Auf gar keinen Fall! Perverser, Perverser, Perverser!" stimmte Kiíchigo hysterisch schreiend an und sprang hastig auf die Beine, um vor Kamomé in Sicherheit zu kommen, die bereits einige Steinchen prüfend in ihren Händen wog.

Moko versuchte zuerst noch zu vermitteln, gab dann aber bald auf und setzte sich kopfschüttelnd auf den Boden, während er sich mit beiden Händen heftig die Ohren zuhielt.

Kiíchigo wurde ihren Singsang bald leid und verlegte sich darauf, ihre Kameraden wahllos mit den Mājan- Steinchen zu bewerfen, die sie sich eilig aus dem großen Haufen geschnappt hatte. Obwohl die leichten Treffer kaum schmerzten, wurde Káshira ärgerlich und sprang hastig zu ihr hin, um ihre Arme festzuhalten. „Hör' jetzt endlich auf damit! Wie alt bist du denn?" „Was zählt das denn jetzt noch?" lachte sie irr auf und warf ihre wallenden Haare zurück, dass die Haarnadeln nur so auf den Bretterboden sprangen. „Du hast es dir ja fein ausgedacht, nicht wahr? Wozu die dumme Kiíchigo nehmen, wenn doch ihr herrlicher Verlobter zu haben ist, was? Warst du eigentlich immer schon pervers veranlagt? Und deshalb so komisch im Bett? Lag es vielleicht gar nicht an mir?" Tränen quollen langsam aus ihren halbgeschlossenen Augen. „Oder bin ich daran schuld, dass ihr beide so geworden seid?"

Plötzlich schien jegliche Kraft aus ihrem überdrehten Körper zu weichen; schluchzend sank sie in seine Arme. „Ich liebe dich doch! Warum tust du mir das nur an? Was ist denn nur falsch an mir?"

Als Hǎi wenig später nichtsahnend aus der Kapitänskajüte trat, um ihren Gästen mitzuteilen, das sie in kurzer Zeit anlegen würden, erwartete sie das heulende Elend.

Kiíchigo schluchzte immer noch zum Steinerweichen an Káshira's Brust, dem das ganze eher unangenehm zu sein schien, obwohl sie ihm natürlich leid tat; Moko und Tókui hatten sich so leise wie möglich von der Gruppe entfernt, um mit an die Ohren gepressten Fäusten in die See zu starren, während Sachou aufgescheucht um die Gruppe herumschwirrte und nicht wusste, was er tun sollte. Kamomé hatte sich mit einem hoheitsvollen Nicken entfernt, eifrig gefolgt von Kagamí, der sich in ihrer Nähe kaum zu atmen wagte, um sie nicht wieder zu verärgern. Hōtáru räumte langsam die über das halbe Deck verstreuten Spielsteine ein, während ihn Watarí teilnahmslos musterte und an seinen Nägeln kaute.

Haná und Hiyokó hatten sich vorsichtig genähert und beobachteten ihre schluchzende Freundin aus sicherer Entfernung, und für Okami schien es nichts Aufregenderes geben zu können als das wogende Wasser.        

Hǎi wusste nicht, was sie zu dem ganzen Schlamassel sagen sollte; also streichelte sie lediglich sanft über Lóng's kleine Schnauze und musterte die aufgelöste Runde mit sorgenvollen Augen. Plötzlich war sie froh, nur eine kleine, eingeschworenen Mannschaft zu haben, die sich zwar ab und zu stritt, aber nicht in diesem Ausmaß.

Meisterin Ráiu näherte sich mit einem leisen Lächeln. „Na, kleine Hǎi? Du siehst so sorgenvoll aus." Die Seefahrerinnen blickten sich sekundenlang schweigend an, bis Hǎi schließlich die Schultern zuckte und verlegen lächelte. „Was soll's?"

„Hey! In einer halben Stunde oder so legen wir an, ja?" rief sie darauf betont zuversichtlich aus, obwohl ihr keiner zuhörte außer Okami, der jedoch den Kopf nicht zur Seite wandte.