37. Kapitel

In den Fängen der Pteranodon

Endlich hatte die „Línghún" die Küste der Insel Uerū erreicht und suchte eine geeignete Landestelle; den offiziellen Hafen würde die Crew später ansteuern, wenn Sángo erst einmal gefunden war.

Kiíchigo hatte sich mit ihren Freundinnen in eine leere Kabine verzogen; der lautstarke Auftritt war ihr irgendwie doch ein wenig peinlich. Sogar die Kleinen hatten zugehört...

Zuvor hatte Hǎi der gesamten Truppe eine harsche Standpauke gehalten, in der sie mehrmals erwähnt hatte, dass ihr solche Streitereien heftige Kopfschmerzen verursachen würden, die sie dazu animieren könnten, sie alle ein für allemal über Bord zu werfen – Sachou war danach zum heulen. Wenn die „Línghún" nicht kurz danach vor Anker gegangen wäre und er dankbar die Aufgabe ergriffen hätte, auf die Kleinen aufzupassen (eigentlich nur auf einen sehr stillen Okami und einen übellaunigen Kagamí), wären ihm vielleicht wirklich ein paar Krokodilstränen aus den Augen gekullert. Mit harter Kritik kam er nicht sehr gut zurecht.

Nun war Dāorèn gefragt. Außer ihm wagte es keiner, allzu weit auf die hohen, durch tiefe Schluchten voneinander getrennte Felsrümpfe zu klettern. Aber Sángo befand sich vermutlich bereits auf dem Nistplatz, wenn er nicht sogar schon als Futter diente.

Dāorèn erhielt sogar einen leidenschaftlichen Kuss von Hǎi, als Belohnung und Ansporn seiner Tapferkeit sozusagen, was Inázuma beinahe zur Weißglut brachte. Da musste er ihn natürlich auch küssen, auf Befehl des Kapitäns.

Schließlich zog Dāorèn los, bewaffnet mit Säbel, Schwert und einer großen, langstieligen Fackel. Das Schwert hatte er sich auf den Rücken gebunden, einerseits, um bessere Bewegungsfreiheit zu haben, andererseits, weil er keines der Tiere verletzen wollte. Obwohl er ein guter Schwertkämpfer war, hatte er kein Verlangen nach Blutvergießen; anders als Inázuma wollte er sich auch nicht rächen. Mit der Fackel hoffte er, die Pteranodonbrut auf Abstand halten zu können; die Kinder hatten ihm einen Campinganzünder geschenkt.

Der Aufstieg war zwar etwas kompliziert, jedoch für einen, der schon seit seiner Kindheit ständig auf Dächer, Berge, Masten und ähnliches geklettert war, nicht allzuschwer. In weniger als einer Stunde hatte er es schließlich geschafft.

Die Felsen schlossen oben in mehr oder weniger geraden Plateaus ab, auf denen Moose, Gras und vereinzelt auch kleine Koniferen wuchsen. Hier nisteten die Flugsaurier, direkt auf nacktem Felsgestein. Die kleinen Pteranodonbabies hatten sich am größten Plateau zusammengerottet und schrieen einhellig nach Futter. Die Mutter war nirgendwo zu sehen.

Leise, um nur ja nicht vor der Zeit gehört zu werden, schlich sich Dāorèn knapp über dem Boden, mit der Nase fast im dampfenden Dreck, immer weiter an die Tiere heran.

Überall lagen Knochen und faulende Fleischbrocken verstreut; am Rande des Nistplatzes häuften sich die widerlichen Überreste sogar zu kleineren Hügeln. Dāorèn rümpfte angewidert die Nase, kroch aber dennoch in den Schutz, den die Abfälle boten. Vielleicht würden ihn die Flugechsen so nicht allzu schnell entdecken.

Schon nach wenigen Minuten raubte ihm der faulige Dunst schier den Atem. Wie sollte er den Jungen denn so wiederfinden? Er konnte es ja selbst nur kurze Zeit auf diesem Brutplatz aushalten, ohne zu ersticken. Die Luft war einfach zu ekelerregend und dick.

Plötzlich bewegte sich einer der Haufen neben ihm; kleine Knochen, die vermutlich einmal unachtsamen Saurierbabies gehört hatten, kullerten geräuschvoll nach unten. Dāorèn hielt vor Schreck den Atem an, doch die Pteranodon hatten anscheinend nichts bemerkt: sie achteten nur auf den Himmel über sich, wo sie wohl ihre Mutter erwarteten.

Eine kleine Hand erschien und tastete sich ihren Weg über die Reste unzähliger Mahlzeiten, kurz darauf stemmte Sángo seinen lädierten Körper vorsichtig nach draußen.

Wie er es geschafft hatte, stundenlang die verdorbene Luft einzuatmen und den Sauriern zu entgehen, war Dāorèn, der staunend zusah, vorerst rätselhaft.

Sángo stöhnte leise auf, als er ihn bemerkte, und begann dann, völlig erschöpft, zu weinen; ohne auf den Zustand seiner schmutzigen Kleider zu achten, nahm ihn Dāorèn erst mal sanft in die Arme und strich ihm beruhigend über den Rücken. Dann schob er ihn ein kleines Stückchen von sich weg und sah ihn forschend an.

„Du bist ein tapferer Bursche! Wie hast du es nur fertiggebracht, diesen Viechern zu entgehen? Deine Freunde machen sich große Sorgen um dich. Wir müssen versuchen, so schnell wie möglich zum Schiff zurück zu kommen." Sángo schluchzte noch ein paar Mal, schien dann aber neuen Mut zu fassen und wischte sich mit einer kräftigen Bewegung über das verweinte Gesicht. „Okay. Hoffentlich schaffen wir es, hier wegzukommen!" Seine Augen glitzerten schon wieder gefährlich. „Das war der schlimmste Tag meines Lebens!"

„Das glaube ich dir gern!" antwortete Dāorèn lächelnd und packte ihn sanft, aber bestimmt am Handgelenk. „Komm, wir versuchen uns wegzuschleichen. Vielleicht merken sie es ja gar nicht!"

Eilig huschten die beiden los, hatten aber diesmal kein Glück. Zwar hatte das Pteranodonweibchen gerade einen kleinen Lesothosaurus abgeladen, dennoch witterten die Kleinen das frische Fleisch, dass gerade im Begriff war, sich davonzustehlen. Ein wütendes Geschnatter begann, und die Flugechsen nahmen hurtig die Verfolgung auf.

Zu einem anderen Zeitpunkt hätte es den beiden Fluchtenden vielleicht Spaß bereitet, dem seltsamen Gang der Tiere zuzusehen, wie sie ihre aufgeklappten Flügel als zusätzliche Beine benutzten, doch diesmal packte nicht nur Sángo die pure Angst. Zwar schwenkte Dāorèn eifrig die soeben angezündete Fackel, doch das half immer nur für Sekunden, und die Saurier schienen mit der Zeit zu verstehen, dass ihnen von dem Feuer kein großer Schaden drohte, wenn sie nur geschickt auswichen. Langsam zog er schließlich den Säbel, obwohl er zuvor gehofft hatte, auf ein sinnloses Blutbad verzichten zu können.

Plötzlich und ohne dass sie es gemerkt hätten, formierten sich die kleinen Saurier zu einem tückischen gemeinsamen Angriff. Mit unerwarteter Heftigkeit stießen sie alle zusammen auf die zwei Menschen nieder und brachten ihnen Hieb – und Kratzwunden ein; die kleinen Schnäbel waren messerscharf. Offensichtlich sahen sie in den beiden nun lohnende Beute und waren bereit, sie mit allen Mitteln zu fangen.         

Dāorèn schrie entsetzt auf, als er sich einen wuchtigen Hieb auf den Arm einfing, der ihn der Länge nach aufschlitzte und einen wahren Blutstrom hervorschießen ließ; Sángo schlug unterdessen wild um sich und versuchte, sein Gesicht zu schützen. Dennoch zierte schon nach kurzer Zeit eine lange, tiefe Schramme seine linke Wange.

Verzweifelt sprangen sie von Felsblock zu Felsblock, doch es half nur wenig. Die ganze Brut war ihnen auf den Fersen, man konnte nicht einmal abschätzen, wie viele es genau waren. Mindestens zehn, wenn nicht noch mehr, schätzte Dāorèn während seiner wilden Flucht.

Wenn ihm nicht schnell etwas einfiel, dann waren sowohl die Kräfte des Jungen wie auch seine eigenen am Ende und sie würden als Babynahrung dienen, kein erstrebenswertes Ende. Eigentlich hatte er sich eine besondere Belohnung von seiner angebeteten Lady erwartet, wenn er ruhmreich nach Hause käme – jetzt allerdings sah es eher nach einer tränenreichen Beerdigung aus, vorausgesetzt, jemand suchte überhaupt noch nach ihren Knochen. Der Gedanke an seinen ewigen Rivalen Inázuma, der danach sicherlich mit Freuden seine geliebte Lady trösten und ausgiebig betreuen würde, gab ihm plötzlich neue Kraft. Aufmerksam sah er sich um.

„Da!" schrie er jäh aus und packte Sángo am Arm, jegliche Schmerzen vergessend, „Wir können da vorne an der Seite herunterspringen, die Felsenkette fängt kurz darunter an. Dann rennen wir bis zum Boden, von dort aus erreichen wir die „Línghún" ganz schnell, du wirst sehen!" „Ich kann da nicht springen!" hielt ihm Sángo klagend entgegen und presste wimmernd die Hand auf seine aufgeschlitzte Backe. „Ich bin nicht schwindelfrei!"

„Aber ich", entgegnete Dāorèn, wie durch Zauberhand mit einem Schlag völlig beruhigt und lächelte sogar leicht, obwohl sein Arm brannte wie Feuer. Mit Klettern kannte er sich aus, nicht umsonst war schon seit seiner frühesten Jugend kein Dach vor ihm sicher gewesen.

Vorsichtig, um die Wunde nicht noch schlimmer zu machen, hob er den zappelnden Sángo auf seinen Rücken und befahl ihm eindringlich, sich gut festzuhalten. Dann schloss er für eine Sekunde die Augen.

Sángo schlang seine Arme in Todesangst wie ein kleines Äffchen um die kräftigen Schultern und die Beine um die schlanke Taille des mutigen Seefahrers. Er selber fühlte sich so zermantscht und hilflos wie noch nie, aber das war nach diesem grauenhaften Tag wohl kein großes Wunder. Nie wieder würde er einen Flugsaurier niedlich finden!

Dāorèn stieß sich heftig ab und bemühte sich, im Gleichgewicht zu bleiben. Mit dem zusätzlichen Gewicht des Jungen schwebte er zwar nicht gerade wie eine leichte Feder durch die Lüfte, aber wenigstens waren die Pteranodonsprösslinge am Rande des Felsplateaus stehen geblieben und starrten ihnen eifrig schnatternd hinterher.

Mit einem mächtigen Ruck landete Dāorèn auf dem schmalen Grat der Felsenkette und wirbelte dabei eine Menge Staub und kleiner Steinchen auf, die sie wie ein dichter Nebel einhüllte, in Mund und Nase drang und sie zum Husten und Würgen brachte.

„Tut mir leid!" brachte Dāorèn schließlich keuchend heraus und ließ den zitternden Jungen absteigen. „Aber ich glaube, die Biester folgen uns nicht. Ist doch ein kleiner Trost!"

Sángo war da anderer Ansicht, hielt es aber für besser, zu schweigen, bevor ihm der Seefahrer gar nicht mehr helfen wollte. Immerhin war die Fackel zu Bruch gegangen, und wo der Säbel abgeblieben war, wussten die Götter.

Nachdem die Flugsaurier sie nicht mehr verfolgten, konnten sie es wagen, in aller Ruhe den Berg hinabzusteigen um nach dem Schiff zu suchen. In Ermangelung ordentlichen Verbandszeuges hatte Dāorèn unter Stöhnen und Klagen einen Teil seines ohnehin schon ziemlich verdrecken Hemdes abgerissen und um den aufgeschlitzten Arme gewickelt.

Den ganzen restlichen Weg erzählte er Sángo jammernd, dass es sich dabei um sein absolutes Lieblingshemd handelte, das einzige, in dem er wirklich gut aussah – wenn er Pech hatte, dann würde ihn Hǎi nie wieder ansehen wollen, nur, weil er dieses Hemd nicht mehr anziehen konnte... irgendwann wurde es Sángo zuviel. Trotz aller Schüchternheit platzte er los.

„Warum haben Sie es auch gerade heute angezogen, Sie wussten doch, dass es schmutzig werden wird!" Als ihn Dāorèn nur verdutzt anstarrte, legte er noch ein bisschen nach. „Ich meine, Sie sind doch alt genug, um zu wissen, dass man schöne Sachen nur zu gewissen Gelegenheiten trägt, oder? Ist das Ihr Festtagshemd?"

Der hübsche Seemann fing nach einer kurzen Pause, in der er über das Gesagte nachdenken musste, leidenschaftlich zu lachen an und tätschelte sanft seinen Kopf. „Oh, da hast du mich aber falsch verstanden! Mein Festtagshemd ist das zwar nicht, aber es ist mir weitaus wichtiger! Es ist nämlich", hier senkte er verschwörerisch die Stimme, als könnte sie jemand belauschen, „das Hemd, das ich damals trug, als ich Lady Hǎi zum ersten Mal gesehen habe. Es ist zwar schon ein alter Fetzen, aber als Erinnerungsstück unbezahlbar."

„Wie haben Sie die Lady damals eigentlich kennen gelernt?" fragte Sángo neugierig gerade in dem Moment, in dem das Schiff vor ihnen auftauchte. Dāorèn lächelte ihm bedauernd zu und winkte in Richtung Mastkorb, wo zweifellos bereits jemand angespannt nach ihnen Ausschau hielt. „Ich erzähle es dir ein andermal, ja, wenn wir einmal in Ruhe zusammensitzen!" meinte er noch, bevor eine aufgeregte Lady Hǎi das Fallreep hinablief um sie zu begrüßen. Als sie seine Wunde sah, stockte sie entsetzt und schlug die Hände vor den Mund. „Ach, du liebe Zeit!" rief sie erschrocken aus und nahm seinen Arm zart wie ein rohes Ei in ihre Hände. „Was ist denn nur geschehen? Ich dachte, du wolltest den Jungen vorsichtig da rausholen – war denn die Mutter da?"

Talingo, die ihr auf dem Fuß gefolgt war, nahm sich zuerst Sángo vor und betastete seinen Schnitt so heftig, dass er mit einem Aufheulen zurückfuhr. „Das tut doch weh!"

„Tut mir wirklich leid", antwortete sie ungerührt und schob Hǎi, die gerade damit beschäftigt war, sanft über den verletzten Arm zu streicheln, ungeduldig zur Seite. „Das hilft ihm aber auch nicht weiter! Ab mit ihm ins Bett, würde ich sagen."

„Ich bin aber gar nicht müde!" wagte Dāorèn tapfer einzuwerfen, wurde aber sofort von ihr unterbrochen. „Glaub' mir, wenn die Wunde erst mal gewaschen, behandelt und genäht ist, dann wirst du dir wünschen, ruhig liegen zu dürfen." Vor ihrem fiesen Grinsen stockte ihm direkt der Atem, ebenso wie Sángo.

Zum Glück erwies sich der Riss in der Wange als wenig tief, und so durfte er nach kurzer Zeit und nach einer eher schmerzfreien Behandlung wieder gehen. Okami, der vor lauter Erleichterung heulte wie ein Schoßhund, ließ es sich nicht nehmen, in dieser Nacht neben dem Bett seines Bruders zu wachen.

Bei Dāorèn sah die Sache allerdings ein wenig anders aus. Unter den strengen, besorgten Blicken seiner geliebten Lady und den geschickten Händen der beiden Heilerinnen wurde die Wunde gründlich gesäubert und mit verschiedenen Mittelchen eingerieben, die eine gewisse Schmerzfreiheit garantieren sollten; hundertprozentig halfen sie allerdings auch nicht.

Während sich Aañkh und Talingo mit ernsten Gesichtern ans Nähen machten, schossen ihm die Tränen in die Augen, und er bemühte sich redlich, sie vor Hǎi zu verbergen. Zu allem Überfluss öffnete sich auch noch die Tür und Inázuma trat ein – wie immer mit einem unfehlbaren Gespür für die unpassendsten Momente – doch er sagte nicht viel. Still setzte er sich neben Hǎi, die unablässig über Dāorèn's gequältes Gesicht strich und selber den Tränen nahe schien. Stumm schlang sie ihren freien rechten Arm um ihn und streichelte nun auch sanft über sein Gesicht.

Wie lange sie nun schon so saßen hätte keiner von ihnen sagen können, die Stunden zogen sich wie Ewigkeiten dahin. Es war eine große Erleichterung für jeden, als die beiden Heilerinnen ihre Arbeit beendet hatten und Talingo Dāorèn streng befahl, sich sofort zu Bett zu begeben; Inázuma spürte seine Beine kaum noch, und auch Hǎi schien Schwierigkeiten mit dem Aufstehen zu haben. Dāorèn, dem inzwischen vor Müdigkeit, die teils von den Medikamenten, teils vom nicht gerade geringen Blutverlust herrührte, beinahe die Augen zufielen, wurde von Inázuma über die Schulter geworfen und in Lady Hǎi's Quartier geschleppt, wo er ihn sanfter als gewöhnlich auf den Futón fallen ließ.

Hǎi taumelte hinter ihm durch die Tür und kniete sich neben ihren verletzten Seemann, der bereits in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Erst als sich Inázuma an seinen Kleidern zu schaffen machte, bemerkte er, dass sie weinte.

Erschrocken nahm er sie in die Arme und tätschelte beruhigend ihren Rücken. „Was ist denn? Ihm geht es doch gut! Wäre ja nicht das erste Mal, dass ihm so was passiert." „Trotzdem", schluchzte Hǎi und wischte sich das feuchte Gesicht mit seinem weiten Ärmel ab, „ich mache mir Vorwürfe! Stell' dir bloß mal vor, er wäre gestorben! Ich hätte nicht gedacht, dass ihm bei so einer Aufgabe etwas Ernsteres passieren könnte!"

„Hey, Dāorèn ist eben so. Klettern kann er wie ein As, aber Kämpfen – na, da bin eben ich ein bisschen besser. Deshalb kann ich Euch auch viel besser beschützen!" blies sich Inázuma ein wenig auf und schüttelte sein flammendrotes Haar stolz nach hinten. Hǎi begann zu lachen und zupfte ihn leicht am Ohrläppchen. „Eingebildet bist du wohl gar nicht, was? Los, du kannst ihn gleich mal zu Ende ausziehen. Und – " ihre Lippen schürzten sich zu einem lieblichen Schmollmund, „schläfst du heute auch hier, Inázuma? Ich will an seinem Bett wachen, und da kannst du mich immer wecken, falls ich einmal einschlafen sollte."

„Soso, wachen. Wozu denn? Glaubt Ihr, er wird dadurch schneller gesund?" äußerte Inázuma skeptisch und grinste boshaft, als ihm Hǎi die Zunge herausstreckte. „Ich kann bei seinem Bett wachen! Traust du es mir etwa nicht zu?" fragte sie gespielte beleidigt und schnitt ihm noch schnell eine Grimasse. „So, und jetzt geh' nach draußen und wasch' dich. Ich will – ähm, ich kann Dāorèn nicht alleine lassen."

„Na gut", antwortete ihr schöner Seefahrer achselzuckend und verschwand in Richtung Bad.

Sie blieb schweigend bei Dāorèn zurück und strich gedankenvoll seine Decke zurecht. Der verbundene Arm lag, vorsichtig abgeknickt, darüber auf seiner Brust; Talingo und Aañkh hatten sich damit echte Mühe gegeben. Trotzdem machte sie sich immer noch Sorgen um ihn. Solange nur nichts passierte und sich die Wunde nicht entzündete – aber auf Talingo war in der Hinsicht hundertprozentiger Verlass. Immerhin war sie im ganzen Land für ihre außergewöhnlichen Heilkünste berühmt.

Nachdem Inázuma zurückgekehrt war, bekleidet mit einem kleinen Lendeschurz und einem langen, um den Körper gewundenen Seidentuch, erhob sich Hǎi seufzend und machte sich nun ebenfalls auf den Weg in den Waschraum.

Glücklicherweise war um diese Zeit keiner hier, sie musste nachdenken. Das heiße Wasser tat gut, verscheuchte aber die Sorgen nicht aus ihrem Kopf. Vielleicht hatte ihre alte Meisterin ja doch recht, und sie sollte zurückkehren – das Leben am Königshofe war zwar ziemlich langweilig, aber recht geruhsam. Es konnte einem dort nicht viel passieren, außer hin und wieder ein Streit mit dem König oder der Prinzessin.

„Wenn diese schreckliche Madame Orimé nicht wäre", dachte sie sinnend, „dann wäre ich vielleicht immer noch dort. Aber es macht nicht viel Spaß, dauernd kritisiert zu werden. Und Inázuma und Dāorèn könnte ich dann auch vergessen, allein wegen dem König." Bei dem Gedanken rüttelte sie ein leichter Schauder.

Plötzlich wurden Schritte vor der Türe laut, und sie hob erstaunt den Kopf. Man merkte wirklich, dass sich jetzt fünfzehn Personen mehr auf dem Schiff befanden, ständig lief jemand hin und her, suchte etwas, wollte etwas fragen – sie war froh, dass dieser Ansturm bald ein Ende haben würde.

Doch es war nur Ráiu, die rheumatisch hereinhumpelte und stöhnend ihren Rücken massierte. „Ach, das Alter, das Alter! Du weißt ja gar nicht, wie das ist.", jammerte sie mitleidheischend, als sie Hǎi bemerkte. Die allerdings zuckte nur rücksichtslos die Achseln und grinste. „Was hast du nur schon wieder gemacht? Heimlich spioniert?"

„Also wirklich! Wie kommst du denn darauf?" zischte Ráiu ärgerlich und schüttelte den Kopf, als ihre Schülerin lediglich frech lachte. „Weil du das auch sonst immer tust? Ach, weißt du was?" meinte sie ruhiger, als Ráiu endlich ihren Körper gesäubert hatte und zu ihr in die riesige Wanne stieg, „ich habe gerade darüber nachgedacht, ob es nicht wirklich klüger wäre, wieder auf den Königshof zurückzukehren. Dort könnte Dāorèn nichts mehr zustoßen, weißt du?" Sie lächelte treuherzig wie ein kleines Kind. Ráiu wiegte langsam ihren Kopf hin und her, schien aber nicht ganz damit einverstanden zu sein. „Meinst du?"

„Und warum nicht? Schließlich war es deine Idee." Hǎi zog eine Schnute.

Ihre alte Meisterin ließ sich Zeit, darauf zu antworten; nachdenklich spielte sie mit einigen der Pflänzchen, die am Beckenrand wucherten. „Ach, meine Kleine. Wenn du heimkehren würdest, könnten wir nicht mehr bei dir bleiben, das würde Shi Huángdì niemals erlauben. Abgesehen davon würde ich wahrscheinlich geköpft werden, da ich dich damals mitgenommen und ausgebildet habe – gegen seinen Willen." Sie schwieg für kurze Zeit und schüttelte dann mit einem bedauernden Lächeln den Kopf. „Inázuma ist für den Königshof nicht fein genug, ein ehemaliger Söldner, was willst du, und Dāorèn", sie lächelte wieder „ein ehemaliger Dieb. Das ist keine würdige Truppe für dich, das weißt du doch! Überhaupt dürftest du als Mitglied des höchsten Adels keinen Kampfsport mehr betreiben, und mit Míithaa hast du doch auch die ganze Zeit nur gestritten. Oder?"

„Ja, aber trotzdem – " schmollte Hǎi noch ein wenig, meinte es aber nicht mehr ernst. „War nur eine blöde Idee, ich weiß. Aber ich kann es nun mal nicht leiden, wenn meine Männer verletzt herumliegen, und ich mir Sorgen machen muss, dass sie Arme und Beine verlieren – du kennst das doch."

„Ach, du bist manchmal wie ein kleines Kind", seufzte Ráiu gespielt verzweifelt und zog sie am Ohrläppchen. „Ich weiß gar nicht, was diese beiden überhaupt an dir finden."

Hǎi schüttelte ihr schönes Haar zurück und schnitt ihr eine kecke Grimasse.    

„Los, beeilt euch! Oder soll ich euch Beine machen?" gellte es an diesem Abend nicht zum ersten Mal durch die Gänge des „Shuǐhú". Der dicke Gastwirt eilte händeringend und schwitzend von Raum zu Raum, um für seinen hohen Gast alles perfekt vorzubereiten – der gefürchtete General Mosar hatte sich angesagt.

Während die „Línghún" bereits in Uerū angelegt hatte, hatte es der General gerade einmal bis zum Zwischenstopp geschafft. Die Stürme würden in Kürze einsetzten, und es hatte sich kein Seemann gefunden, der die Reise gewagt hätte. Ärgerlich saß er nun auf Hínan fest.

Während er sich im besten Zimmer des Gasthofes einrichtete, kullerte ihm ein kleines, verschmutztes Leinenpäckchen vor die Füße. Das Geschenk des Hohenpriesters, der kleine grüne Stein, mit dem er angeblich den entflohenen Shēngyīn gefügig machen konnte.

Stirnrunzelnd drehte er den Gegenstand in alle Richtungen, wurde dadurch aber auch nicht schlauer. Was war nur das Geheimnis dieses Steins? Und, wenn er schon einmal dabei war, das des Hohenpriesters? Wie schaffte es dieser Mann nur, die uneingeschränkte Zustimmung des Königs zu erlangen, egal, was auch immer er tat oder plante? Er selbst wurde ständig zurechtgewiesen, herumkommandiert oder beschimpft, während Hohenpriester Chié in allen Belangen freie Hand hatte.

„Natürlich", dachte Mosar weiter, als er sich mit einem Seufzen in das angenehm heiße Wasser des Bades, das Shuǐhú katzbuckelnd vorbereitet hatte, gleiten ließ, „gehört der Hohenpriester einer völlig anderen Liga an als ich. Ich bin nur ein einfacher Soldat, der zufällig General geworden ist, aber Chié – er repräsentiert einen Teil unseres Glaubens."

„Ist denn auch alles zu Eurer Zufriedenheit, edler Herr?" säuselte der nervöse Gastwirt, der ihm Saké und einen kleinen Imbiss gebracht hatte und ordnete mit fahriger Hand einige Tücher, die neben dem Becken lagen. Mosar neigte hoheitsvoll den Kopf und schnippte mit den Fingern. „Sag' mal, Shuǐhú", lächelte er mit blitzenden Zähnen und schob sich einen Happen Sashimí in den Mund. „Die gute Lady Hǎi war doch sicher auch vor einiger Zeit hier, nicht wahr? Wohin wollte sie, hat sie das zufällig erwähnt?"

Shuǐhú schüttelte den Kopf; Schweißperlen sickerten in seinen Kragen. Mosar sah ihm angeekelt zu und trank inzwischen einen winzigen Schluck Saké. „Also, weißt du es nun?"

„Mmmmhh", stöhnte der dicke Gastwirt und lockerte mit einem Finger seinen engen Kragen, als wäre sein Hals in den paar Sekunden um das Doppelte angeschwollen, „Also, sie war ja nur – Hǎi war doch nur ganz kurz hier, um Wasser zu tanken und etwas Proviant zu holen..." „Und wohin ist sie weitergereist? Na los, rede!" zischte der hübsche General gereizt und griff wieder nach einem besonders großen Stück Sashimí. Doch Shuǐhú zitterte bereits so heftig, dass er ihm das Tablett aus der Hand nehmen und neben den Beckenrand stellen musste. Dann riss sich der Gastwirt zusammen und schluckte heftig. „A – Also, direkt gesagt hat sie ja eigentlich nichts, die Lady. Aber ich hab' so was läuten hören, dass sie nach Uerū möchte, da dort der beste Hafen ist, um die Stürme zu überstehen. Allerdings – " er stöhnte wieder, „hat sie mir mit dem Tod gedroht, sollte ich reden. Und deshalb – " Beredend drehte er seine Augen nach oben, dass man nur noch das Weiße sah. Wider Willen musste Mosar lachen.

„Schon gut!" meinte er und schüttelte leicht mahnend den Kopf. „Du hast von mir mehr zu befürchten als von ihr!" „Da wär' ich mir aber nicht so sicher, edler Herr", murmelte Shuǐhú beschämt vor sich hin, während er sich rasch verneigte und sicherheitshalber verschwand.

Kopfschüttelnd lehnte sich Mosar zurück und entspannte seine Muskeln wieder im warmen Wasser.

Plötzlich öffnete sich die Tür wieder, doch es war nicht Shuǐhú. Mit trauriger Miene drückte sich zuerst Matandua durch den engen Spalt und verneigte sich rasch, dicht gefolgt von einem boshaft grinsenden Major. Offensichtlich hatten nun alle beide den Weg nach Ròushíyú  gefunden.

„Auch schon da? Was tut ihr hier auf Hínan?" fragte der General erstaunt und legte den Kopf zurück, um sich noch einen Streifen Fisch genießerisch in den Mund gleiten zu lassen. Matandua räusperte sich verlegen und senkte den Blick. „Nun, es – ich versuchte es zwar – "

Noch während er stammelnd versuchte, seine Beweggründe verständlich zu machen, begann Sākuru höhnisch zu lachen. „Oho, der gute Hauptmann will wohl sein Versagen rechtfertigen. Ihm sind nämlich diese Ahimsa- Rebellen wieder zwischen den Fingern durchgeschlüpft. Das hat mir der Hafenwächter von Casava erzählt."

„Was?" fuhr Matandua entsetzt auf und suchte mit aufgerissenen Augen den Blick des Generals. „Ich hätte sie doch beinahe gehabt! Aber leider – " Er stöhnte wieder und verbarg sein Gesicht in den Händen. „Bei den Göttern! Ich war doch nicht hinter ihnen her! Wie kann ich denn diese Lady verfolgen, und gleichzeitig auf diese Ahimsa- Gruppe achten, die jeden Schlupfwinkel der Stadt kennt?"

„Hahaha!" kicherte Sākuru boshaft, begegnete dann Mosar's ärgerlichen Augen und klappte sofort seinen Mund wieder zu. „Tut mir leid."

„Ihr solltet euch alle beide etwas schämen! Wie könnt ihr es wagen, einfach so vor mir zu streiten? Was denkt ihr euch eigentlich dabei?" zischte der General wütend und knallte mit seiner Faust auf den Rand der Wanne. „Vor eurem Vorgesetzten wird nicht gebrüllt, klar? Schämt euch! Alle beide!"

„Tut uns leid", murmelten die zwei, nun in ihrer Schuld vereint und senkten beschämt ihre Köpfe. „Es liegt an diesen ständigen Schiffs – und Flugreisen. Entsetzlich! So oft wie in letzter Zeit mussten wir noch nie reisen..." 

Mosar schüttelte den Kopf, schien aber bei weitem nicht mehr so wütend zu sein wie früher. „Ihr seid Idioten. Was soll ich bloß mit einem Heer tun, bei dem solche Dummköpfe mitarbeiten wie ihr?" Langsam erhob er sich und wand ein Handtuch um seine Hüften. „Ihr könnt euch jetzt hier breit machen. Wenn ihr streitet, dann schmeißt euch Shuǐhú raus. In Ordnung?"

Ohne seine beiden Untergebenen noch eines Blickes zu würdigen warf er seine Kleider über und verließ den Raum.

„Morgen!" drang es wie von fern an Dāorèn's Ohr. Blinzelnd öffnete er seine Augen und staunte. Vor ihm hockten Hǎi und Inázuma, grinsten von einem Ohr zum anderen und stießen sich gegenseitig wie kleine Kinder kichernd an.

„Was – " begann er erstaunt, wurde aber von Hǎi unterbrochen, die mit einem „Psst!" ihren Finger an die Lippen legte und ihn so wieder zum Schweigen brachte. Statt dessen beugte sich Inázuma langsam nach vorne, lächelte sinnlich und nahm den Kopf seines Gegenüber sanft in beide Hände. Dāorèn wollte etwas sagen, fühlte aber mit großem Erstaunen Inázuma's Lippen an den seinen. Dann verschmolzen die beiden vor Hǎi's erwartungsvollen Augen zu einem leidenschaftlichen Kuß.

„Oh!" Überwältigt legte sie ihren Kopf auf ihre seitlich gefalteten Hände und lächelte wie ein unschuldiger Engel. „Ich wusste ja, dass ihr euch versteht! Hach, ich bin ja so glücklich, dass ich euch habe!"

Dāorèn löste sich langsam von seinem ehemaligen Rivalen und streckte ihr die Zunge heraus. „Pfui, schämst du dich nicht? Mich in die Arme eines Mannes zu treiben! Okay," er stockte kurz, dachte nach und zuckte dann mit den Achseln „früher haben wir das zwar auch schon gemacht, aber dieses Mal – was ist denn los?"

„Nichts, rein gar nichts! Reg' dich nur nicht auf, Dāo- chan!" schmeichelte Hǎi und begann so lange zärtlich zu schnurren, bis sie Inázuma plötzlich um die Hüften packte und heftig auf den Futón zog. „Warum sollten wir alleine bleiben, wenn du doch auch noch da bist?"

„Also ehrlich! Schämt ihr euch denn nicht? Sonst sprecht ihr mich doch auch ehrerbietiger an, was? Wo ist denn das „jawohl, schöne Lady" geblieben?" lächelte sie scherzhaft tadelnd und drohte schalkhaft mit dem Finger. „Aber gut, dieses Mal will ich es tolerieren..."

Während Inázuma den Einwurf relativ ungerührt ignorierte (sie sprachen sich gegenseitig immer anders an, wenn sie allein waren, als in der Öffentlichkeit), zuckte Dāorèn erschrocken zusammen und setzte bereits zu einer Entschuldigung an, als er ihr amüsiertes Grinsen sah.

„Ach, du!" stöhnte er leicht verzweifelt auf und runzelte verstört die Stirn. „Einmal wirst du mich noch in den Wahnsinn treiben, und dann – " Inázuma grinste beredend zu Hǎi, die allerdings bereits mit völlig anderen Dingen beschäftigt war. Anscheinend völlig konzentriert spielte sie leise singend mit ihren Fingern auf dem Futón; offensichtlich erzählte sie sich gerade selber eine Geschichte.

„Also ehrlich, hör' mal, Inázuma – " murmelte Dāorèn leise und besorgt seinem Nachbarn ins Ohr. „Was sollen wir denn bloß mit ihr machen? Sie ist doch so seltsam in letzter Zeit." „Seltsam ist sie doch immer.", erwiderte Inázuma schulterzuckend, äußerlich völlig ungerührt, obwohl auch ihm diese Szene sehr verdächtig, wenn nicht besorgniserregend, vorkam. Er konnte sich nicht erinnern, Hǎi in den letzten Jahren so rätselhaft gesehen zu haben – als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte die Sache zwar anders ausgesehen, aber jetzt...

„Juhu. Und ich bin eine böse, bööse, aber wunder- wunderschöne Kriegerin – nein, eine Prinzessin. Aber Prinzessinnen sind ganz, ganz dumm und traurig – weil sie eingesperrt werden jeden Tag. Und weil der König ganz furchtbar hässlich ist, und dort böse, widerliche Monster hausen, die mir ganz, ganz furchtbar weh- weh tun..." flüsterte Hǎi unterdessen ununterbrochen in einem monotonen Singsang vor sich hin, während sich ihre schlanken Finger unablässig bewegten. Beide Männer musterten die Szene schweigend, doch nach einer kurzen Weile konnte es Inázuma schließlich nicht mehr ertragen. Mit einem heftigen Ruck hob er seine Faust und ließ sie knapp neben ihren Fingern auf das Bett krachen. „Hör doch auf! Hör endlich auf!" zischte er, mit mehr Besorgnis als Wut in der Stimme, in ihr Ohr. Hǎi erstarrte und riss die Augen weit auf. „Warum schreist du denn so laut? Ich kann dich gut hören. Wenn du mich noch einmal so erschreckst, dann kannst du heute nacht bei der Ware schlafen. So ein Geschrei halte ich einfach nicht aus.", brummte sie ärgerlich vor sich hin und zog, trotzig wie ein kleines Kind, einfach die Decke über ihren Kopf.

Die beiden blickten sich wieder ratlos an, Dāorèn mit offensichtlichem Schreck in den Augen. „Sie war wieder so wütend", flüsterte er leise, „wie damals, als sie noch kleiner war – weißt du noch?"

Statt einer Antwort packte ihn Inázuma am Ellenbogen und bedeutete absolutes Stillschweigen. „Lass' uns rausgehen, dort können wir reden! Hier belauscht sie uns doch hundertprozentig!" Noch bevor Dāorèn einwerfen konnte, dass er Ehrlichkeit hoch schätzte und nicht gerne lügen würde, befanden sie sich schon auf dem Deck, das um diese frühe Morgenstunde glücklicherweise leer war. Inázuma atmete als erstes tief durch und streckte sich heftig. „Tut der Arm noch sehr weh?" „Mmh, nein, geht schon.", antwortete Dāorèn nicht ganz wahrheitsgemäß, denn die Wunde riss und brannte noch immer heftig. Dennoch waren die Schmerzen über Nacht auf ein erträgliches Maß abgeklungen.

„Also, du weißt, dass ich Hǎi liebe, verehre und bewundere, und dass ich nie ungerechtfertigt ein böses Wort über sie fallen lassen würde – aber wie sie sich in letzter Zeit benimmt – " der rothaarige Mann holte wieder tief Atem und strich sich fahrig über die Stirn. „Sie erzählt uns ja eigentlich immer alles, nicht wahr, Dāorèn?" Als der Angesprochene zustimmend nickte, fuhr er langsam fort. „Allerdings hat sie uns schon zu Beginn etwas verschwiegen, das wusste ich von Anfang an. Danach fragen wollte ich sie aber trotzdem nicht, weil sie – mir ja immerhin so viel geholfen hat – " Hilflos brach er ab und gestikulierte heftig mit den Armen. „Verstehst du, was ich sagen will?"

Dāorèn ließ sich Zeit mit der Antwort, lieber ließ er sich erst mal langsam auf eine Kiste sinken, die gerade praktisch in der Nähe stand. Dann betastete er vorsichtig seinen bandagierten Arm und schüttelte leicht unwillig den Kopf. „Also, mir macht das nicht so viele Sorgen. Wenn wir ehrlich sind, so sehr hat sie sich ja doch nicht verändert – ich meine, sie hat nun einmal ihre Mucken und Schrullen. Genauso wie wir." Leise stöhnend veränderte er die Position des Arms. „Genauso wie jeder andere. Und nur, weil sie wieder mit ihren Selbstgesprächen anfängt, muss das doch nichts zu bedeuten haben – abgesehen davon,"

Wieder rutschte er unruhig auf der Kiste hin und her, „diese Fremdlinge haben sie doch auch aufgeregt, genauso wie uns. Ich meine, was wissen wir schon von denen? Diese Samadhi hat sie angeschleppt, von irgendwem hab' ich's läuten hören, dass die gar nicht aus Asante sein sollen –" „Na und?" unterbrach ihn Inázuma stürmisch und schüttelte ungeduldig seine feuerroten Haare. „Warum sollten diese Fremden allein sie so aufgeregt haben, da ist doch noch was im Busch, ich sag es dir – "

„Und was, wenn ich fragen darf, mein Liebster?" erscholl plötzlich hinter ihnen eine leise, beinahe amüsierte Stimme. Wie elektrisiert fuhren die Männer herum; in der Hitze des Wortgefechtes hatten sie auf nichts anderes mehr geachtet. Hinter ihnen stand Hǎi.

„Ach, du liebe Güte! L – Lady..." stammelte Dāorèn entsetzt und verschluckte sich vor Schreck. Hǎi grinste boshaft.

„Na, meinem Geheimnis schon auf die Spur gekommen? Wenn nicht, ist das auch kein Wunder. Manchmal seid ihr ja so trottelig, ihr alle beide – "

Als sie die verstörten Gesichter ihrer beiden Liebhaber sah, flaute der Ärger in ihrem Magen langsam wieder ab und sie schüttelte beinahe nachsichtig den Kopf.

„Meine Geheimnisse bleiben meine Geheimnisse. Da gibt es nichts zu tuscheln oder zu fragen, ich erzähle es euch schon, wenn es an der Zeit ist. Aber momentan ist es eben noch nicht so weit. Wartet es ab! Das wird garantiert ein Knaller, kann ich euch sagen!" lächelte sie, plötzlich erheitert, und strich beiden zärtlich über den Kopf. „Wisst ihr noch, als ihr in der Klemme stecktet, und nur das kleine, dumme Mädchen euch zu Hilfe kam?"

Dāorèn senkte ergeben den Kopf und schwieg, während Inázuma, errötend zwar, aber dennoch aufrecht, ihren Blicken standhielt.

„Ich halte es euch nicht vor, ihr seid frei, das wisst ihr ja. Obwohl ich euch damals freigekauft- und gekämpft habe, seid ihr mir nichts schuldig – wenn ihr hättet gehen wollen, wer hätte euch zurückgehalten? Ich habe euch beide so gern, dass ich nichts von euch verlangen will – nur Ehrlichkeit."

Inázuma schien etwas sagen zu wollen, doch sie brachte ihn mit einer sanften Geste zum Schweigen. „Jetzt rede ich. Wie gesagt, wenn euch mein Schiff zu eng wird, dann könnt ihr gehen – wo immer ihr hinwollt. Vermissen würde ich euch natürlich," ihr schönes Gesicht wurde sorgenvoller, wirkte aber trotzdem noch gleichmütig, „aber ich würde euch nicht hindern."

Plötzlich sprang Dāorèn auf und ergriff ihre schmale Hand. Sein ganzer Körper zitterte.

„Sagt so etwas nicht. Wir lieben Euch doch beide! Schon seit wir Euch zum ersten Mal gesehen haben. Und als ich – " „Als du den Soldaten beklaut hast, der dich danach abschlachten wollte? Ach, du warst ja so niedlich. Ich muss ehrlich sagen, jedem hätte ich in der Situation nicht geholfen. Aber dir konnte ich nicht widerstehen..." lächelte Hǎi zärtlich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „So, und dir auch, Inázuma. Weil du mich die Hälfte meiner damaligen Ersparnisse gekostet hast. Meine zwei Dummerchen."

Errötet senkte nun auch Inázuma den Kopf und ließ sich mit dem Gefühl der Erleichterung küssen. Wenn sie ihm nur nichts nachtrug!

„Es tut mir ja so leid. Ich wollte deine Geheimnisse nicht ausspionieren, ich mache mir doch bloß Sorgen", murmelte er leise und drückte sich vorsichtig gegen ihre Taille. Dāorèn tat es ihm gleich.

Hǎi betrachtete ihre beiden Männer lächelnd und kraulte sanft ihre Köpfe. Man musste sie einfach gern haben, egal was für Dummheiten sie wieder getan hatten. Ihre Schiffscrew war schließlich mit Bedacht ausgewählt worden, selbst Ráiu hatte kaum Einfluss auf ihre Entscheidungen gehabt.

Unerwartet klappte die Luke auf; Tsumé erschien, wie üblich mit einem knurrigen Ausdruck auf dem Gesicht. Als er Hǎi erblickte, begann er ganz kurz zu lächeln und zwinkerte ihr zu, bevor er schallend zu lachen begann. Dāorèn und Inázuma verbargen verschämt ihre Köpfe in den Falten ihres Gewandes, als Tsumé loslegte.

„Pass bloß auf, dass der kleine Lóng da nicht eifersüchtig wird! Die zwei da würden doch am liebsten auf deiner Schulter sitzen, was?" kicherte er vergnügt und deutete mit dem Finger auf sie. „Oder wollen sie zu ihrer Mama zurück?"

„Ach, die armen Kleinen", grinste Hǎi neckisch und tätschelte zwei Paar Schultern. „Du weißt ja, wie das so ist – da ist übrigens Lóng." Der kleine Saurier kam gerade eilig aus irgendeinem Winkel des Schiffes angerast und sprang mit einem leichten Satz auf Inázumas Kopf und weiter zur Schulter seiner Herrin, die ihn mit einem freudigen Ausruf begrüßte. „Na, du Faulpelz? Hast du angenehm geruht? Ich werde darüber wohl ganz vergessen, was?"

Tsumé lachte, als er diese Szene sah. „Bist ja ganz verrückt nach dem Vieh. Ehrlich, als du damals dieses Ei angeschleppt hast – ich dachte, ich traue meinen Augen nicht. Und Ráiu musste das natürlich auch noch erlauben."

„Pah!" entgegnete Hǎi mit hochmütigem Schulterzucken und grinste. „Obá- san erlaubt mir vieles. Und sie sagte, dass so ein kleines Tier für mich nur gut sein könnte."

„Ja, aber der Kleine ist leider genauso schlimm wie du. Oder Ihr, pardon, meine schöne Dame.", grinste Tsumé wieder. Hǎi versetzte ihm eine Kopfnuss. „Jawohl, Ihr und Dame, das wäre allerdings die richtige Art, mich anzusprechen. Ich lasse das ganze bloß viel zu viel schleifen!" Drohend hob sie ihren Finger. „Schließlich befehlige ich dieses Schiff! Von mir, mir ganz allein hängt es ab, ob ihr diese Reise lebend übersteht oder nicht!"

Mit einem heftigen Schwung stieß sie ihre verdutzten Liebhaber von sich auf den Boden. Dann breitete sie die Arme in einer temperamentvollen Bewegung aus, um noch weiter zu deklamieren, wurde dabei aber von einem leisen Donnergrollen gestört. Urplötzlich sackte sie zusammen und hielt sich wimmernd den Kopf.

„Verdammt! Über eure Dummheiten habe ich das Wetter ganz vergessen! Los, schnell, wir müssen gleich in den Hafen. Und keine Dämlichkeiten, wenn ich bitten darf!" zischte sie ärgerlich in die Runde und knallte Dāorèn die Faust in den Rücken. „Steh auf, los, steh auf!"

Murrend machten sich die Männer an die Arbeit, auch Tsumé wurde eingespannt, und Hǎi begab sich eilends unter Deck, um alles aufzuwecken. Sie konnten nicht auf diesem Schiff bleiben, wenn die Unwetter erst mal angefangen hatten.

Dieses Jahr schien sie ihr sonst so untrüglicher Spürsinn im Stich gelassen zu haben; eigentlich hätte sie die Stürme weitaus früher erwartet. Doch die Spannungen in der Luft hatten sich als zu trügerisch erwiesen – die Vorboten der Unwetter hatten sie schon seit Wochen verfolgt.

Schlaftrunken wankten die Kinder in ihren Kajüten hin und her, um all ihre Habseligkeiten so rasch wie möglich zusammenzupacken. Laut Ráiu, die das Geschehen mit ungeduldigen Argusaugen überwachte, würden sie einige Zeit in Shokumínchi, der größten Stadt auf dieser Insel, verbringen.

„Hier können wir dann in aller Ruhe nach diesem Verbannten suchen. Wisst ihr überhaupt, wie der heißt?" erkundigte sie sich energisch und fuhr sich erschöpft mit dem Handrücken über die Stirn. „Aber wenn ihr ihn nicht wisst, ist das auch nicht schlimm. Im Kloster bei den Priesterinnen wird uns sicher weitergeholfen werden, die sind dort sehr freundlich."

„Toll, wundervoll! Der Verbannte wurde doch wirklich wegen Technik verbannt, oder?" plapperte Aói sofort mit größter Begeisterung. „Toll, einfach super! Vielleicht darf ich sogar etwas von ihm lernen!"

Die Kinder waren da nicht so großer Hoffnung, obwohl Manua sich sicher gewesen war – aber wenn das alles nur wieder eine weitere Enttäuschung wäre? Den ersten Schrein hatten sie nicht vergessen; zwar hatte es einiges an Informationen gebracht, aber trotzdem –

Konnten sie denn überhaupt jemals auf die Erde zurückkehren? Die Aufregung über den fremden Planeten hatte ihr Heimweh bis jetzt mehr oder weniger verdrängt; trotzdem schwelte in jedem die Angst. Trotzdem klammerten sie sich an einen Gedanken: wo auch immer man hinkommt, von dort gibt es in jedem Fall einen Weg zurück.

Schließlich ging ein Ruck durch das ganze Schiff; sie legten nun im sicheren Hafen an...