38. Kapitel
Stürme über UerūShokumínchi erwies sich als äußerst lebhafte Stadt; im Gegensatz zu Sankhya oder der Hauptstadt orientierte sie sich allerdings an einer streng altjapanischen Linie.
Den Kindern war der seltsame Name natürlich sofort aufgefallen, und als sie das Schiff verließen, sprach Sachou aus, was alle dachten.
„Shokumínchi – Kolonie, was für ein seltsamer Name! Warum heißt diese Stadt so?"
Hǎi zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Ach, weißt du – keine Ahnung. Aber ich glaube, Ráiu hat mir mal was davon erzählt, dass die Götter hier auf Noa landeten und von hier aus ihren Siegeszug über den ganzen Planeten begannen." „Ganz recht, gut erinnert, Hǎi", mischte sich die alte Frau dozierend ein und hob den rechten Zeigefinger, „Aber es war kein richtiger Siegeszug, wisst ihr? Dank der Götter konnte Noa überhaupt erst bewohnbar werden. Durch ihre schaffenden und magischen Hände wurde diese ganze Welt zu einem Paradies, in dem die von den Göttern geschaffenen Menschen leben konnten und können." Sie lächelte mit einem Hauch von Stolz. „In den Adern vieler von uns fließt immer noch eine Spur Götterblut, als sich einige von ihnen großmütig entschieden, auf den Erdboden herabzusteigen und sterblich zu werden."
Die Kinder schwiegen beeindruckt, selbst Kamomé wollte die zauberhafte Stimmung, die durch diese Erzählung plötzlich im Raum schwebte, nicht durch einen Einspruch zerstören. An Götter glaubte sie nicht; dennoch wollte sie Ráiu und wohl auch Hǎi ihre Träume und Legenden nicht rauben.
Hōtáru, für den das Leben schon seit einigen Wochen wie ein Traum schien, fühlte sich auf einmal wieder lebendig. Die Wunde war so gut wie verheilt; wie Talingo dieses Meisterstück zustandegebracht hatte, konnte er sich zwar nicht erklären, aber das war momentan nicht so wichtig. Auch seine Affäre mit einem Mann bereitete ihm kein Kopfzerbrechen mehr. So dumm es klang, aber Kiíchigo hatte durch ihren Wutanfall irgendwie bewirkt, dass er sich akzeptierter fühlte – die Karten lagen offen auf dem Tisch, und keiner hatte etwas gesagt. Bloß Watarí, aber der muffelte sowieso schon die ganze Zeit wegen irgendwas herum. Dass Hǎi seine Beziehung nicht nur akzeptierte, sondern im Gegenteil eigentlich sogar zustandegebracht und listig eingefädelt hatte, stimmte ihn fröhlich. Obwohl sie ihn so gut wie gar nicht kannte, hatte sie auf einen Blick erkannt, was ihm fehlte – und dass sie aussah wie Yún, störte ihn kaum noch. Ihr Charakter war so völlig anders, dass zwischen den beiden ein Unterschied herrschte wie zwischen Tag und Nacht.
Er reckte sich und ließ die blonden Haare im Wind wehen; eine steife Brise war inzwischen aufgekommen. Dāorèn, Inázuma, Aañkh und Tsumé warteten noch auf dem Schiff auf Hǎi, die gerade Anweisungen bei einer vierschrötigen alten Frau, wohl der Hafenmeisterin, einholte. Schließlich musste die „Línghún" in einer der großen Höhlen neben dem eigentlichen Hafen untergebracht werden, damit sie den Sturm auch wirklich unbeschadet überstehen konnte. Diese Orkane tosten mehrmals im Jahr über die Inseln und brachten das Wasser zum kochen; mit unglaublichen Geschwindigkeiten rasten sie über das Land und stellten die Bewohner der Städte auf eine harte Zerreißprobe.
Hǎi hatte sich mit dem Wetter eigentlich noch nie geirrt; durch die Ankunft der Pfadfinder hatte sie sich aber ohnehin verspätet und war nun über ihren Irrtum sogar froh. Hätten die Stürme rechtzeitig begonnen, sähe es jetzt wohl schlecht für sie aus. Trotzdem machte sie sich langsam über ihren gesundheitlichen Zustand ernsthaftere Sorgen. Was war nur los mit ihr? Eigentlich war sie sich keiner Probleme bewusst, die sie sonst nicht auch gehabt hätte – Doch zum Grübeln blieb jetzt keine Zeit. Schon fühlte man die Luftmassenverschiebung und die Druckveränderung in der Luft.
„Hey Ho- chan – wie wäre es, wenn wir die Stürme im Bett überdauern? Hier – hier ist ja sonst nichts zu tun, oder?" schnurrte ihm Káshira sanft ins Ohr, während sie auf einem Karren Platz nahmen. Dank Ráiu, die mit der Wagenlenkerin offensichtlich dick befreundet war (sie schien auch jeden zu kennen), durften sie bis knapp vor Shokumínchi mitfahren. Dort sollten sie Quartier in einem Gasthof namens „Hikigaéru" beziehen.
Während Hōtáru lediglich einverstanden grinste und ihm zärtlich durch die Haare strich, starrten ihn sowohl Watarí als auch Kiíchigo wütend an. Diese bittere Niederlage hatte noch keiner von beiden verdaut, und sie waren auch noch weit davon entfernt, es zu akzeptieren.
„Ich würde ja soo gern wieder einmal bei C&B einkaufen!" ließ sich Hiyokó unerwartet vernehmen und seufzte tief. „Die neue Kollektion – die soll doch so richtig super werden! Schon seit Monaten freue ich mich da drauf! Und dann passiert so ein Mist." Betrübt ließ sie den Kopf hängen und seufzte wieder. Seltsamerweise ging ausgerechnet Kamomé darauf ein.
„Ja, das ärgert mich auch. Schon seit zwei Monaten wollte ich mir diese tollen Schuhe kaufen, die es nur bei ihnen gibt, und jetzt – sollten wir je nach Hause kommen, dann gibt's wahrscheinlich die Firma gar nicht mehr." Wider Willen beteiligte sich Kiíchigo an diesem Gespräch. „Ja, aber dieses Sommerkleid erst – wie heißt es noch mal, „wild orchid" – also, das ist erst recht der Hammer. Aber das es „C&B" einmal nicht mehr gibt – das kann ich mir nicht vorstellen." Vor lauter Eifer röteten sich sogar ihre Wangen leicht. „Vor einem Jahr hab' ich die beiden nämlich gesehen! Höchstpersönlich, bei einer Party, da kamen sie ganz kurz vorbei."
„Echt?" Moko hob kurz den Kopf und linste unter seinen Wimpern hervor. „Wisst ihr Mädels eigentlich, dass die zwei schon seit über zwanzig Jahren miteinander befreundet sind und seit ihrem gemeinsamen Schulabschluss zusammen arbeiten?" Als er die Blicke der anderen auf sich fühlte, räusperte er sich stolz und richtete sich etwas weiter auf. „Ich hab' sogar ein von Frau Cǎoméi handsigniertes Buch. Ihr Buch, besser gesagt. Ich fand die Idee von einer Doppelbiographie in einem gemeinsamen Schuber ganz lustig."
In dem Moment begann der Karren so heftig zu rütteln, dass eine weitere Unterhaltung bis zum Ende der Fahrt unmöglich wurde. Erst als sie Shokumínchi erreicht und im Speisesaal des Gasthofs saßen, dessen sämtliche Türen und Fenster fest verrammelt und zugenagelt waren, nahmen die Kinder das Thema wieder auf. Seltsamerweise konnte diesmal sogar der sonst so modeuninteressierte Sachou etwas zu ihrer Diskussion beitragen. „Also, ich kaufe schon seit Jahren immer die „Straw:berry No.9". Die ist die einzige mit wirklich langen Beinen, findet ihr nicht auch? Das war unter anderem ihr erster Erfolg!"
„Aber die „Kirie"- Linie ist besser. Nicht so lahme Klamotten, sondern richtig fetziges Zeug! So wie „BlueMoon.", warf Tókui seelenruhig ein und kaute an einem Stück Brot, dass sie Haná geschickt vor der Nase weggeschnappt hatte. Die setzte auch gleich ein schmollendes Gesicht auf und wollte wütend zu heulen beginnen, als glücklicherweise auch schon das Essen aufgetragen wurde.
Kiíchigo zeigte ihr seit langem vermisstes zuckersüßes Lächeln, als sie die Mahlzeit erkannte. Mit Nigiri – Zushi war sie zufrieden. Schon seit Wochen – wie lange befanden sie sich denn jetzt schon eigentlich auf Noa?- hatte sie auf die ganzen Köstlichkeiten, die sie von zuhause her gewohnt war, verzichten müssen. Zuhause gab es jede Woche mindestens dreimal eins ihrer Lieblingsgerichte, und wenn sie mit etwas nicht einverstanden war, dann wurde binnen zehn Minuten etwas anderes aufgetischt. Aber hier ging das natürlich nicht, es war so nervig, sich ständig anderen beugen zu müssen.
Nach einiger Zeit trafen schlussendlich auch die Seefahrer ein. Etwas müde und genervt wirkend knallte sich Hǎi auf einen freien Stuhl, riss ohne Umschweife eine Platte mit Sushi an sich und bediente sich ungeniert. Haná warf ihr einen bösen Blick zu, verbiss sich aber gerade noch ihre Kritik und kaute grimmig an ihrem eigenen Essen. Zuhause käme so was nie vor. Ihre Mama, und vor allem ihr geliebter Papa achteten streng darauf, dass man sich bei Tisch auch ordentlich benahm.
Plötzlich füllten sich ihre Augen mit dicken Tränen, und sie begann herzzerreißend zu schluchzen.
Die anderen hoben erstaunt ihre Köpfe, als ihre laute Stimme erscholl.
„Uhuh, ich will wieder nach Hause! Hier gefällt es mir nicht mehr! Und ich hasse diese Leute!"
Hastig versuchten sowohl Hiyokó als auch Kiíchigo, die Kleine zu beruhigen, um Hǎi und die Schiffscrew nicht zu reizen, doch plötzlich erschütterte ein heftiges Beben die ganze Insel, und ein furchteinflößender Donnerschlag grollte.
Alle Menschen im Saal, die gerade noch relativ friedlich gespeist hatten, waren mit einem Ruck auf die Beine gesprungen. Von Ruhe konnte keine Rede mehr sein; nicht einmal mehr Hanás Geheule war in dem lauten Stimmengewirr auszumachen. Der Saal schien vor Aufregung und Furcht zu vibrieren.
„Oh nein! Die Stürme fangen an! Das Beben war der Vorbote!" schrie ein fetter Mann hektisch auf und fegte nach draußen. Die meisten folgten seinem Beispiel.
„Keine Panik, wir sind hier alle in Sicherheit! Der Gastwirt hat seine Bude gut verrammelt, wir brauchen uns also keine Sorgen zu machen. Am besten verziehen wir uns erst mal alle in den Keller, da kann uns wenigstens nicht so viel um die Ohren fliegen. In Ordnung?" brüllte Hǎi mit kräftiger Stimme und packte Kagamí, der orientierungslos durch den Raum irrte, kräftig am Arm. „Alle hinter Ráiu und mir her, bewegt euch! Na los!" brüllte sie noch einmal und zog eilig ab, den wimmernden Kagamí immer noch im Schlepptau. Die Pfadfinder folgten lieber ihrem Beispiel und gelangten so in einen erstaunlich großen Keller, der sich vom Rest des Gasthofes eigentlich nur dadurch unterschied, dass er statt Fenstern kleine Luftschächte hatte. Es gab sogar voneinander abgetrennte Zimmer, nicht so wie bei Manua. Sachou seufzte leise auf und setzte sich still auf ein ordentlich gemachtes Bett, als seine Gedanken wieder einmal zu ihr schweiften. So eine schöne Frau – und geschickt im Umgang mit Waffen und Sauriern. Einfach zauberhaft – aber wo sollte er sie nur suchen? Während über ihm der heftige Sturm heulte, träumte er sich in die Rolle des tapferen Helden hinein, der sie suchen und aus allen Gefahren erretten würde. In seinem abwesenden Zustand bemerkte er nicht einmal, wie sich seine Kameraden in den Räumlichkeiten verteilten und schließlich Moko knurrend zu ihm kroch. Sachou saß auf einem Doppelbett, und sonst war kein Platz mehr frei. Misstrauisch beäugte der dicke Junge seinen verträumten Kameraden und schob ihn schlussendlich einfach mit sanfter Gewalt auf die andere Seite des Bettes, um sich schließlich murrend in die schweren Wolldecken wickeln zu können.
Es war ziemlich kühl geworden, nicht allein durch den Sturm, sondern auch durch die durchdringende Feuchtigkeit des Kellers. Ráiu klagte noch eine Weile lautstark über ihr Rheuma und das lästige Alter, bis zu guter Letzt auch sie entnervt die Augen schloss und leise zu schnarchen begann.
Auch auf Hínan tobte ein heftiger Taifun, riss mächtige Koniferen um, als wären es dünne Äste und wühlte das Wasser so stürmisch auf, als würde es kochen.
Mosar wollte nicht zugeben, dass ihn dieses Schauspiel leicht verängstigte und er sich darüber hinaus noch Sorgen um Yamanéko machte. Allein der Gedanke daran, auch in der Hauptstadt könnte ein Sturm toben, ließ ihn vor Sorge nicht mehr schlafen und jagte ihn nachts öfter aus dem Bett. Dann stellte er sich schweigend ans Fenster und wünschte sich, wenigstens einen Flugsaurier nach Shǒushìhé schicken zu können, um zu wissen, wie es ihr ging.
Schließlich gab er es auf, sich ständig wieder ins Bett zu legen, nur um Minuten später wieder aufzustehen, warf sich einen Yūkata um die Schultern und begab sich leise in einen der großen Aufenthaltsräume des Gasthofes. Niemanden außer ihn schien es in dieser unruhigen Nacht hierher gezogen zu haben, daher konnte er die angenehme Stille, die nur durch das ständige, erschreckend laute Pfeifen des Sturmes draußen gestört wurde, genießen.
Der Wirt hatte vorsorglich das Feuer im Kamin brennen lassen; Mosar war dankbar dafür.
Tief in Gedanken versunken starrte er in die prasselnden Flammen und kaute an seiner Unterlippe. Seine kleine Yamá- chan fehlte ihm schon sehr; mehr als einmal wünschte er sich, ständig auf dem Königshof bleiben zu können und jeden Tag bei ihr zu sein. Obwohl sie sich dann sicherlich viel zu oft streiten würden. Aber trotzdem vermisste er sie schrecklich, manchmal konnte ihn nichts außer ihren boshaften Kommentaren zum Lachen bringen, und das Leben beim Militär war bei Gott nicht das beste. Schon gar nicht, seit der König so eigenartig geworden war – ob daran wirklich der Hohenpriester Schuld trug? Mosar rätselte und rätselte, doch er kam auf keinen grünen Zweig.
Plötzlich öffnete sich leise die Tür, und er zuckte heftig zusammen. Als hätte man ihn bei etwas Verbotenem ertappt, blickte er ängstlich über die Schulter und errötete leicht.
Major Sākuru trat ein, blaß wie ein Gespenst und mit einer aufrichtig leidenden Miene. Mit einer Hand presste er ein Leinensäckchen, vermutlich gefüllt mit heilenden Kräutern und ähnlichem, gegen sein Gesicht.
Als er Mosar entdeckte, verbeugte er sich pflichtbewusst und verzog dabei das Gesicht noch ärger. Offensichtlich schmerzte seine Narbe ziemlich stark, oder er litt unter Zahnschmerzen.
Mosar wartete ab, bis er sich neben ihn gesetzt hatte, und deutete dann leicht auf das Säckchen. „Wo tut's denn weh?"
Sākuru zuckte die Achseln und stöhnte zur Antwort leise auf. Dann nahm er die Hand aus dem Gesicht und deutete auf die lange Narbe auf seiner Wange. „Na, hier eben. Kommt von diesem Wetter, ich hasse das. Genauso wie bei Regen. Sobald die Witterung umschlägt, pocht es hier drin, dass ich manchmal schon glaube, ich werde verrückt."
Jeglicher spitze Hohn schien ihm für diese Nacht vergangen zu sein. Der sonst so bissige Major seufzte wieder, dass Mosar richtig Mitleid mit ihm bekam, und massierte langsam seine Schläfen. „Und der Kopf tut auch noch weh. Ach, verfluchtes Pech."
Mosar nickte bedächtig und wusste nicht mehr, was er darauf antworten sollte. Schweigend starrte er eine Zeitlang in die Flammen, bis Sākuru plötzlich wieder den Mund aufmachte. „Ich glaube, eine von den Flüchtigen, die mit Hǎi ausgerissen sind, hat's mir angetan." Leicht verlegen aufgrund dieses Geständnisses senkte er ein wenig den Kopf und wagte nicht, Mosar direkt anzusehen. Der allerdings begann wissend zu grinsen. „Als ob das nicht schon die halbe Kompanie wüsste. Oberleutnant Pul hat die Umarmungsszene live durch das Fenster beobachtet und wie der Wirbelwind verbreitet. Obwohl – " seine Augen blitzten ein wenig strenger – „die Kleine ist ja noch ein halbes Kind. Und wenn ich ehrlich sein soll, der Armen würde ich keinen so alten Knacker wünschen, der um die zehn Jahre älter ist als sie..."
Sākuru wurde puterrot. „Na, wenn wir schon so anfangen, immerhin ist die gute Géisha Jiāngguǒ ja auch ziemlich jung, nicht wahr, und ihr – " seine Stimme wurde hämischer und lief beinahe zur alten Form auf – „Gönner war ja auch nicht gerade der Jüngste..."
Jetzt errötete auch Mosar leicht. „Na und? Immerhin bin ich nicht einer dieser notgeilen alten Säcke, die jedes junge Mädchen begrabschen müssen. Frau Jiāngguǒ gilt meine ganze Liebe und Aufmerksamkeit, für mich ist sie kein billiges Spielzeug, dass man austauschen kann, wie man gerade so Lust hat."
„Aber, aber, Herr General – " Sākurus Augen blitzten spöttisch – amüsiert auf. „Eine Géisha ist sowieso niemals billig, aber –" wieder machte er eine kurze Pause und grinste. „Entschuldigt bitte. Natürlich weiß das ganze Heer, wie sehr Ihr an der zweifellos ausgesprochen bewundernswerten Frau Jiāngguǒ hängt. Es ist nur immer amüsant, durch Oberleutnant Pul zu hören, wie sehr Ihr unter ihrem Pantoffel steht."
Beinahe wider Willen stimmte Mosar ein und kreuzte die Arme. „Ach, meine kleine Yamanéko. So schlimm ist sie ja gar nicht, aber für Außenstehende – sie hat eben einen sehr starken Willen, vielleicht hätte sie es im Heer gar nicht schlecht gemacht. Obwohl – " plötzlich verzog er das Gesicht, als hätte er etwas Bitteres auf der Zunge – „die gute Madame Orimé hätte ihre Sache gewiss besser gemacht. Ein jeder hätte Angst vor ihr, und etwaige Angreifer hätten wohl schon von ferne die Flucht ergriffen, ohne zu kämpfen."
Auch der Major schüttelte sich vor Widerwillen. „Da habt Ihr allerdings recht."
Noch bevor er mehr dazu sagen konnte, klappte wieder die Tür und die Quasselstrippe Pul trat mit ungewohnt ernstem Gesicht ein.
Die beiden Männer vor dem Kamin neigten aus Respekt vor dem Alter leicht die Köpfe und räumten dem Oberleutnant den Platz zwischen sich ein, da dort die Wärme am größten war. Pul nickte dankend und kauerte sich seufzend nieder. „Das Zipperlein quält mich.", warf er eröffnend in die Runde und rieb sich schmerzerfüllt stöhnend den Rücken. „Na los, Jīngtǐ, tu deinem alten Meister etwas Gutes und massiere ihm sein Kreuz."
Während Sākuru mit ernster Miene in die Flammen starrte und durch eine neuerliche Schmerzwelle nicht einmal zum Grinsen kam, machte sich Mosar mit vor Verlegenheit puterroten Ohren ans Massieren. So was war er ja schon von seinem alten Meister gewöhnt.
„Diese Nacht ist wie verhext", murmelte der Alte schaudernd und dankte Mosar durch ein kurzes Nicken. „Die Seegeister heulen, dass es einem nur so gruselt."
„Das sind die Götter, die uns klarmachen, dass wir Verfehlungen begangen haben.", antwortete Mosar leise und griff unbewusst nach einem der Amulette um seinen Hals. Sākuru schnaubte abfällig und wischte den Satz mit einer abfälligen Handbewegung beiseite. „Pah, Götter! Ich habe schon so genug von diesem Schwachsinn. Nicht genug, dass uns der Hohenpriester ständig damit auf die Nerven geht, nein, heult einmal der Sturm, reden die Götter gleich mit uns!" Er lachte kalt und drückte den Beutel wieder gegen die Wange.
Für eine kleine Weile lang sprach niemand. Mosar fühlte sich sehr unbehaglich und rutschte unruhig auf dem Kaminteppich hin und her. Es sprach zwar niemand offen aus, aber Gotteslästerungen wurden doch von den meisten für eine schlimme Sache gehalten. Dass Sākuru nicht gerade zu den Gläubigsten gehörte, war in der Kompanie wohl bekannt. Aber diese Worte...
Pul starrte aus halbgeschlossenen Augen in die Flammen und rührte sich nicht. Fast schien es, als wäre er eingeschlafen.
„Na gut," gab sich der Major plötzlich einen Ruck und erhob sich, „es ist schon spät. Am besten gehe ich wieder zu Bett. Ihnen beiden eine gute Nachtruhe!" Damit war er draußen. Mosar sah ihm schweigend nach und schüttelte dann den Kopf. „Ein seltsamer Kerl ist er schon," meinte er dann seufzend in Richtung der Flammen und streckte die steifen Glieder. „Aber ein guter Major ist er." „Und ein schrecklich verbitterter Mensch." murmelte Pul leise und blinzelte kurzsichtig zur Decke. „Aber darüber braucht man sich wohl auch nicht zu wundern, wenn man weiß, dass er nur wegen seinem Gesicht zum Heer gegangen ist."
„Was?" Mosar war für eine Sekunde unaufmerksam gewesen und drehte nun ruckartig den Kopf. „Ich dachte immer, es wäre der Wunsch seiner Eltern gewesen!"
„Ja, nachdem er sich nicht mehr zum schönen Adeligen eignete. Sākuru war nie zum Kämpfer bestimmt, er war das älteste Kind und hätte alle Ländereien seiner Familie erben sollen. Statt dessen hat alles seine jüngere Schwester übernommen und er ging so gut wie leer aus."
„Davon weiß ich nichts." meinte Mosar und runzelte die Stirn, während nun alle beide wortlos das erlöschende Kaminfeuer fixierten.
Shokumínchi hatte den Sturm nahezu unbeschadet überstanden. Zwar waren die Straßen übersät mit geknickten Stämmen, abgerissenen Zweigen und nassem Lehm, aber es gab noch keine ernsthaften Schäden. Im Schein der frühen Morgensonne kämpften sich schon einige wenige Männer und Frauen durch den Schlamm und bemühten sich, das Chaos so gut es ging zu beseitigen. Bald stießen auch andere Frühaufsteher zu ihnen.
Dāorèn hatte die ganze Nacht so gut wie nicht geschlafen und befand sich ebenfalls unter den Helfern. Eifrig zerrte er Bretter und geknickte Zweige zur Seite, vernagelte Türen und Fenster neu und kam darüber ziemlich bald ins Schwitzen. Sein Arm fühlte sich immer noch nicht ganz gesund an, er war bandagiert und nicht sehr belastbar. Zwar war auf der Línghún auch ständig etwas zur reparieren, aber Arbeit in diesem Ausmaß gab es nur sehr selten. Glücklicherweise lag sie sicher in einer der Höhlen und wartete das Ende der Unwetter ab.
„He, du da! Kennen wir uns nicht?" Plötzlich drang ein lauter Ausruf an sein Ohr. Leicht erschrocken, aber nicht beunruhigt, wandte Dāorèn den Kopf; möglicherweise handelte es sich ja um einen alten Bekannten.
Im nächsten Moment verwünschte er Shokumínchi und die Stürme, derentwegen er überhaupt hier gestrandet war.
Den Namen des Mannes kannte er nicht. Der wusste seinen wohl auch nicht, aber er kannte ein kleines, unliebsames Detail aus seinem Vorleben –
„Na, sieh einer an! Der kleine Dieb, dem man eigentlich die Hände hätte abhacken sollen!" Der Mann drängelte sich mit aufgeregt gerötetem Gesicht nach vorne und deutete mit beiden Händen auf Dāorèn, der bereits nach einer Fluchtmöglichkeit suchte.
„Der Kerl hat nämlich vor einigen Jahren versucht, den Palast zu bestehlen!" erläuterte der rotwangige Mann der aufmerksamen Menge. „Glücklicherweise hat man ihn geschnappt und – dank eines viel zu milden Urteils – ins Gefängnis gesteckt. Schrecklich war das damals, so richtig empörend! Und einen solchen Kerl trifft man hier wieder, wie ist er denn bloß freigekommen?"
Dāorèn war unterdessen blaß geworden und wich immer weiter zurück. Im Stillen verfluchte er seine Hilfsbereitschaft, die ihn in diese Lage gebracht hatte.
In der stetig anwachsenden Menge rumorte es inzwischen heftig. Mehrere Finger deuteten auf den unglücklichen Seefahrer und so mancher Ladenbesitzer krempelte bereits die Ärmel auf, bereit, Hab und Gut gegen den ehemaligen Dieb zu verteidigen.
Glücklicherweise krachte im nächsten Moment ein heftiger Donnerschlag und es begann wie aus Kübeln zu gießen. Von einem Augenblick auf den anderen war der unglückliche Dāorèn vergessen und jeder versuchte nur noch, mit halbwegs trockener Haut davonzukommen. Der stämmige Kerl drängte sich dicht an Dāorèn vorbei und blickte ihn mit einer Mischung aus Grimm und Neugier an. „Na warte, Bürschchen, hier kannst du keine langen Finger machen. Das treiben wir dir schon aus, und bei uns gibt's keine Möglichkeit zur Flucht!" Nach dieser Kampfansage entfernte er sich hohnlachend und wiegenden Schritts.
Auch neben Dāorèn lachte jemand spöttisch auf. Inázuma stand mit verschränkten Armen schräg hinter ihm und betrachtete seinen kleinlauten Rivalen, der wie ein begossener Pudel im Regen stand. Er grinste genüsslich und ließ sich die Worte wie Honig im Mund zerfließen.
„Wolltest du den Herrschaften etwa nicht erzählen, dass Lady Hǎi dir zur Flucht verholfen hat, damals in Shǒushìhé? Als sie dich schon in eine Eisenmine schicken wollten, allen voran die Gildenmeister. Und zwar die jeder Gilde." fügte er trocken hinzu und kicherte. Dāorèn wäre beinahe im Boden versunken, behielt den Kopf aber dennoch oben. „Pah, na und? Eigentlich hätten sie mich nie geschnappt, wenn ich an diesem Tag nicht gerade krank gewesen wäre. Sonst wäre mir so was nie passiert. Und dann müsste ich mich auch nicht mit dir herumärgern!" zischte er plötzlich böse und stapfte wieder zurück ins Gasthaus. Das Bedürfnis zu helfen war ihm inzwischen gründlich vergangen.
Hǎi stand alleine auf einem hohen Hügel hinter dem Gasthof und ließ sich den Wind um die Ohren wehen. Nachdem Dāorèn und Inázuma verschwunden waren, hatte sie sich still und leise auf den Weg gemacht.
Die Sonne war in einem roten Schleier aufgegangen und stieg nun rasch höher. Es versprach ein heißer Tag zu werden. Lóng saß zu ihren Füßen im Schatten und zischte ab und zu leise vor sich hin. Ihm behagte die Hitze nicht sonderlich, schon gar nicht, weil sie wie ein unheilvoller Vorbote der kommenden Stürme zu sein schien. Aber seine Herrin schien nicht die geringste Lust zu haben, wieder in den sicheren Gasthof zurückzukehren.
Die junge Seefahrerin schwieg und starrte in die Ferne, ohne wirklich etwas zu sehen. Im Geiste schweifte sie zu ihren Jugendtagen zurück, zu den Zeiten, in denen sie noch in unvorstellbarer Pracht gelebt hatte. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob es nicht besser gewesen wäre, dort zu bleiben. Andererseits hielt sie nicht viel von Käfigen, daran konnten auch Gitterstäbe aus reinstem Gold nichts ändern.
Lóng schnatterte erstaunt, als ein dicker salziger Tropfen seinen Kopf traf und darauf zerplatzte. Der Wind zerzauste ihr Haar und warf es heftig nach hinten, dass es den Anschein hatte, als würde ein violettes Banner auf einer menschlichen Fahnenstange wehen. Noch immer konnte sie den Blick nicht abwenden, obwohl sie nichts bewusst fixierte. Aber die Erinnerungen waren zu stark.
Ráiu stand am Fenster des Hikigaéru und beobachtete ihre Schülerin aufmerksam. Zwar war Hǎi von hier aus nicht mehr als ein schmaler Schemen am Gipfel des Hügels, dennoch konnte man ihr selbst von hier aus die Gemütsverfassung ansehen.
Die alte Frau seufzte und schüttelte bekümmert den Kopf. Hǎi tat ihr leid, aber es war schwer, mit ihr darüber zu reden. Anderen Menschen, selbst so engen Vertrauten wie ihren Liebhabern und ihrer alten Meisterin gegenüber zog sie es vor, nur sehr selten über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen.
„Hallo! Tante Ráiu!" Okami war außer Atem hereingestürzt und lachte sie an. Die Kleinen hatten draußen im Lehm gespielt und waren über und über mit Schlamm, Blattresten und anderem Unrat bedeckt. Strahlend rannte er auf sie zu und hängte sich an ihr langes Hemd. Kurz darauf folgten Haná und Sángo, beide in einem ähnlichen Zustand. Hanás blondes Haar hing dreckverkrustet herunter und ihr Kleid war einem Putzlumpen sehr ähnlich.
Trotzdem wirkte sie gar nicht so hochnäsig und schmollend wie sonst. Offensichtlich hatte sie das Spiel amüsiert und sie ihr Aussehen vorübergehend vergessen lassen.
„Aói bastelt da draußen schon wieder an etwas herum. Ich glaube, er will eine Maschine erfinden, mit der man schneller aufräumen kann!" kreischte sie aufgeregt und quiekte in höchsten Tönen, als Tsumé, der hinter den Kindern durch die Tür trat, sie auf den Arm nahm und kräftig kitzelte.
„Na, das kann ja was werden. Der faule Kerl drückt sich doch bloß vor der Arbeit!" meinte Tsumé spöttisch und setzte Haná wieder ab. „Wo ist denn der Rest der Bande?"
Hōtáru kuschelte sich noch tiefer in die Decken und seufzte. Káshira hatte ihn schon wieder die ganze Nacht lang nicht schlafen lassen sondern ständig wieder aufgeweckt, unter dem Vorwand, er, Hōtáru, würde so furchtbar unruhig schlafen und ihn stören.
Jetzt war endlich Ruhe. Káshira war eingeschlafen und atmete ruhig und friedlich neben ihm, als wäre er kein ungeduldiger Störenfried.
Hachinohe wirkte so weit weg. Hōtáru konnte sich die vertrauten Gassen und Straßen nur mehr sehr schwer vorstellen, alles schien wie in einem dichten Nebel zu liegen. Die neuen Eindrücke Noas überlagerten mit intensiver Farbenpracht die Erinnerungen.
Eine kleine Echse krabbelte die düstere Wand nach oben und ließ die lange Zunge ohne Vorwarnung herausschnalzen. Er zuckte zusammen.
In diesem Keller war es kühl und muffig. Die meisten der anderen Schläfer waren bereits aufgestanden um zu frühstücken oder draußen zu helfen; außer ihnen befanden sich nur noch wenige Personen im Raum.
Obwohl Káshira direkt neben ihm lag, fühlte er sich plötzlich sehr einsam. Wie es weitergehen sollte konnte er sich einfach nicht vorstellen. Wieder nach Hause zu kommen schien so unmöglich zu sein. Zwar sollten hier die Priesterinnen und der Ausgestoßene hausen, aber ob die ihnen helfen konnten war ja nicht sicher. Abgesehen davon wirkte das Ganze so furchtbar utopisch. Solche Abenteuer kamen sonst nur in Büchern oder Filmen vor, aber ganz sicher nicht in Wirklichkeit.
Auch in Bezug auf Káshira war er sich nicht sicher. Ja, klar, momentan lief alles bestens. Aber in Zukunft? Von Káshira wusste man, dass er seine Freundinnen wie Unterwäsche zu wechseln pflegte.
Mit einem Ruck warf er die Decke von sich und sprang leise auf die Füße. Mit solchen Gedanken konnte er nicht mehr still liegen bleiben. Vielleicht war es besser, mit irgend jemandem darüber zu reden. Kamomé würde ihm zuhören, da war er sich sicher. Seltsam, dass sie sich früher gegenseitig so verachtet hatten.
Káshira merkte von alldem nichts. Er schlummerte tief und zufrieden weiter, nachdem Hōtáru den Keller verlassen und sich auf die Suche nach Waschräumen, Frühstück und Kamomé gemacht hatte.
Sie stand gerade neben Aói und sah ihm mit gelangweilter Miene zu. Obwohl er sich nach Kräften bemühte, irritierten ihn ihre ernste Miene und die verschränkten Arme sehr. Die Hände begannen zu zittern, und seine Ohren wurden knallrot. Daher war er über Hōtárus Kommen sehr froh.
„Hei, Kamomé" begann Hōtáru leise und kratzte sich verlegen am Kopf. „Wollen wir ein bisschen spazieren gehen?"
Sie wandte den Kopf und sah ihn prüfend an. Dann nickte sie gnädig und ließ Aói endlich allein. Der blauhaarige Junge seufzte erleichtert auf, als sie sich außer Hörweite befanden und stürzte sich mit Elan wieder in die Arbeit.
„Was ist? Du siehst nicht gut aus, hast du schlecht geschlafen?" fragte sie höflich. Er lächelte verlegen und wies mit dem Kopf zum Hikigaéru zurück. „Na ja, Káshira, du weißt ja. Er war die ganze Nacht lästig und schläft jetzt wie ein Murmeltier." Seine Stimme wurde leiser, als fürchtete er, jemand könnte sie belauschen. „Ich muss unbedingt mit dir reden. Sonst gibt es niemanden, mit dem ich darüber reden kann. Es ist wegen Káshira und dem Ganzen." Die Sätze stieß er schnell und hastig hervor, sie würgten ihn schon seit langem in der Kehle.
Es war ganz still. Kamomé schwieg lange und begutachtete scheinbar unaufmerksam ihren Fingernagel, bevor sie schließlich doch antwortete.
„Die Frage ist ja, was du von dir und Káshira erwartest. Und ob du bereit bist, dich darauf einzulassen. Nicht nur auf ihn selbst, sondern auch sein restliches Leben." Ein Flugsaurier zog in weitem Bogen über sie hinweg. „Mit ihm zu schlafen ist nicht schwer. Dazu gehört nicht viel. Aber mit ihm zu leben ist eine andere Sache. Auf seine Freunde, sein ganzes Umfeld einzugehen. Kannst du das?" Sie sah ihn fragend an. Hōtáru wusste nicht, was er darauf antworten sollte. So weit hatte er noch nicht gedacht. „Am liebsten wäre es mir wohl, ich müsste keinen von denen kennen lernen. Ich meine, es reicht doch, wenn wir uns ein paar Mal in der Woche sehen, und das war's."
„Ach ja?" meinte sie kurz und schritt hastiger aus. Hōtáru hatte Mühe, ihr zu folgen und dabei noch zuzuhören, denn jetzt sprach sie noch leiser als zuvor.
„Das ist zwar eine nette Idee, aber funktionieren wird sie nicht. Irgendwann wirst du mehr von seinem Leben wollen als nur seinen Körper und ein paar Stunden in der Woche. Komm schon, Hōtáru, sei ehrlich. Es wäre zwar schön, wenn man Gefühle steuern könnte, aber das kann man nun mal nicht so leicht. Das Problem ist, dass sowohl du als auch er Freunde habt, die sich gegenseitig nicht ausstehen können. Dann ist da noch Watarídori. Er leidet jetzt schon wie ein Irrsinniger darunter. Magst du ihn nicht mehr? Und Káshira hat auf Hachinohe einen Haufen Freunde, die du gar nicht kennst. Was ist mit denen?"
Hōtáru schwieg und senkte trotzig den Kopf. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen, obwohl er einsah, dass die Fragen berechtigt waren. Kamomé musterte ihn vorsichtig und seufzte schwer. „Ich weiß, dass das jetzt nicht so aufmunternd klingt. Aber setzt dich lieber früher als später damit auseinander. Sonst wachst du eines Tages auf, und alles ist zu Ende, ohne dass du den Grund dafür sehen könntest. Lass' dich nicht von schönen Sätzen oder Freundlichkeiten täuschen. Du musst hinter die Fassade sehen. Denk daran, dass eine Beziehung einen Haufen Nerven, Ärger und Tränen kostet. Die Frage ist, ob die guten die schlechten Tage aufwiegen. Und wie viel du zu investieren bereit bist. Es muss sich für dich lohnen. Man muss leider alles bedenken, nichts löst sich von selbst. Willst du Watarí als Freund behalten? Oder ist er dir dafür nicht wichtig genug? Was tust du, wenn Káshira dich im Regen stehen lässt? Es muss ja nicht so sein. Aber es kann passieren."
Inzwischen hatte es begonnen, leicht zu nieseln. Das Wetter schlug schon wieder um und passte haargenau zu Hōtárus düsterer Stimmung. Natürlich hatte Kamomé in allem, was sie sagte, recht. „Aber es ist so ungerecht. Es gibt genug Leute, die eine gute Beziehung führen können, ihre Freunde nicht vernachlässigen und Karriere machen. Und ich muss mir wegen jedem Schritt den Kopf zerbrechen. Das ist nicht fair. Warum kann das Leben nicht einfacher sein? Besser gesagt, warum ist es bloß für mich so schwierig?" Seine Stirn war gerunzelt und er ballte die Hände zu hilflosen Fäusten. „Was mache ich immer falsch, dass so was dabei herauskommt?"
„Na ja" lächelte Kamomé bitter und zuckte leicht mit den Achseln. „Du machst dabei gar nichts falsch. Oder jedenfalls nicht mehr als andere. Das Leben ist eben so. Denk jedenfalls gut darüber nach."
Damit war ihr Gespräch offensichtlich beendet. Der Regen war stärker geworden und stach unangenehm auf der Haut und ein heftiger Wind war aufgekommen. Kamomé drehte sich mit einem letzten mitleidigen Blick um und marschierte zielstrebig zum Gasthaus zurück.
Hōtáru folgte ihr in einiger Entfernung und schauderte. Inzwischen war er bis auf die Haut durchnässt und fühlte das Hemd unangenehm kleben. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ein neuerlicher Sturm aufziehen würde.
Auf halbem Wege stieß er auf Hǎi, die sich nun ebenfalls zum Rückweg entschlossen hatte. Sie lächelte ihm aufmunternd zu und wirkte nicht mehr halb so erschöpft und wütend wie am Tag zuvor. Während sie Lóng, der sich in ihre Armbeuge geschmiegt hatte, sanft über die Schnauze streichelte, wandte sie sich zu Hōtáru. „Wie geht es dir so?" fragte sie freundlich. „Ich hoffe, die Unwetter sind bald vorüber. Dann können wir uns ungehindert in Uerū bewegen und die Priesterinnen aufsuchen. Sie werden uns bestimmt helfen können. Abgesehen davon gibt es ja noch diesen Verbannten. Du wirst schon sehen, es kommt alles in Ordnung."
Er lächelte ebenfalls und schluckte den bitteren Kloß in seiner Kehle tapfer hinunter. „Ja, das hoffe ich doch sehr. Vielen Dank übrigens noch. Es war sehr nett von Ihnen, uns so zu helfen, obwohl es sicher nur eine Last war." Sie lachte und tat seine Entschuldigung mit einer lockeren Handbewegung ab, die Lóng beinahe zu Fall gebracht hätte. „Ach was! Glaub' mir, wir hatten ohnehin etwas zu tun. Abgesehen davon helfe ich immer gern, wenn etwas Spannendes in der Luft liegt. Und bei dieser Sache kann ich das Besondere direkt spüren. Ich bin schon sehr gespannt, was noch so alles passiert! Eigentlich müsste ich dir danken, denn du und deine Freunde, ihr bringt ein bisschen mehr Schwung in den Alltag."
Das Meer hatte sich in einen Hexenkessel verwandelt. Gischt sprühte über die Klippen und immer ungestümere Windstöße jagten über das Land. Shokumínchi war zwar gut geschützt, aber es schien dennoch ratsam, so schnell wie möglich in die sicheren Keller zu flüchten. Außer ihm und Hǎi war keiner mehr auf den Straßen zu sehen. Eilig hasteten sie auf den sicheren Gasthof zu und schlossen die schwere Tür hinter sich.
Die übrigen Gäste befanden sich bereits wie am Vortag in den Kellerräumen und vertrieben sich die Zeit mit Brettspielen oder Erzählungen. Haná und der Rest der Kleinen waren von Ráiu frisch gebadet worden und tobten nun in einer Ecke herum; ihre Backen waren gerötet vor Eifer.
Hǎi gesellte sich sofort zu den Brettspielern, unter denen sich auch Dāorèn und Inázuma befanden. Inázuma erzählte ihr sofort von den Ereignissen am frühen Morgen, während Dāorèn mit geröteten Ohren und wütend funkelnden Augen lauschte. Sie lachte herzhaft und warf ein paar Kupferstücke vor sich hin. Die anderen Spieler nahmen den Wetteinsatz zustimmend an und bezogen sie in ihr Spiel ein. Bald klang nur noch dumpfes Murmeln aus der Ecke, ab und zu aufgelockert von einem triumphierenden Schrei oder Hǎis hellem Lachen. Es war eine sehr friedliche Stimmung.
Hōtáru schlich mit leicht schuldbewusster Miene zu seinem Liebling und nahm ihn schweigend in den Arm. Es war einfach schön, ihn ganz still festzuhalten und ab und zu sanft zu streicheln.
Während ein neuerlicher Wirbelsturm über die Insel Uerū und somit auch Shokumínchi tobte, griff Káshira fest nach Hōtáru und schmiegte sich noch enger an ihn.
Auf Ròushíyú herrschte momentan glücklicherweise Funkstille. Es war Mosar sogar gelungen, einen Flugsaurier zur Hauptstadt zu senden und um sofortige Schadensmeldungen zu bitten. Er hoffte so sehr, dass es Yamanéko gut ging. Nicht auszudenken, dass ihr etwas passiert sein könnte.
Ärgerlicherweise sah es so aus, als würde er noch eine ganze Weile auf der Insel festsitzen. Zwar war das Shuǐhú nicht so übel, aber für die gesamte Truppe war das Nichtstun sehr nervenaufreibend.
Während dieser aufgezwungenen Ruhepause schlichen sich Mosar oft ungebetene Gedanken über die erschreckende Veränderung des Königs in den Sinn. Damit verknüpft waren selbstverständlich Bedenken und Ärger über den starken Einfluss des Hohenpriesters, der immer weiter zu wachsen schien.
Oft dachte er auch über die flüchtigen Kinder nach. Was für seltsame Leute die doch waren! Noch immer war er sich nicht völlig darüber im klaren, woher sie kamen und was sie hier wollten. Alle Informationen, die es über dieses Thema gab, waren vom Hohenpriester gefiltert und von jeglicher unerwünschten Wahrheit gesäubert worden, soweit der Hohenpriester die gesamte Wahrheit überhaupt wusste.
Den Nachmittag über vertrieb er sich mit Pul und den anderen Soldaten die Zeit mit Spielen, die seinen momentan ohnehin kargen Sold arg in Bedrängnis brachten. Er hatte für Yamanéko einige Kimonós in Auftrag gegeben und im Voraus bezahlen müssen, da es sich um eine der exklusivsten Schneider in ganz Shǒushìhé handelte. Glücklicherweise drückte der sonst so strenge Major persönlich ein Auge zu und rette Mosar damit vor dem Bankrott.
Während er sich an seine mageren Suppentage erinnerte, schüttelte er sich unbewusst. Nie wieder diese unfreiwillige Diät.
Sākuru schien nach der ungemütlichen Nacht wieder etwas besser gelaunt zu sein. Zum ersten Mal betrachtete Mosar die tiefe Narbe auf der Wange mit Aufmerksamkeit und bemerkte mit leisem Schrecken, wie tief sie sein musste. Der Major hatte Glück im Unglück gehabt und normale Gesichtszüge behalten. Es gab ja sonst genügend Beispiele dafür, wie so ein Biss aus einem Gesicht eine Fratze machen konnte. In allen Städten liefen genug davon herum.
Der Nachmittag floss sanft in den Abend über, während der General und seine Männer in einem ruhigen Hínan Brettspiele spielten und über Uerū ein heftiger Sturm tobte. Aber die Atempause würde nur kurz währen. Der General wappnete sich innerlich bereits wieder für die bevorstehende Jagd, eine Jagd, auf die er sich auf eine seltsame Art und Weise sogar freute. Denn jetzt war Hǎi im Spiel, und durch sie versprach es noch ein wenig interessanter zu werden.
