Kapitel

Zwar war der Abschied von ihrer Familie schmerzhaft gewesen, doch Estella wusste, dass sie den richtigen Weg gewählt hatte. Ihre Tante, deren Namen sie erhalten hatte und die sie von ganzem Herzen liebte, erwartete sie am nächsten Abend in ihrem kleinen Haus in Bree. Für das junge Hobbitmädchen war es merkwürdig, in einem Haus aus Stein zu leben, darin zu schlafen und zu essen, doch ihre Tante lachte nur, wobei die grauen Locken ungebändigt auf und ab wippten. „Mein liebes Kind, wenn alles so ungefährlich wäre wie ein viereckiges Haus aus Stein und Lehm – wie gut würde es uns allen gehen!" Dann hatte sie die Stimme gesenkt. „Es wäre wohl besser für dich, mein Mädchen, wenn du dich nach deinem Tagwerk nach Hause begleiten lässt – es gehen seltsame Dinge vor. Menschen, die ihr Antlitz verhüllen, reiten durch die Stadt und ängstigen die Einwohner – andere wandern durch die Straßen, obwohl sie sonst in den Wäldern zu Hause sind. Estella, ich bin froh, dass du meinem alten Vetter im Geschäft zur Hand gehst und hier auch lernen möchtest – doch du musst dabei auf der Hut sein. Vor allem im Moment!" Sie lachte nicht mehr, sondern sah ihre Nichte nur beschwörend an. „Du wirst auf dich aufpassen, mein Kind!" Estella nickte. Sie war müde und benommen. Doch glücklicherweise war ihr wenigstens noch aufgefallen, dass Tante Estella gewartet hatte, bis Fredegar sein kleines Kämmerchen aufgesucht hatte, in dem er die Nacht verbringen sollte. Sie wusste, er würde sie notfalls an den Haaren nach Hause schleifen, wenn er diese Gerüchte erführe.

Estella hatte sich gleich am nächsten Morgen auf die Suche nach dem Geschäft ihres Nenn-Onkels gemacht. Zwar hatte ihre Tante angeboten, sie zu begleiten, doch ihre Nichte hatte den kopf geschüttelt – sie wollte sich gleich allein zurechtfinden. Also hatte sie ihrem geliebten großen Bruder nur einen herzhaften Kuss auf die Wange gegeben und war fröhlich vor sich hin summend verschwunden. Nach dem gewaltigen Regen in der Nacht zuvor sah die Stadt wie frisch gewaschen aus, und in den Pfützen kräuselten sich die hellgrauen Wolken, die am Himmel schwebten. Estella fühlte sich plötzlich so frei wie nie zuvor – und mit diesem Gefühl im Herzen trat sie ihren ersten Arbeitstag an.

Estella reckte sich ausgiebig – der Mond stand hoch oben am Himmel, und außer dem Zirpen einiger Grillen war nichts zu hören. Sie fühlte sich ein wenig besser, als sie an die Zeit in Bree dachte – die Zeit, die sie genutzt hatte, um sich selbst ein bisschen besser kennen zu lernen und nicht zuletzt ein Handwerk zu lernen.