A/N: Liebe Grüße an Megchen! :)
Warnung: Das Kapitel könnte Taschentücher erfordern!
Sonstiges: "Patrick" und sein "Team" sind an meine absoluten Lieblings-Fernseh-Spurensicherer "CSI: Las Vegas" angelehnt, aber sie tauchen nicht sehr lange auf. I.
16. Kapitel
Sie fanden sogar ein paar neue Verdächtige, die sich bei näherem Hinsehen aber wie immer als Nieten entpuppten. Red wurde immer klarer, daß sie nicht wußten, wonach sie suchen sollten, solange sie nicht das Muster oder Motiv kannten. Rassenhass kam nicht in Frage, sonst wären es ja nicht nur Frauen gewesen. Und vor allem nicht so wenige, da hatte Piper durchaus recht. Wenn es ein fanatischer Rassist wäre, dann hätte er einfach nur Bomben werfen müssen. Das war entnervend.
Sechs Wochen nach den Morden an Akiko Peyton und Pamela Fujiyama trafen sie sich nachmittags in Reds Büro, um nochmal alles zu rekapitulieren.
"Also," begann Red, "wir haben einen Verrückten..."
"Einspruch!" rief Jez sofort. "Piper hat sich die Akten nochmal genau angesehen. Der Kerl ist nicht verrückt, jedenfalls nicht im klinischen Sinn. Piper meinte, es müsse zwar eine geringfügige Geisteskrankheit vorliegen, aber er ist in der Lage, sie gewissermaßen zu verstecken."
"Und wie kommt sie darauf?" fragte Kate neugierig.
"Ganz einfach," sagte Jez. "Ein Verrückter fällt früher oder später jemandem auf. Wenn einer die dumme Angewohnheit hat, Japanerinnen zu erschießen, dann merkt das irgendwer, weil der Täter sich merkwürdig benimmt oder zunehmend verdächtiger wird. Wir arbeiten inzwischen gut genug mit der Presse zusammen, daß die Leute wissen, wie sie uns helfen können und wonach sie Ausschau halten müssen."
"Was an ein Wunder grenzt, da wir das ja nichtmal selbst wissen," ergänzte Duncan hilfreich.
"Aber," fuhr Jez einfach fort, "der Täter dadurch natürlich auch. Er hat dieselben Informationen wie alle anderen. Und deswegen muß er bis zu einem gewissen Grad wissen, was er tut. Er muß sich kontrollieren können, denn sonst verrät er sich versehentlich, und das weiß er."
"Wir haben also einen voll zurechnungsfähigen Killer?"
"Das habe ich nicht gesagt und Piper auch nicht. Wir wissen es nicht. Und zwar wissen wir es solange nicht, bis wir ihn haben. Erst dann können wir, beziehungsweise Piper, seinen Geisteszustand beurteilen."
"Okay," sagte Red, "der Typ ist also nicht direkt verrückt, aber das bringt uns momentan nicht weiter! Wir stehen immer noch da, mit sechs Leichen und nichts in der Hand!"
Stille folgte seinen Worten. So wenig Hinweise hatten sie das letztemal bei...Aber darüber wollten sie eigentlich nicht genauer nachdenken.
Ein Handy klingelte und wie auf Kommando blickten alle auf ihres.
"Meins," sagte Jez und hob ab. "Ja?"
"Habt...Habt ihr gerade viel zu tun?"
"Piper?"
"Ja."
Sie schluchzte leise.
"Was ist passiert, Süße?"
"Ich...Wir brauchen hier...Ich meine...Es ist zwar kein Mord, aber wir bräuchten trotzdem Polizei und Spurensicherung."
Jez konnte förmlich sehen, wie Piper sich zusammenriss.
"Kannst du kommen oder kannst du mir zumindest jemanden sagen, den ich anrufen kann?"
"Wer?" fragte Jez, obwohl er sich die Antwort schon denken konnte, und er wurde nicht enttäuscht.
"Tatum," flüsterte Piper und begann erneut zu weinen.
"Aber es ging ihr besser!" rief Jez. "Es...Es ging ihr gut!"
"Ja, ich weiß," schniefte Piper. "Das ist es ja. Es hätte mich stutzig machen müssen. Sie war so ruhig auf einmal. So...gelassen. Sie schien mit sich und der Welt im reinen zu sein. Das kam zu schnell. Ich hätte es merken müssen."
"Piper," sagte Jez sanft. "Du bist doch kein Hellseher. Bleib', wo du bist, Kleines. Ich schicke jemanden vorbei."
"Danke, Großer," sagte sie leise und legte auf.
Jez ließ den Kopf hängen.
"Geh' ruhig," meinte Red. "Nimm Kate mit! Im Moment gibt's hier sowieso nichts zu tun."
"Danke, Red. Kate, wir treffen uns am Auto. Ich sag' noch schnell den Jungs von der Spurensicherung bescheid."
"Gab es im Heim einen Mord?"
"Nein. So wie es aussieht, einen Selbstmord, aber wir müssen Mord zweifelsfrei ausschließen."
"Oh, nein," sagte Kate mitfühlend. "Wie geht es Piper?"
"Nicht besonders gut. Sie mag alle ihre Patienten, das macht sie ja zu einer so guten Therapeutin, aber Tatum hatte sie besonders gern."
"Tatum? Die kleine Niedliche mit den schwarzen Haaren?"
"Ja. Sie ist letzten Mai siebzehn geworden."
"Verdammt! Sie war wirklich lieb."
"Ja. Laß' uns gehen. Red, wir melden uns."
"In Ordnung. Sagt Piper, daß es mir leid tut."
Piper wartete blass und traurig vor Tatums Zimmertür. Erstaunt sah die junge Ärztin auf, als Jez, Kate und eine Menge andere Leute auf sie zu kamen.
"Jez! Ich dachte, du..."
Er umarmte sie liebevoll.
"Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde das an einen Kollegen delegieren," flüsterte er in ihre langen, weichen Haare und ließ sie wieder los. Kate berührte sie sanft am Arm.
"Tut mir so leid, Piper."
"Danke, Kate."
"Haben Sie irgendwas berührt, in letzter Zeit?" fragte jemand.
"Darf ich vorstellen?" meinte Jez. "Patrick Graham, unser oberster Forensiker. Pat, Dr. Piper Clifton, meine Frau."
"Guten Abend, M'am. Haben Sie?"
"Die Türklinke," antwortete Piper leise. "Ich habe auch angeklopft, erwa auf dieser Höhe."
Sie zeigte es ihm.
"Und ich habe das...das Wasser abgestellt. Das lief nämlich noch,als...als ich..." Sie brach ab und Jez legte ihr tröstend einen Arm um die Taille. Dankbar lehnte sich Piper an ihn und sagte: "Aber ich habe vorher Zeitungspapier ausgelegt. Darauf bin ich gelaufen, bis zum Bad. Ich...Ich glaube zwar, sie hat sich selbst...sich selbst getötet, aber ich wollte keine eventuellen Spuren verwischen."
"Das haben Sie sehr gut gemacht, M'am," sagte Patrick sanft. "In Anbetracht der Situation eine bewundernswert rationale Reaktion."
"Ich bin eher ein Kopfmensch," murmelte sie leise. "Und trotzdem habe ich die Zeichen nicht erkannt."
Patrick sah zu Jez, der leicht nickte, und Pat kümmerte sich wieder um den Tatort und sein Team. Kate blickte nochmal mitleidig auf Piper und lief dann ebenfalls zu Patrick und den anderen. Jez zog Piper erneut in seine Arme und streichelte beruhigend ihren Rücken.
"Willst du gehen?" fragte er leise.
"Nein," antwortete Piper ebenso leise. "Vielleicht wollen sie mich noch was fragen."
"Okay."
Jez schwieg und hielt sie einfach nur fest. Er konnte nichts weiter für sie tun. Als seine Eltern starben, war es genauso gewesen. Alle waren sehr nett zu ihm gewesen und hatten versucht, ihn abzulenken, aber mit dem Schmerz hatte er alleine fertigwerden müssen. Was allerdings nicht hieß, daß seine Verwandten sich umsonst bemüht hatten. Es war gut gewesen zu wissen, daß jemand da war. Jemand, mit dem man reden und zu dem man gehen konnte, wenn die Trauer zu groß wurde. Also hielt er Piper einfach nur fest und wartete.
"Sie bringen sich meistens im Sommer um, weißt du?"
Piper war kaum zu verstehen, so leise sprach sie.
"Man sollte meinen, im Winter, wenn alles dunkel und kalt und umgemütlich ist, oder die allgemeine Weihnachtsdepression malwieder zuschlägt,aber nein! Die meisten Selbstmörder wählen Frühjahr oder am besten Sommer, wenn alles hell ist und blüht. Aber wahrscheinlich ist es so einfacher, von allem Abschied zu nehmen. Es heißt doch, man soll aufhören, wenn's am schönsten ist. Vielleicht wollen sie die Welt in angenehmer Erinnerung behalten, trotz allem, was sie ihnen angetan hat. Ich weiß es nicht..."
"Piper, bitte sag' sowas nicht. Es war nicht deine Schuld. Du hast alles versucht. Daß sie es nochmal versuchen würde, konntest du nicht wissen. Dafür gab es keinerlei Anzeichen. Es ging ihr gut."
"Anscheinend nicht," erwiderte Piper bitter. "Der schlagende Beweis liegt gerade blutleer und kalt in der Badewanne von diesem Zimmer."
"Piper, hör' auf!"
Sie seufzte und kuschelte sich an ihn.
"Tut mir leid."
"Darf ich dich nach Hause bringen, wenn Pat nichts mehr von dir will?"
Piper löste sich langsam von ihm und schüttelte leicht den Kopf.
"Nein. Ich muß zumindest noch mit Julian, Jordan und John reden. Danach kann ich vielleicht frei machen, aber...Ich glaube, mir tut die Ablenkung ganz gut."
"Na schön," meinte Jez zögernd. "Ich bin zwar absolut nicht damit einverstanden, aber ich kann dich ja sowieso nicht daran hindern. Ruf' mich bitte an, wenn du gehst. Ich hole dich dann ab."
"In Ordnung."
"Piper?"
"Ja?"
"Julian, Jordan und John? Heißt das, sie reagieren wieder auf ihre richtigen Namen?"
Das entlockte Piper ein kleines Lächeln.
"Ja. Es sind liebe Jungs. Sie machen riesige Fortschritte und helfen großartig mit. Sie wollen gesund werden. – Was immer das auch sein mag."
"Ahm...Piper?"
Kate trat zögernd auf sie und Jez zu.
"Ja?"
"Das...haben wir in ihrem Zimmer gefunden. Auf dem Schreibtisch. Er ist an dich addressiert."
Kate zeigte Piper den Brief. Mit zitternden Fingern griff Piper danach und drehte ihn unschlüssig hin und her. Schließlich gab sie ihn Jez.
"Nimmst du ihn bitte mit?"
"Gern. Aber warum?"
"Weil es besser ist, wenn ich den zu Hause lese. Und wenn ich ihn die ganze Zeit mit mir rumtrage, dann könnte es passieren, daß ich ihn doch hier lese."
"In Ordnung."
"Kommst du klar?" fragte Kate ernst.
"Im Moment, ja," antwortete Piper ebenso ernst. "Schwer wird es erst, wenn ich alleine bin."
Kate nickte. Sie wußte, was Piper meinte. Nach den "Apostelmorden" war es ihr auch so gegangen. Man konnte alles von sich wegschieben, solange man was anderes zu tun hatte, aber irgendwann gab es nichts anderes mehr zu tun. Und dann fielen einem unweigerlich all' diese kleinen, im Nachhinein unmißverständlichen Anzeichen auf. Dinge, die einem gleich hätten spanisch vorkommen müssen, die man aber als unwichtigen "Spleen" abgetan hatte, und es nun bitter bereute. Und egal, was alle anderen sagten, die Schuld lag immer allein bei einem selber. Man fragte sich immer wieder was gewesen wäre, wenn...Trotzdem sagte Kate: "Mach' dir keine Vorwürfe! Wenn du es jetzt verhindert hättest, dann hätte sie es ein anderesmal geschafft. Sie wollte es, Piper. Und was man unbedingt will, das schafft man auch irgendwann."
"Danke, Kate."
Piper lächelte schief.
"Es hilft mit im Augenblick kein bißchen, aber danke."
"Einen Versuch mußte ich wagen."
"Das verstehe ich."
Kate sah zu Jez.
"Also, Pat und seine Leute wären dann soweit."
"In Ordnung. Ich komme gleich."
Kate lief davon und Jez beugte sich zu Piper, um sie kurz zu küssen.
"Bis nachher. Du rufst an, ja?"
"Ja. Bis nachher."
Jez lief los und noch während er zum Auto ging, griff er zu seinem Handy und rief bei James und Josh an. Er wollte Piper nichts unterstellen, aber er hatte das Gefühl, sie würde dabei "professionelle" Hilfe brauchen. Auch Therapeuten brauchten manchmal einen Therapeuten. Schließlich konnte sich ein Chirurg auch nicht selbst operieren.
Der Digitalwecker sagte ihr, daß es genau zwei Uhr und siebenundvierzig Minuten war. Piper haßte Digitalwecker. Sie mochte Uhren mit Zifferblatt und zwei Zeigern. Piper lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Jez' tiefe, ruhige Atemzüge verrieten ihr, daß er schlief. Sie schloss die Augen, aber an Schlaf war nicht im mindesten zu denken. Morgen war Tatums Beerdigung. Vor drei Tagen waren James und Josh aus Kintyre gekommen und James hatte sich lange mit ihr unterhalten. Über Gott und die Welt, aber auch und vor allem über Tatum. Piper war zwar momentan nicht gerade in Topform, aber deswegen war sie nicht völlig verblödet. James hatte anfangs steif und fest behauptet, das Heim hätte ihn benachrichtigt, und das hätte das Heim vermutlich auch getan, aber dann hätten er und Josh nie so schnell in London sein können. Bis der Verwaltungsapparat nämlich seinen geregelten Gang ging, verstrich einige Zeit. Sie waren einfach zu früh vor Ort. Schließlich hatte James zugegeben, daß Jez sie angerufen hatte.
"Sei ihm nicht böse, Piper," bat James im selben Atemzug. "Er macht sich Sorgen um dich. Tatums Tod läßt auch ihn nicht kalt, aber er kannte sie nicht so lange und so gut wie du, deshalb kann er besser damit fertig werden."
"Ich bin ihm nicht böse, Jamie," hatte Piper erwidert. "Es ist lieb, daß er sich Sorgen macht. Das zeigt, daß ihm viel an mir liegt. Die Gespräche mit dir waren auch sehr...hilfreich."
"Aber?"
"Aber ich bin noch nicht bereit dazu. Ich muß erstmal eine Weile selbst über die Sache nachdenken, bevor ich damit anfangen kann, sie zu verarbeiten, das verstehst du sicher. Außerdem habe ich den Brief noch nicht gelesen und ich werde nicht jetzt versuchen, Tatums Tod auf die Reihe zu kriegen und nachdem ich den Brief gelesen habe, nochmal damit anfangen."
James hatte nach ihrer Hand gegriffen und gesagt: "Wenn du mich brauchst, du weißt, wo ich bin."
"Danke, Jamie," hatte sie erwidert, dann hatten sie sich getrennt.
Piper hatte Jez nicht gesagt, daß sie wußte, daß und warum er James und Josh angerufen hatte. Das konnte sie ihm nicht antun. Er war so besorgt und hatte gehofft, ihr so unauffällig helfen zu können, dieses Gefühl wollte sie ihm nicht nehmen. Piper wußte, wie wichtig es sein konnte, daß Freunde und Verwandte sich nicht nutzlos oder überflüssig, nicht gebraucht oder nicht geliebt fühlten. Sie hatte auch James gebeten, es Jez nicht zu sagen. So konnte Jez weiter mit James telephonieren und sich auf diese Weise selbst ein bißchen aussprechen, denn ihr war klar, daß ihre momentane Stimmung und ihr derzeitiges Verhalten ihn sehr belasten mußten. Leise und vorsichtig stand sie auf und lief ins Nebenzimmer. Die Wände waren dick und die Türen schlossen einigermaßen dicht, also konnte sie es wohl riskieren, leise Musik anzumachen. Sie entschied sich spontan für nichts "schweres" und legte eine ihrer Oasis-Cd's ein. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch und griff nach Tatums Brief. Zögernd drehte sie ihn zwischen den Fingern, aber sie wußte, daß sie irgendwann nicht mehr drumherum kam. Sie konnte ihn nicht ewig ungeöffnet liegenlassen. Langsam riss sie ihn auf. Sie erinnerte sich an Tatums lange, glänzendschwarze Haare, die ihr in leichten Wellen bis knapp zu den Schulterblättern reichten. Sie hatte sehr helle Haut gehabt, aber trotzdem sehr rote Lippen. Fast wie Schneewittchen. Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz..... Und ihre Augen hatten ebenfalls schwarz ausgesehen, obwohl sie natürlich dunkelbraun gewesen waren. Schwarz gab es ja nicht als Augenfarbe.
Piper zog den Brief aus dem Umschlag. Tatum hatte cremefarbenes Papier benutzt, an der Seite mit Blumendruck. Maiglöckchen. Pipers Lieblingsblumen. Sofort traten ihr wieder Tränen in die Augen, aber sie blinzelte sie davon und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Tatums sorgfältige, wenn auch noch irgendwie kindlich anmutende Handschrift.
"Liebe Piper!
Ich nenne dich jetzt einfach Piper, statt Dr. Williams oder Dr. Clifton. Jetzt kannst du mich ja nicht mehr schimpfen, falls es dir nicht gefällt. Obwohl ich nicht glaube, daß du mich schimpfen würdest. Wahrscheinlich hätte ich dich schon viel früher Piper nennen können, wenn ich dich gefragt hätte. Tut mir leid, daß ich nie den Mut dazu gefunden habe. Oh, das soll jetzt nicht heißen, daß ich Angst vor dir hatte!! Ich hatte nie Angst vor dir, das mußt du mir glauben. Du warst immer die netteste und freundlichste Person im Heim. Und ich hatte immer das Gefühl, du verstehst mich. Hoffentlich verstehst du auch, daß ich nicht bleiben konnte. Aber ich denke eher, du wirst dir die Schuld an allem geben, deswegen laß' mich jetzt versuchen, dir die ganze Sache zu erklären.
Vor vier Jahren, als ich ins Kensington-Heim kam, da hast du dich oft lange mit mir unterhalten, auch wenn du nicht genau gewußt hast, ob ich zuhöre oder nicht. Ich hörte jedes Wort. Irgendwann entschloss ich mich dazu, dir zu antworten und wagte damit erste Schritte zurück in die Realität. Eine Realität, von der ich wußte, daß sie nicht "meine" ist. Ich habe dir oft erzählt, daß ich hier nicht hingehöre. Es ist der falsche Ort, die falsche Zeit und... einfach das falsche Gefühl. Eines Tages hast du mir dann zu meiner großen Überraschung erzählt, daß du genau weißt, wie man sich dabei fühlt, und mir ein kleines Stück aus einem Buch vorgelesen, das du mir anschließend geschenkt hast. Ich habe dieses Buch gehütet wie einen Schatz und es praktisch nie aus der Hand gegeben. Die entsprechende Stelle lautete:
"Ein Joker ist ein kleiner Narr, der anders ist als alle anderen. Er ist nicht Kreuz oder Karo, nicht Herz oder Pik. Er ist nicht acht oder neun und nicht König oder Bube. Er steht außerhalb und gehört nicht wirklich zu den anderen. Er steckt im selben Packen wie die anderen Karten, aber er ist dort nicht zu Hause. Deshalb kann er auch entfernt werden, ohne daß irgendwer ihn vermißt."
Sicher wirst du mich vermissen. Das hoffe ich jedenfalls. Erstmal. Aber weißt du, im großen und ganzen wird es nicht auffallen, daß ich nicht mehr da bin. Für mich gab es keine wichtigen Aufgaben im Universum zu erledigen. Ich muß nie die Welt retten, ich bin keine Jungfrau Maria oder Johanna von Orleans. Ich bin nicht der geborene Polizist wie dein Mann oder eine berufene "Heilerin" wie du. Ich habe keinen Sinn, meine Existenz hat keinen Sinn, und das spüre ich mit jedem Atemzug. Und es tut weh. Ich bin eingesperrt in einem nutzlosen Leben, in einem nutzlosen Körper, ohne die Chance, das ändern zu können, bevor meine "Lebenszeit" abgelaufen ist. Das will ich nicht. Ich möchte nicht noch sechzig Jahre oder mehr so "dahinvegetieren". Deshalb habe ich mich dazu entschlossen zu gehen. Freiwillig.
So. Das ist die Wahrheit. Deshalb bin ich heute nicht mehr am Leben und ich kann dir versichern, daß ich jetzt wesentlich glücklicher bin. Irgendwann sehen wir uns sicher wieder. Vielleicht lebst du dann sogar noch. Ich habe fest vor, ins Leben zurückzukehren, wenn meine Zeit gekommen ist, denn ich bin sicher, denen ist einfach ein kleiner Fehler passiert. Sie haben mich zu früh hierher geschickt. Ich war noch nicht soweit. Wir sehen uns bestimmt wieder, denn ich hatte dich sehr gern, und "verwandte Seelen" finden sich immer wieder. Es könnte vielleicht ein paar Jahrhundert dauern, aber ich verspreche, daß ich die Augen offenhalten werde. Also sage ich jetzt nicht lebwohl, sondern auf Wiedersehen und bis bald!
In Liebe,
Deine Tatum
PS: Grüße auch an deinen Mann. Ihr seid wirklich süß zusammen und ich beneide euch. Wahrscheinlich werde ich euch ziemlich vermissen und auch Jamie und Josh. Aber wir sehen uns ja alle wieder, deswegen muß ich mir keine Sorgen machen. T."
Piper weinte noch, als Jez sie morgens fand.
A/N: Ich hoffe wirklich, das ist wenigstens einen kleinen Kommentar wert. Ich glaube, einen wahreren Brief habe ich nie geschrieben. I.
