Fünftes Kapitel ~ Lügen

Nun also ist es geschehen: Ich bin Faramirs Gemahlin.

Anstelle des Königs bekam ich seinen Statthalter. Er wird den König nicht nur in Minas Tirith vertreten müssen, sondern auch in meinem Bett - bald schon, in ein paar Stunden. Der Gedanke daran beginnt ein klein wenig lästig zu werden ...

Er trinkt viel, und er trinkt hastig. Éomer leert mit ihm einen Becher nach dem anderen. Ohne dass mein Bruder es weiß, wird er zu meinem Verbündeten. NUR ZU, IHR BEIDEN! Lasst den Wein durch eure Kehlen rinnen und euch den Verstand darin ersaufen! So wird mein Gatte heut Nacht den Betrug nicht entdecken. Er wird nicht merken, dass er nicht der Erste ist bei der weißen Jungfrau Rohans ...

Oh nein - ich hab kein schlechtes Gewissen! Auch er ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Auch er verbirgt sie gut, seine Geheimnisse, hinter der glatten Maske seines allzu freundlichen Lächelns.

Er glaubt, ich habe endgültig eingesehen, treuherzige Bewunderung für einen Feldherrn mit der echten Liebe zu einem Mann verwechselt zu haben. Er ist überzeugt davon, ich habe mir nur etwas vorgemacht.

Soll er in dem Glauben bleiben - ich weiß es besser. Ich kenne mich, und ich kenne ihn. Er ist derjenige, der hartnäckig die Augen verschließt, sogar vor sich selbst.

Warum wohl hat er damals in Minas Tirith die Einwände seiner hochmütigen Verwandtschaft so lautstark von sich gewiesen? Warum hat er ihre Vorbehalte gegen mich scheinbar so unbekümmert der Lächerlichkeit preisgegeben? - Er fürchtete ihre Einflüsterungen, weil sie der Wahrheit entsprachen. Sie hatten Recht mit dem, was sie von mir sagten: EINE WILDE AUS DEM NORDEN.

Ja, das bin ich. Und ich bin stolz darauf. Wir Eorlingas haben noch Feuer in unseren Adern. Wir brennen gleichermaßen in Hass und Liebe. Er aber, schöner Musik und alten Überlieferungen verfallen, bedarf meiner Größe, um über sich hinauszuwachsen. Was ich damals in den Häusern der Heilung wegen meiner elenden Schwäche nicht wahrzuhaben vermochte, fühle ich heut um so deutlicher: Wär ich nicht die, die ich bin - nämlich diese Wilde aus Rohan - dann wär seine Liebe nur halb so groß. Nie würde er es zugeben, nicht einmal vor sich selbst, und doch ist es so: Seine Wahl wurde bestimmt von Geltungsbedürfnis.

Er, Faramir, gescholtener Sohn des letzten Truchsess', hat die spröde Schildmaid bezwungen. Die Heldin der blutigen Schlacht auf dem Pelennor hat in ihm ihren Meister gefunden. Fürwahr, ein beachtlicher Sieg. Niemand sonst hat dies zuwege gebracht.

Ich bin seine Beute, seine Trophäe. Er zeigt sich gern mit mir, wie schon in Minas Tirith. Oben auf der Stadtmauer küsste er mich zum ersten Mal, drückte mir sein Siegel auf, weithin sichtbar für alle ...

Und jetzt brüstet er sich auch noch vor dem König Gondors, der Narr. Schier platzen möcht er vor Stolz bei Aragorns gönnerhaften Worten: DAS SCHÖNSTE AUS ÉOMERS REICH.

Vernehme nur ich die unverfrorene Herablassung in diesen Worten? DAS Schönste aus Rohan? Warum nicht DIE Schönste aus Rohan? Bin ich für ihn nur ein Ding ... eine Sache ... keine Frau?

Das Blut steigt mir in den Kopf. Wie kann er es wagen, er, der sich in Dunharg hemmungslos nahm, wonach es ihm verlangte. Er, der einer anderen sein Wort gab, und dann die erstbeste Blume am Wegesrand pflückte.

Damit geht er zu weit. Gefährlicher Zorn brodelt in mir hoch, verdunkelt mir die Sinne. Mein Schwert möcht ich packen, ihm durch die Kehle stoßen, seine Dreistigkeit zum Schweigen bringen ... - RUHIG BLUT, ÉOWYN! Diesem Mann wirst du so nicht Herr, nicht mit Waffen aus Stahl ... aber vielleicht mit denen einer Frau ...

Mein Herz pocht wie verrückt, doch jetzt weiß ich, wie ich's ihm heimzahlen kann: Mit holdem Lächeln und sanfter Miene werf ich den Ball zurück an ihn - ein gefährliches Spiel unter den lüsternen Augen trunkener Menschen: Ich schmeichle ihm, heiße ihn Lehnsherrn und Heiler, fordere ihn heraus ... WÜNSCH MIR GLÜCK ...

Er stutzt, der große Herr, er wird unsicher - ich habe es geschafft! Doch was tut er? Er spielt das Spiel mit, reicht mir den Ball mit großmütiger Geste zurück, gütig und wohlwollend: Das Herz sei ihm leicht, da er mich endlich froh sehe - Billige Worte, verlogenes Gefasel! Nur eine weitere Beleidigung in den Ohren einer zurückgewiesenen Frau ...

Da aber gewahre ich etwas in seinem Blick, eine wortlose Botschaft - und eine Welle, heiß und kalt zugleich, überflutet mich. Ich seh genauer hin, und da ist es, in seinen Augen, auch wenn er es zu verbergen sucht: ein heimliches Glimmen - oh, ich kenne es, dieses Brennen hinter seinen halb geschlossenen Lidern ... ich sah es schon einmal, damals in der Hütte, in Dunharg, als wir auf das Lager sanken und seine Glut mich verzehrte - und ein Feuer hinterließ, das kein anderer löschen kann.

Süße Schwäche überkommt mich ... er hat mich nicht vergessen ... trotz dieser Frau, die ihn für alle Zeit ihr Eigen nennen darf ... ER HAT MICH NICHT VERGESSEN!

Mein Bruder merkt von all dem nichts. Für ihn hat sich alles zum Besten gekehrt. Denn mit mir in Minas Tirith wird Cirions Eid erneuert, und Rohans Unabhängigkeit bleibt bestehen, eine winzige grüne Insel der Freiheit inmitten des mächtigen Wiedervereinten Königreiches Elessars ... Die Erleichterung macht ihn blind.

~ ~ ~ ~

Und auch sonst sieht niemand, was geschieht: Nun, wo wir beide an dem Platz sind, der uns zukommt, nun, wo nichts mehr seinen Anspruch auf Gondors Thron gefährden kann - da erwacht des großen Königs Hunger aufs Neue ... Und diesmal ruft er mich, und ich kann es hören, kann es spüren ... dazu bedarf es keiner Augen, keiner Ohren ... sein Blut pocht mit meinem im Einklang unseres Begehrens.

Faramir und Éomer wetteifern derweil in seliger Betrunkenheit um die hoheitsvolle Gunst der geistesabwesenden Königin Gondors, und deren arrogante Sippschaft redet untereinander in einer kunstvoll klingenden Sprache, die keiner an der Tafel versteht. Die anderen ergehen sich grölend und rülpsend in verklärte Erinnerungen an alte, glorreiche Zeiten und ertränken sie in Strömen von Wein.

Keiner achtet auf uns.

Noch während meiner Hochzeitsfeier stehlen wir uns davon. Nacheinander, heimlich, getrieben von einem Verlangen, das an Wahnsinn grenzt, das uns zu vernichten droht ...

Ich empfange ihn in meinem Gemach. Die Dienerschaft ist weg, auch sie feiert, unten, in den Küchen. Er zittert vor Begierde, sein Atem geht schnell, er will mich, jetzt, sofort -

UND ARWEN? frage ich. - Und Faramir? wispert eine Stimme in meinem Kopf.

Verdutzt hält er inne. Seine Miene zeigt Befremden, Bestürzung ... beinah Ärger ...

Trotzdem - ich muss es wissen. Mit der unbeirrbaren Hartnäckigkeit einer Frau, die sich noch immer nicht am Ziele ihrer Wünsche angekommen glaubt, und mit dem kindlichen Vertrauen in wortreiche Beteuerungen frage ich ein weiteres Mal: ARWEN?

Da stößt er ihren Namen heraus - ARWEN! - als würde er erbrechen ...

Ich warte ab ... Was wird er mir jetzt wohl erzählen? Ach, ganz gleich was - wenn er mir nur endlich sagt, dass er mich liebt ...

Er lächelt grimmig. ZWEITAUSENDSIEBENHUNDERTACHTUNDSIEBZIG JAHRE, sagt er nur.

Was redet er da? Hat der Wein auch seine Sinne vernebelt?

Da aber packt er mich plötzlich an den Armen und schüttelt mich, und er schreit: VERSTEHST DU NICHT? SO ALT IST SIE!

Seine Augen lodern, seine Züge sind verzerrt. Er macht mir Angst.

Er muss es gespürt haben, denn der eiserne Griff seiner Hände lockert sich. Er kämpft darum, sich zu beruhigen, seine Fassung wiederzuerlangen. Ein gar eigentümlicher Ausdruck flackert über sein verstörtes Gesicht ... Scham? Furcht? Entsetzen? - nein, doch nicht bei diesem Mann ...

Langsam zieht er mich zu sich heran, so sanft, als wär ich ein Kind, das es zu schützen gilt. Sacht legt er die Arme um mich. Sein warmer Atem streift mein Haar, und fast vermeine ich das harte Pochen seines Herzens zu hören.

... es tut gut, so an seiner Brust zu liegen: ruhig, geborgen, unschuldig ... was kümmern mich die andern ... Faramir, Arwen ... sie sind so fern ... nur ER ist hier, bei mir ... endlich ...

Ein heiseres Stöhnen entringt sich plötzlich seiner Kehle und seine Finger verkrampfen sich in meinem Gewand. Und wieder erklingt seine Stimme, doch nicht laut und zornig wie eben noch, sondern verzweifelt und gepeinigt ... Dass es so sein würde, habe er nicht ahnen können ... all die langen Jahre nicht, die er hatte warten müssen ...

Was denn, mein Liebster? wage ich zu fragen.

Völlig unvermutet beginnt er zu lachen. Es ist ein schreckliches, wahnwitziges Lachen, das mich erschaudern lässt - ist dieser Mann verrückt geworden? Genauso unvermittelt reißt es ab, und in die beklommene Stille hinein fährt er fort mit seinem Bekenntnis, leise und seltsam tonlos ... TOTES FLEISCH IST SIE, hör ich ihn an meinem Ohr flüstern, ES ATMET DEN GERUCH VON FÄULNIS UND VERWESUNG ...

Arwen? - sie, deren Schönheit alle blendet?

Und dann würgt er es hervor, das ganze Gift, das ihn zu ersticken droht, die entsetzliche Erkenntnis, die bis jetzt nicht wahr werden durfte: MIR GRAUST VOR IHREM FLEISCH, ES EKELT MICH AN ...

Welch schreckliches Geständnis aus seinem Munde ... ihm graust vor ihr ... sie ekelt ihn an? Nichts, absolut nichts fällt mir ein, was ich darauf erwidern könnte. Was erwartet er von mir? Mitleid? Trost? Triumph? Doch ich steh nur da, stumm und steif wie eine Strohpuppe, und weiß nichts, außer dass mein Herz nur für ihn schlägt ...

Wie gut, dass Elben die körperliche Liebe verabscheuen ... Er sagt es ganz ruhig. Und danach: SIE WIRD ES NIE ERFAHREN.

Dann lässt er mich los und will sich abwenden. NEIN! GEH NICHT! möcht ich ihm zurufen, doch meine Stimme versagt - zu groß ist der Kummer in seinem Gesicht, zu übermächtig das Durcheinander meiner Gefühle zwischen Erbarmen und Liebe, Verwirrtheit und Hoffnung. Meine Hände aber strecken sich flehentlich nach ihm aus, bekommen ihn zu fassen, halten ihn zurück, und endlich kommt auch ein zarter Hauch über meine Lippen, kaum zu hören ... Bleib bei mir ...

Und Faramir? fragt erneut die boshafte Stimme in meinem Kopf. SEI STILL!

Verräterischer Glanz schimmert in des Königs Augen ... sie versinken in Schmerz und Liebe - ER WEINT! Seine Tränen sind der Sturzbach, der alles hinwegschwemmt, alle Fragen, alle Zweifel, alle Bedenken.

Unsere Blicke treffen sich, verschlingen sich, und für einen Moment steht die Zeit still, und alles, was je gewesen und ewig sein wird zwischen Mann und Frau, offenbart sich mir in einem einzigen stummen Aufschrei. Und dann reißt er mich in seine Arme, und er presst mich an sich, wild und stark, und er raunt leidenschaftliche Worte in mein Ohr, und das, was er sagt, bringt mein Herz zum Jubeln und meine Seele zum Tanzen, und seine Tränen vermischen sich mit meinen ... DU ABER, ÉOWYN, du bist warm und voller Leben, die Sonne Rohans hat dein Haar vergoldet, und deine Haut duftet wie süßer Sommerwind, der über grüne Gräser streicht ...

Und dann sind nur noch wir auf der Welt, allein mit uns und unseren fordernden Körpern, unsere Münder trinken einander wie Verdurstende, auf den Wogen der Lust reiten wir hinauf bis zur schäumenden Gischt, dort, wo das Fieber im heißen Nebel glühender Besinnungslosigkeit zerplatzt ...

~ ~ ~ ~

Schwer atmend kehren wir in die Wirklichkeit zurück. Noch immer sind unsere Leiber ineinander verflochten, klammern wir uns aneinander, zwei verlorene Seelen inmitten einer verdorrten Wüste ...

Sein Haar kitzelt mich in der Nase. Zart streif ich es zur Seite: sein Gesicht möcht ich sehen. Ich bin ganz sicher: diesmal wird es mir zeigen, was ich in Dunharg nicht zu hoffen wagte.

Ich öffne die Augen ...