Sechstes Kapitel ~ Die Betrogenen

... und meine Hand erstarrt in der Bewegung - das Gelocke, welches ich ihm aus dem Gesicht streichen wollte, rutscht mir zögerlich aus den bewegungslosen Fingern ...

FARAMIR STEHT IM TÜRRAHMEN.

Rasch hebt und senkt sich seine Brust, an seinen Schläfen perlen Schweißtropfen. Sein Mund erbebt in wortlosem Begreifen, seine Augen gleichen erloschenen Flammen.

Wie lange mag er da schon verharren ...

Schwer lastet Aragorns Gewicht auf mir. Eine widerspenstige Locke seines Haares tanzt vor meinen Augen, ein groteskes Auf und Ab ... wie hypnotisiert sehe ich, was geschieht, dort an der Tür ... nur ein Betrachter bin ich, unbeteiligter Zaungast eines Schauspiel, das sich in weiter Ferne zuträgt und nichts mit mir zu tun hat ...

... und langsam, unendlich langsam, als wäre es ihm eine furchtbare Anstrengung, zieht Faramir sein Schwert ... - Es ist dieser schaurig metallene, nicht enden wollende Klang von Rache und Tod, der mein Blut gerinnen lässt und mir die Glieder lähmt ...

Auch Aragorn, der erfahrene Krieger, hört das vertraute Geräusch. Er braucht nicht einmal den Kopf zu wenden: aus den Augenwinkeln erkennt er das nahende Unheil.

Und er weiß: Das Recht ist auf Faramirs Seite, klar, eindeutig, erbarmungslos. Nicht einmal ein König darf sich an eines anderen Weib vergreifen. Die Strafe ist der Tod, der Vollstrecker der verratene Ehemann. Dass die Frau mitgerichtet wird, ist selbstverständlich. Ein Gesetz von Männern für Männer.

Ein wahnwitziger Gedanke durchzuckt mich: Wir müssten ihm nur zuvorkommen - wie leicht wär es, ihn, trunken wie er ist, mit einem Schwertstreich niederzustrecken! - und meine Betäubung löst sich. Verzweifelt taste ich nach Aragorns Waffe, die er vorhin achtlos von sich geworfen hat.

Doch meine Hände greifen nur das feuchte, zerwühlte Laken.

ARAGORN! will ich rufen, DEIN SCHWERT! Meine Kehle aber ist ausgedörrt, und die Worte bleiben mir im Halse stecken.

Aragorn jedoch sieht mich nur an ... wie in Dunharg, wo er mir schon einmal Zugang zu seinem Herzen gewährte. Und wie damals erkenne ich seine ganze Qual - und doch so vieles mehr diesmal. Nicht mir gilt sein Schmerz, auch nicht ihm selbst, sondern der bemitleidenswerten Zerrissenheit eines Betrügers, der selbst betrogen wurde. Ach, ich spüre sie jetzt so deutlich, die grausame Wahrheit, als formte sein Mund die Worte: Das Glück seines Lebens, es ist dahin, für alle Zeit. Es liegt auf dem Grunde eines morastigen Tümpels, erstickt vom Sumpf schrecklicher Geheimnisse und übler Täuschungen. Und ich lese es in seinen Augen, diesen düsteren Spiegeln seiner verwundeten Seele: Nein, er wird sich nicht verteidigen, er wird sein Schwert nicht erheben, er wird sein Leben nicht mit dem Faramirs erkaufen, und meines ebenso wenig. Denn diesen Kampf hat er bereits verloren, und ganz gleich, was immer er auch tun würde - nichts, aber auch gar nichts brächte ihm je seine Ehre zurück und die stille Freude vergangener Tage, als noch unschuldige Erwartung in seinem Herzen brannte.

Der strahlende Elessar - ein schmutziger Ehebrecher. Ein Mörder will er nicht auch noch werden.

Es ist aus.

Mit unendlicher Zartheit umfasst er mein Gesicht und birgt es behutsam an seiner Brust, als wolle er mir den Anblick des Unvermeidlichen ersparen. Ergeben, fast demütig, senkt er den Kopf in Erwartung des tödlichen Schlages ...

... und die Zeit bleibt stehen ... dehnt sich ins Unermessliche, und hinter meinen geschlossenen Lidern vereinen sich all meine ungeweinten Tränen und all meine unausgesprochene Liebe zu einer brausenden Flut, zu einem einzigen, berauschenden Gedanken: NUN ALSO STERBE ICH, HERZ AN HERZ, MIT IHM ... ach! - wie süß es ist, dies Ende bereitet zu bekommen, wie tröstlich, hinüberzugleiten ins ewige Dunkel, für immer geborgen in den Armen des Geliebten ... Selige Ruhe umfängt mich ...

Da - ein lautes Klirren auf dem steinernen Boden, scheppernd und hohl ... das Schwert! - es muss ihm aus der Hand geglitten sein ... Sein hohes Singen klingt noch lange nach ...

Stille.

Nur das laute Pochen meines Herzens dröhnt durch die Atemlosigkeit ...

Ein Zittern fällt mich an ... er spielt mit uns, lässt sich Zeit, weidet sich an dem namenlosen Entsetzen, das er hinter unserer Erstarrung vermutet ... Sicher bückt er sich gleich, um erneut die Waffe zu greifen ... oder umklammert er gar schon den kurzen Dolch, bereit zum Stoß?

Oh nein, nicht so, mein Herr Gemahl! Zu einfach wär es, die Klinge zu versenken, ohne ins Gesicht des Opfers zu sehen, das Erschrecken, die Qual, das langsame Erlöschen ... Du sollst zumindest MIR ins Auge blicken müssen, wenn durch deine Hand die rechte Strafe mich ereilt, nachdem du den Rivalen von hinten erstochen hast. SIEH, WIE EINE WAHRE EORLINGA STIRBT - stolzen Herzens, ungebrochenen Mutes!

Aragorns Haare verschleiern mir die Sicht, doch entschlossen schieb ich sie beiseite - Ich bin bereit! - und über seine Schulter hinweg sehe ich ...

... Faramir, der sich abgewandt hat ... ohne Schwert, den Dolch im Gürtel. Seine Rechte hängt leer nach unten, und auf dem kalten Boden schweigt das Schwert, makellos in mattem Glanz, betrogen um die gerechte Vergeltung.

FARAMIR! - es ist nur ein Krächzen, ein fassungsloses Nichtverstehen, wieso er nicht tut, was jedermann für gut und richtig heißen würde, was jedermann von ihm erwarten würde - wieso er uns vorenthält, was uns zusteht, was wir verdienen ...

Da dreht er sich noch einmal um, und sieht mich an, mit Augen gleich schwarzen Punkten in einem Gesicht grau wie Stein, leblos, tot. So viel Trostlosigkeit ist darin, so viel Leid und Elend, und ach! - so viel Liebe, dass ich weinen möcht mit ihm, um das, was er und ich verloren und dabei nie besessen haben.

Doch Tränen werden seinen Schmerz nicht lindern. Nie wird er verzeihen. Wie könnte er auch? Für alle Zeit wird er dies Bild mit sich tragen, als unauslöschliches Brandmal, und erst sein Tod wird gnädig ihm Vergessen schenken. Und da werden meine Wangen nass, und mein Herz so schwer, dass es zu zerspringen droht in meiner Brust. Und eine dunkle Ahnung senkt sich herab und schwillt an zur vernichtenden Gewissheit: Weder Sühne noch Reue wird meine Schuld je mindern.

Nein - er tötet uns nicht. Nicht seinen König, der ihn verraten hat. Nicht dessen Hure, die er vor wenigen Stunden geehelicht hat. Er wird uns auch nicht öffentlich anprangern und sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben. Seine Strafe wirkt im Geheimen und deshalb umso unerbittlicher: Er lässt uns leben mit der Schande - und dem Wissen um eine hoffnungslose Zukunft.

Er geht.

~ ~ ~ ~ Ende ~ ~ ~ ~