EIN BUND FÜRS LEBEN

2. Kapitel: Schicksalhafte Veränderung

Doch bevor er ihn traf, sprang irgendetwas vor ihn hin und deckte ihn.

„NEEEIIIIN!", schrie dieses etwas und wurde von dem Blitz in die Brust getroffen. Harry öffnete die Augen und sah, wie eine engelsgleiche Gestalt, scheinbar in Zeitlupe ganz langsam vor ihm zu Boden sank. Harry spürte, wie ihm ein stechender Schmerz in die Brust fuhr, der ihm den Atem nahm.

Die Gestalt trug zwar einen dunklen Todessermantel, doch die Kapuze war heruntergefallen und man sah die halblangen hellblonden, fast silbernen Haare. Die gesamte Gestalt strahlte, als ob ein Licht von ihr ausgehen würde. Harry sank wie betäubt auf den Boden und drehte die zusammengekrümmte Gestalt zu sich herum. Geöffnete Augen starrten ihn leblos an, Augen, in denen das silberne Feuer erloschen war. Aus dem halb geöffneten Mund lief ein Blutrinnsal hervor. Das Leuchten ließ nach und zurück blieb nur ein unbeweglicher Körper.

„Malfoy?", flüsterte Harry. Er strich unbewusst mit seiner Hand durch die Haare und zupfte das Gras und die Erde heraus. Harry war wie betäubt, er konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Sieh mal an, Harry Potter, schon wieder ist ein Mensch für dich gestorben! Na, wie fühlt sich das an, dass alle, die dich beschützen wollen, dabei sterben?"Voldemort lachte höhnisch. „Sogar die unwahrscheinlichste Person, ein scheinbar loyaler Anhänger von mir, wollte dich beschützen. Wie dumm, dass es nichts nützt."

Er hob den Zauberstab und wollte wieder die tödlichen Worte aussprechen, als auf einmal Dutzende von Zauberer apparierten: sie waren vom Orden des Phönix. Da sie zahlenmäßig den Todessern überlegen waren, und keine Chance auf Sieg ohne Verluste bestand, rief Voldemort zum Rückzug und nach einigen hin – und herschwirrenden Flüchen war die Höhle von allen Anhängern des Dunklen Lords verlassen worden.

Lupin rannte auf Harry zu, der noch immer reglos dasaß, mit Dracos Kopf auf seinem Schoß. Harry bemerkte nichts von dem, was um ihn hervorging, er stand unter Schock. So bemerkte er auch nicht, wie er zurückgebracht wurde nach Hogwarts, und er sah nicht, wie die anderen vergeblich versuchten, ein Lebenszeichen in Draco Malfoy zu finden. Harry saß nur auf seinem Bett in der Krankenstation und verschloss sich vor allem.

Man hatte Draco auf ein anderes Bett in der Krankenstation gelegt und ihn für die Beerdigung mit einem Zauber belegt. Mitten in der Nacht stand Harry auf und ging hinüber. Er beugte sich über den Leichnam und strich mit seiner Hand vorsichtig über die Haare.

Sein Blick wanderte über die nun geschlossenen Augen, die sich nie wieder öffnen würden, über Dracos Gesicht, dass jetzt so ruhig wirkte, friedlich, ohne ein höhnisches Grinsen. Weiter ging der Blick zu Dracos Mund, der nun fast so wirkte, als würde ein kleines Lächeln auf ihm liegen, und der nicht wie früher Beleidigungen ausspie. Draco hatte jetzt seine normale Schuluniform an, in der er beerdigt werden würde.

Harrys Blick glitt zu Dracos Armen, die über seiner Brust lagen. Er zog ganz vorsichtig den Ärmel des linken Armes hoch und blickte auf das Dunkle Mal, das bewies, dass Draco ein Todesser gewesen war.

Da hörte Harry hinter sich ein Geräusch und als er sich umdrehte, sah er Albus Dumbledore mit einem traurigen Lächeln hinter sich stehen.

„Ja Harry, Draco war ein Todesser, schon seit dem fünften Schuljahr. Ich habe es auch jetzt erst erfahren. Nie hätte ich gedacht, dass Voldemort sogar schon Jugendliche für seine Zwecke einspannt! Aber du darfst das nicht falsch verstehen, Harry!"

Dumbledore schien nachzudenken, bevor er fortfuhr: „Ich bekomme seit über einem Jahr Hinweise von einem Spion, wie du weißt. Allerdings, und das wird für dich neu sein, hatte ich nie eine Ahnung, wer das sein könnte. Nicht einmal Professor Snape konnte das herausfinden. Wer hätte auch gedacht, dass der scheinbar Voldemort gegenüber so loyal stehende Draco Malfoy der Spion ist."

Dumbledore ging zu Harry und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Er war sehr tapfer und er muss an dich geglaubt haben, sonst würde doch ausgerechnet er, dein erklärter Rivale, nicht für dich in den Tod gehen."

Harry sah ihm nicht in die Augen. „Harry, du darfst dich jetzt nicht zurückziehen, du musst weitermachen, sonst wäre sein Opfer sinnlos geworden. Beinahe hätte sich die Prophezeiung erfüllt, zu deinem und unser aller Nachteil!"

Harry drehte sich um zum Bett, auf dem Malfoy lag. Er sah ihn an und legte den Arm wieder zurück in die friedliche Pose. Daraufhin drehte er sich einfach um und setzte sich wieder auf sein Bett. Dumbledore seufzte tief auf. „Ich wünsche dir trotzdem eine gute Nacht,"sagte er und verließ die Krankenstation.

Harry musste trocken lachen. Es klang sehr seltsam. Eine gute Nacht, die hatte er seit Cedrics Tod nicht mehr und schon recht nicht mehr, seit Sirius wegen ihm gestorben war. Voldemort hatte recht, alle starben immer für ihn, und wofür? Dafür, dass er nicht einmal den Todesfluch mit der erforderlichen Macht und Kraft aussprechen konnte!

Wenn ihn die schrecklichen Visionen über Voldemorts gegenwärtige Machenschaften in Ruhe ließen, hatte er Alpträume über all die schrecklichen Erlebnisse in seinem bisher so kurzen Leben. Am Anfang hatte er Ron und Hermine alles erzählt, aber sie konnten ihm ja nicht helfen. Als er ihre mitleidigen Blicke nicht mehr ertragen konnte und befürchtete, irgendeinmal würden sie ihn genervt anblicken, hatte er jede Nacht einen Schweigezauber um sein Bett gesprochen und nie mehr von seinen Erlebnissen in der Nacht erzählt, auch nicht Dumbledore. Da die Visionen nie die Zukunft, sondern die Gegenwart betrafen, konnte Harry nichts tun, denn alles war ja schon geschehen.

Seit dem Tod von Draco Malfoy sprach Harry kein Wort mehr, mit niemanden. Er starrte nur den ganzen Tag apathisch an die Decke und bemerkte nicht einmal, wie Draco beerdigt wurde. Da Draco ein Schüler von Hogwarts gewesen war und seine Eltern seit seinem Verrat nichts mehr mit ihm zu tun haben wollten, hatte Dumbledore die Erlaubnis gegeben, ihn auf dem Schulgelände zu bestatten. In dem Rosengarten hatte er nun sein Grab.

Rückblick Ende

Harry fühlte sich von Tag zu Tag irgendwie schwächer. Nicht körperlich, irgendwie, er konnte es nicht beschreiben, vielleicht seelisch, geistig? Er hatte das Gefühl, dass er Stück für Stück sich selbst entglitt, das Stück für Stück in eine andere Sphäre schwebte. Er spürte, dass ihm allmählich alles auf dieser Welt gleichgültig wurde, selbst der Terror von Voldemort.

Hatte er schon zuviel Schreckliches gesehen und war dadurch abgestumpft? fragte sich der Junge, der lebt, immer wieder. Oder war es eher so, dass er fühlte, dass diese Welt nicht mehr seine Welt war? Harry fühlte sich, als ob er auf etwas warten würde, dass irgendetwas Spezielles geschehen würde! Aber was?

Harry legte sich wieder hin und schloss die Augen. Er fühlte es mit jeder Faser seines Körpers, dass irgendetwas bald passieren würde, der Gedanke aber erfüllte ihn mit Glück. Harry wusste, er konnte es niemanden erzählen, alle würden sich nur Sorgen machen und ihn bemuttern. Doch diese Sehnsucht verließ ihn nicht.

TBC