Kapitel 10

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...und gestohlen...

Kapitel 10

Was war das für ein Licht? Unbarmherzig strahlte es ihr ins Gesicht. Wo war sie eigentlich? Vorsichtig öffnete Mel die Augen, kniff sie jedoch gleich wieder zusammen. So hell... zu schmerzhaft hell war es für sie. Ihre Finger klammerten sich an das leichte, über sie gebreitete Laken. Bedächtig versuchte sich das Mädchen aufzusetzen, das Vorhaben scheiterte jedoch, abermals drohte ihr Umfeld in Dunkelheit zu verschwinden und die Kopfschmerzen, die sie bisher nur am Rande wahrgenommen hatte, drängten sich mit jeder Bewegung mehr an die Oberfläche ihres Bewusstseins.

Ein sanfter Windhauch raschelte im Blättervorhang vor dem Balkon, ließ eine vorwitzige Haarsträhne über das Gesicht des Mädchens tänzeln. Unwillkürlich legte sie ihre Stirn in Falten, während sie weiter nachdachte, das beständige Pochen hinter ihrer Stirn ignorierend. Was war geschehen?

Kurze Szenen blitzten nach und nach in wirrer Reihenfolge in ihrem Gedächtnis auf - Nicole, wie sie am Küchentisch saß, Legolas, der vor ihren Augen verschwamm, wie sie alle wieder aus der Stadt zurückkamen, wieder diese Versammlung und dann dieses blendend helle Licht... Seufzend massierte die 18-jährige ihre Schläfen.

Nein, das war sinnlos. Sie fühlte sich wie nach einer durchzechten Nacht, nur mit dem Unterschied, dass ihre Kopfschmerzen wahrscheinlich selbst nach einer Aspirin nicht verschwinden würden. Ein leichtes Lächeln umspielte für einen Augenblick die Lippen des Mädchens, ehe ihre Gedanken wieder zu ihren Freunden wanderten. Wo sie wohl waren? Ob sie sich momentan in derselben Situation befanden wie sie, sich an nichts mehr wirklich erinnern konnten, was unmittelbar vor ihrer Ohnmacht geschehen war?

„Ob es ihnen wohl gut geht?" Der laut ausgesprochene Gedanke Mels verhallte im Raum. „Ihr braucht Euch nicht um Eure Freunde zu sorgen." Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen als eine unbekannte Stimme ihr Antwort gab. „Wer ist da?" Panisch suchte sie mit ihren Blicken das Gemach nach dem Besitzer der Stimme ab. Fehlanzeige. „Sie sind wohlauf", fuhr diese unbeirrt fort.

Wieder ließ ein Windstoß den Vorhang flattern und lenkte die Aufmerksamkeit des Schwarzschopfes auf sich. Die so kunstvoll ineinander verflochtenen Blätterranken schienen die einzige Abgrenzung zum Balkon zu sein... Ein weiteres Mal bewegte sich der Teppich aus den ihr unbekannten Gewächsen, wehte leicht zur Seite und offenbarte ein Paar feingearbeitete Stiefel aus dunklem Leder. Wer war die Person, die sie trug?

„Zeigen Sie sich!" Mel konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme ein wenig zitterte. Ein leises Lachen war zu vernehmen, der Vorhang wurde nun vollends zur Seite geschoben und eine Gestalt trat ein.

Das Gesicht kam ihr seltsam bekannt vor... hatte sie ihn schon mal irgendwo gesehen? Diese verdammten Kopfschmerzen... „Ist Euch nicht gut?", fragte die Gestalt, als das Mädchen sich an den Kopf fasste und die Stirn runzelte. Sie blickte auf, versuchte zu lächeln. „Nein, nein... ist schon in Ordnung... Aber warum sind Sie eigentlich hier?" „Ich war neugierig...", antwortete der junge Mann bedächtig, „Verzeiht, sollte ich Euch damit zu nahe getreten sein..."

Mel lächelte nur und schüttelte leicht den Kopf, ehe sie abermals das Laken entschlossen beiseite schlug und sich aus dem Bett schwang. Schon wollte sich ein triumphierendes Grinsen auf ihre Gesichtszüge legen, als der Schwindel sie wieder in die Knie zwang.

„So eine verdammte...", murmelte das Mädchen mit geschlossenen Augen vor sich hin, ehe sie tief durchatmete und erneut ansetzte sich zu erheben, hielt jedoch inne, als die Stimme ihres Gegenüber ertönte. „Glaubt Ihr wirklich, dass Ihr es diesmal schaffen werdet? Ihr seid noch zu schwach." „Na und? Schwäche hin oder her, ich kann es nicht ertragen, länger tatenlos herumzuliegen!" „Ihr seid ein Mensch... ruht noch ein wenig. Ich werde Euch eine Zofe schicken, die Euch behilflich sein kann", antwortete der junge Mann und wandte sich zur Tür, sodass Mel seine spitzen Ohren auffielen. Gehörte er etwa dem selben Volk an wie Legolas?

„Warten Sie!", rief sie ihm hinterher. Er stoppte, drehte sich um. „Wie ist Ihr Name?" Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Man nennt mich Lanthir", antwortete er, ehe er die Tür leise hinter sich schloss.

Lautlosen Schrittes eilte der Elb durch den Palast. Es stimmte, er war neugierig gewesen, was die beiden Fremden anbetraf, doch nicht die Neugier allein war es, die ihn dazu getrieben hatte, die Schwarzhaarige vom Balkon aus zu beobachten. Obgleich die beiden nicht mehr als gewöhnliche Menschenmädchen zu sein schienen, hatten sie sein Misstrauen erweckt. Zu seltsam war die Kleidung, die sie trugen oder auch die Art und Weise, wie sie sich ausdrückten. Was war dies für eine Welt gewesen, in die Legolas und der Zwerg gesandt wurden? Ob wohl alle so aussahen und handelten wie die Fremden?

Lanthir beschloss seinen Freund demnächst darüber auszufragen. Weiter und weiter ging er, tief in Gedanken versunken, nicht auf seine Schritte achtend. Der Hauptmann stutzte, als leises Gelächter an seine Ohren drang. Seine Füße schienen ihn zum Dienstbotentrakt des Palasts geführt zu haben.

Er erinnerte sich an sein Versprechen, dem rätselhaften Mädchen eine Zofe zu schicken. Kurzentschlossen öffnete er eine der unzähligen Türen, hinter der sich tatsächlich der Aufenthaltsraum der Bediensteten des goldenen Waldes befand. Die gemurmelten Gespräche und das Gelächter verstummten, als er das Zimmer betrat.

„Mein Herr..." Eines der Dienstmädchen fand als erstes ihre Stimme wieder, Lanthir erkannte sie, es war diejenige, die ihm gestern die Nachricht Galadriels überbracht hatte. „Verzeiht meine Frage... doch normalerweise kommen niemals Gäste in diesen Teil des Palastes... Ist etwas nicht zu Eurer Zufriedenheit?" „Nein, die Gastfreundschaft, die man ihm goldenen Wald gewährt, ist wahrlich kaum zu übertreffen", beschwichtigte Lanthir und ihm schien, als wäre ein erleichtertes Lächeln über die Gesichter der Anwesenden gehuscht. „Dennoch verlangt eines der fremden Mädchen aufzustehen und ich versprach ihr, dass ihr jemand behilflich sein wird."

Die junge Elbin ihm gegenüber nickte. „Wie Ihr wünscht, Herr." Sie verneigte sich, ebenso wie alle anderen, ehe der Hauptmann den Raum verließ.

Gelangweilt betrachtete Mel die ineinander verflochtenen Äste und Ranken über sich, die wohl die Decke bilden sollten. Was war dies hier nur für ein Ort?

Unwillkürlich tauchte das Bild ihres Baumhauses, welches sie in ihren Kindertagen gebaut hatte, vor ihrem inneren Auge auf. Wie lange war das schon her? Sie lächelte. Zehn Jahre mindestens...

Ein leises Klopfen ließ diese Gedankenwelt verblassen, holte das Mädchen wieder in die Realität zurück. War dies hier eigentlich die Wirklichkeit? Diese wundersame Welt... Konnte es sein, dass sie gleich aufwachte, es nur ein Traum war, der mit der Zeit in Vergessenheit geriet, wie so viele andere? Abermals ertönte das Klopfen, ein wenig kräftiger als zuvor. Und wenn sie Realität war, kein Traum – was war dann ihre eigene Welt, in der sie bisher gelebt hatte? Eine Art „Matrix"? Oder ebenso wirklich wie diese?

„Mylady...?" Erneutes Klopfen. „Ähm... Herein?", rief Mel, immer noch in Gedanken versunken. Die Tür öffnete sich und eine spitzohrige Frau, gekleidet in einem eher einfachen Gewand, trat ein. „Mein Name ist Eiliant... Man sagte mir, Ihr wolltet Euch erheben..."

Sie verneigte sich. „Schon...", antwortete das Mädchen, etwas irritiert über das Verhalten ihres Gegenübers. „Habe mir gedacht, dass ich mich hier vielleicht etwas umsehen könnte... oder auch die anderen besuchen... wenn ich nur in der Lage wäre, aufzustehen!" Missmutig ließ sie sich zurück in die Kissen fallen. „Euer Sturz bereitet Euch noch Schmerzen, nicht wahr?" Mel nickte und die Elbin holte ein kleines Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit hervor.

„Trinkt dies, dann solltet Ihr Euch besser fühlen!" Zögernd nahm die Schwarzhaarige das Gefäß in die Hand, setzte es an die Lippen. Ein intensiver Duft von Kräutern stieg in ihre Nase, sie trank und während der Inhalt der Flasche noch ihren Rachen hinab strömte, durchflutete sie ein angenehm warmes Gefühl, die Schwere ihrer Glieder und die Kopfschmerzen verschwanden, als seien sie nie dagewesen.

Verwundert setzte sich das Mädchen erst auf, erhob sich schließlich ganz, doch keinerlei Beschwerden zwangen sie wieder, sich hinzulegen. „Was... Was war das für ein Zeug?" Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als fürchtete sie, dem Boden mit ihren bloßen Schritten Schaden zuzufügen. „Eine Mixtur aus verschiedenen Heilkräutern", gab die melodiöse Stimme Eiliants zur Antwort. „Wir nennen sie Nestadrin. Wenn man sie auf offene Wunden aufträgt, werden diese schneller verheilen und sie lindert unter anderem die Beschwerden einer Ohnmacht."

Die Zofe schwieg einen Moment, glitt dann lautlosen Schrittes an Mel vorbei und öffnete eine Tür, gleich neben dem Bett. Neugierig folgte ihr die 18-jährige und betrat den Raum, aufsteigender Wasserdampf vernebelte ihr jedoch die Sicht. „Ich habe Euch ein Bad bereiten lassen, falls Ihr den Wunsch hegt, Euch zu säubern", Das Mädchen zuckte zusammen als sie die Stimme der Elbin plötzlich hinter sich vernehmen konnte. Hatte sie nicht vor ihr den Raum betreten? „Dankeschön..." „Wenn Euch etwas fehlt, dann ruft nach mir." Ein kurzes Lächeln glitt über Eiliants feine Gesichtszüge, ehe sie das Zimmer verließ.

Schnell entledigte sich Mel des Nachthemdes, das sie die Zeit über getragen hatte und begab sich in den Waschzuber. Leise seufzend schloss sie die Augen. Wann hatte sie wohl zuletzt ein heißes Bad genossen? Allzu lange war es sicherlich nicht her, doch ihr schien, es seien Jahre vergangen, seitdem sie sich das letzte Mal so entspannen konnte. Das Wasser umspielte ihren Körper und schien mit dem Schmutz ebenso die Sorgen der letzten Tage fortzuspülen – zumindest für eine kurze Zeit. Doch irgendwann erkaltete selbst es, der heiße Dampf war schon lange verflogen, als sich das Mädchen entschied, den Zuber zu verlassen.

Rasch trocknete sie sich mit einem der bereitgestellten Tücher ab, wickelte es sich um den Körper und schritt in ihr Gemach zurück, blickte sich um. Eiliant hatte noch ihr Bett gemacht, ehe sie gegangen war, doch von irgendwelchen Kleidern fand Mel nach wie vor keine Spur. Wunderbar. Sie konnte ja wohl schlecht nur mit diesem Handtuch rausgehen und auch das Nachthemd schien ein eher unpassender Aufzug zu sein...

Abermals suchte sie mit ihren Blicken den Raum ab und diesmal fiel ihr ein großer hölzerner Schrank ins Auge. Aber natürlich... „Perfekt kombiniert, Watson", murmelte sich das Mädchen in einem leicht ironischen Tonfall zu, als sie die Türen öffnete und eine ganze Reihe Kleider zum Vorschein kam.

„Hmmm... nein, das ist zu festlich... zu klein ... zu rosa ... Hilfe, wie soll man DAS anziehen? ... Bewegungsfähigkeit gleich null..." Letztendlich fand sie doch noch eines, was einigermaßen in ihre Vorstellungen passte. Leicht verträumt ließ die 18-jährige ihre Hand über den seidigen Stoff gleiten, ehe sie das Stück mit leisem Rascheln aus dem Schrank herausnahm. Im Gegensatz zu den anderen Kleidern war es eher schlicht gehalten, keine großartigen Muster rankten sich auf den Trompetenärmeln, einzig der Ausschnitt war mit einer goldfarbenen Borte verziert. Dennoch dauerte es einige Zeit, bis Mel endlich herausgefunden hatte, wie man es richtig anzog, ohne dass der lindgrüne Stoff nachher in allen möglichen und unmöglichen Variationen verdreht war.

Ein wenig kritisch betrachtete sich das Mädchen nach der Prozedur im Spiegel. Ihre halblangen Haare standen immer noch in alle Richtungen an, was ihrer sonst mehr edlen Erscheinung einen Dämpfer versetzte. Wo war bloß das Haargel, wenn man es mal brauchte?!

Egal, viel konnte sie ohnehin nicht an ihrer Frisur ändern.

„Na dann wollen wir mal", murmelte Mel zu sich selbst, ehe sie entschlossen die Tür ihres Gemachs aufstieß und auf den leeren Gang hinaustrat. Kurz blieb sie stehen. Wo lang jetzt? Sie entschied sich, erst einmal weiter dem Korridor zu folgen, bevor sie sich die Treppe hinabwagte.

Sie hatte schon lange aufgehört, die Verzweigungen zu zählen, an denen sie vorbeikam, als sie erneut um eine Ecke bog. Wo war sie jetzt schon wieder gelandet?!? Ein wunderschöner Innenhof tat sich vor ihr auf, eine riesige Plattform zwischen zwei Astgabeln. Unzählige weitere Brücken führten in dieser luftigen Höhe zu weiteren Talans, Treppen rankten sich wie wildes Efeu an den mächtigen Baumstämmen hinunter zur Erde, wo Mel von hier aus kleine Gestalten ausmachen konnte, die geschäftig auf dem Marktplatz zu Fuße eines naheliegenden Baumes herumwuselten. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich diese wundersame Welt vom Boden aus anzusehen... . Leise seufzend wandte sie sich um, um über die eben gekommene Brück wieder zurück zu dem Teil des Palasts zu gehen, aus dem sie gekommen war, doch stieß das Mädchen mit jemanden zusammen und fand sich – wie ihr Gegenüber – auf dem Boden wieder.

„Tschuldigung...", murmelte die 18-jährige mit gesenkten Kopf, als sie wieder aufstand, kurz über ihr Kleid strich und weiter gehen wollte, doch ein lautes „Mel!"und eine feste Umarmung hielten sie davon ab.

„Mensch, wo warst du denn, ich hab dich überall gesucht! Hast du eine Ahnung wo..." „Da scheint es dir nicht anders zu gehen als mir", unterbrach die Angesprochene ihre Freundin. „ Ich versuche schon seit wer weiß wie lange hier runter zu kommen... keine Chance, das Teil hier ist das reinste Labyrinth!"

„Hab ich auch schon gemerkt!", lachte nun auch Nicole und strich über den Rock ihres Kleides. Es war Mels ähnlich, ein eher schlichtes Stück mit so viel Bewegungsfreiheit, wie es ein Kleidungsstück wie dieses möglich machte – maximale Schrittlänge ein halber Meter. Langsam begaben sich die beiden Mädchen zu einer Art Bank – doch anscheinend nicht langsam genug, zumindest was Nicole betraf. Sie stolperte über den Saum des hellen Stoffs und fand sich prompt abermals auf dem Boden wieder.

„Verdammte Kleider...", grummelte sie vor sich hin, während sie sich wieder aufrappelte. „Ich schwöre dir, irgendwann zerfetze ich diese Mistdinger und verbrenne die Reste auf dem Scheiterhaufen... sowas von unpraktisch..." „Wenn du nackt durch die Gegend rennen willst, lass dich von mir nicht aufhalten", entgegnete Mel und ein schiefes Grinsen zierte das Gesicht ihrer Freundin. „Ich fliege glaub ich doch lieber auf die Schnauze... aber mal was anderes – wie kommen wir jetzt eigentlich hier runter?"

Wieder erhob sich die 16-jährige und schritt – diesmal bedeutend langsamer – auf den Rand der Plattform zu. „Springen?", rief Mel ihr zu. „Knochen brechen tut doch immer wieder gut, nicht wahr?" Die Braunhaarige streckte ihr die Zunge heraus. „Du mich auch, weißt du?" „Ja, Schatz, ich hab dich auch lieb!", schallte es von ihrer Freundin zurück.

Nicole beschloss, es zu ignorieren und versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Plattformen, Brücken, einige Treppen, wohin man sah – hatte sie eigentlich schon Plattformen erwähnt? Man könnte sich ja tarzanlike an den Blätterranken herumschwingen... nein, nicht in diesem Kleid. Das konnte ja nur schief gehen...

„Willst du da noch länger stehen?" Entnervt drehte sich das Mädchen zu der 18-jährigen um, die sich mittlerweile wieder auf der Mitte einer Brücke befand. „Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden...", sagte Mel und deutete an einen Baumstamm einige Fletts weiter. „Dort geht eine Treppe runter!"

„Hier gehen eine Menge Treppen runter, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest", entgegnete Nicole mittlerweile leicht genervt. Mel zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß zumindest, wie man zu dem Teil hin und somit auf den Boden kommt, aber wenn du weiter von hier aus die Gegend betrachten willst – jedem das Seine."

Sie wandte sich um, machte demonstrativ einige Schritte in die zuvor gedeutete Richtung und ein Grinsen zog über ihre Gesichtszüge, als sie die Hand der Braunhaarigen wie erwartet auf ihrer Schulter spürte.

„So hat sich die ehrenwerte Lady doch entschlossen, auf den Rat einer Kreatur namens ‚beste Freundin' zu hören?" Nicole knuffte ihr gespielt beleidigt in die Seite, doch Mel lachte nur, hakte sich bei der 16-jährigen unter und folgte der Brücke, die sie zur Treppe führen würde.

Die warmen Strahlen der Sonne durchbrachen das Blätterdach der Baumstadt, Licht wechselte sich ab mit Schattenspiel und ließ die so kunstvoll von Elbenhand geschaffenen Bauwerke noch faszinierender erscheinen. Hier schien eine Brücke aus einem Ast heraus zu wachsen, dichte verflochtene Blätterranken wurden zu Wänden und Vorhängen und dort, wo sich die mächtigen Äste teilten, waren unzählige Plattformen entstanden, keine der anderen gleich.

Die Stadt schien aus der Natur erwachsen zu sein, war ein Teil von ihr. Mel fühlte sich ein wenig wie Alice im Wunderland, als sie mit verträumten Blick ihre Umwelt betrachtete. Alles schien so unwirklich, so fremd und zugleich doch so wundersam zu sein – eine Welt von solch Perfektion und Magie hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht erschaffen können. Und überall Elben... Irgendwie bedauerte sie es, dass es in ihrer Dimension keine solch vollkommenen Wesen gab, keine Orte, die so in Einklang mit der Natur schienen wie dieser hier.

Ein trauriges Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Menschen hätten einen Ort wie diesen wohl zerstört, ohne seine einzigartige Schönheit überhaupt richtig wahrzunehmen... .

Das Mädchen beschleunigte ihren Gang, um mit Nicole Schritt halten zu können. Der Wind strich über ihr Gesicht, blies eine lose Haarsträhne nach hinten und legte ein rundes Ohr frei. Vielleicht wurden sie beide deswegen ein wenig seltsam angesehen. Nicht unfreundlich, jedoch mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen, zumindest empfand sie es so.

Waren die Menschen dieser Welt ebenso wie die der ihren? Ebenso hektisch, darauf bedacht möglichst viel in der kurzen Zeitspanne, die ihnen verblieb, zu erledigen? Ob dies wohl der letzte Platz war, wo die Zeit keine Rolle zu spielen schien, einfach alles seinen Lauf nahm?

„Ich glaube, wir haben gefunden, was wir suchen!" Nicoles Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Der Marktplatz vor ihnen war mit allerlei Gestalten bevölkert, Händlern, die lautstark ihre Ware anpriesen, Dienstmädchen mit Körben in den Händen, Kinder, die zwischen den Erwachsenen herumtollten, fangen oder verstecken spielten – und dennoch nahm diese Lebhaftigkeit nichts von dem geheimnisvollen Zauber der Baumstadt, war ein Teil von ihr wie der Wind, der in den Blättern säuselte und seine Geschichte zu erzählen schien – hörte man ihm nur genug zu.

Zögernden Schrittes folgte die 18-jährige ihrer Freundin, die sie einfach bei der Hand nahm und durch das geschäftige Treiben zog. Nicole bestaunte die Vielfalt der Stände, versuchte einige Worte mit den Händlern zu wechseln, welche auf ihre neugierigen Fragen jedoch nur verständnislos den Kopf schüttelten und mit einem seltsamen Singsang antworteten.

Ob das dieses Sindarin war, von dem Legolas gesprochen hatte? Die Sprache, obgleich den Mädchen unbekannt, war geschmeidiger und harmonischer als alles, was sie bisher gehört hatten. Selbst die Stimme einer Mutter, die ihr Kind schalt, schien anstatt einer Strafpredigt ein Lied zu singen, einzig die Reaktion des Kleinen machte bemerkbar, dass es anscheinend nicht so war.

Abermals ging Nicole auf einen der Händler zu, diesmal derjenige, der eine Art Obststand betrieb. Viele Früchte kamen ihr bekannt vor, einige jedoch hatte sie noch nie zuvor gesehen. Ihr Magen grummelte leise vor sich hin. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Sie wusste es nicht, doch es schien lange her, zu lange für ihren Geschmack. Entschlossen trat sie auf den Verkäufer zu.

„Entschuldigen Sie, doch was verlangen Sie für einen dieser Äpfel?" Die 16-jährige deutete auf die Frucht, der Händler jedoch antwortete im selben unverständlichen Singsang wie alle anderen zuvor. Nicole verdrehte die Augen, ehe sie nochmals das Wort erhob, diesmal aber langsam und mit ausholenden Gesten, als spräche sie zu einem Kleinkind. „Sie verkaufen Apfel. Wie viel Geld haben wollen?" Sie rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. „Geld... Kohle, Münzen, Gold, Scheinchen, Moos, Pinkepinke..."

Der Mann sah sie weiterhin verständnislos an. „Ich glaub der hat keine Peilung, was du meinst", lautete Mels trockener Kommentar zu den erfolglosen Kommunikationsversuchen ihrer Freundin. „Ach nee, ist mir noch gar nicht aufgefallen, weißt du?", schallte es leicht genervt von dieser zurück, während sie weiterhin versuchte, dem Elben ihren Wunsch klar zu machen. Eine weitere ausladende Handbewegung später stieß sie an die Kante der Obstpyramide, die daraufhin bedrohlich schwankte und schließlich zu Boden ging. Früchte platzten auf, ihr Saft spritzte in alle Richtungen.

Der Händler setzte wieder zu sprechen an, doch diesmal klang es bei weitem nicht so freundlich wie zuvor.

„Tschuldigung...", brachte Nicole leicht beschämt hervor, während ihre Fußspitzen von Sekunde zu Sekunde interessanter wurden. Nicht mehr lange, und es würde in ihrer eigenen kleinen Welt nur noch sie geben, sie und ihre Zehen, die unter dem Saum des Kleides zu erkennen waren... keine schreienden Händler in der Gegend, kein Saft, der sich langsam den Weg zu ihren Füßen bahnte...

Doch die kräftige Stimme des Verkäufers riss sie aus diesen – durchaus angenehmen – Tagtraum. Inzwischen blickten auch einige der anderen Elben zu ihnen hinüber und das Misstrauen in ihren Blicken verstärkte sich zusehends. Selbst die Kinder unterbrachen ihr Fangspiel und starrten zu den beiden Mädchen, die eine Schwarzhaarige hielt sich nach wie vor im Hintergrund, die andere jedoch stand immer noch mit gesenkten Kopf vor dem Stand des Händlers.

„Nana?" Einer der kleinen Junge zupfte am Rockzipfel seiner Mutter. „Amman tuia i sell galan? E dúath?" „Law, ion nîn, E adaneth. Tolo..."

Wieder hatte Nicole keine Ahnung, was die Frau ihrem Sohn geantwortet hatte, doch der abschätzende Blick der Elbin sagte genug. Ihr reichte es, sie wendete sich an den Verkäufer, der immer noch unablässig vor sich hin schimpfte.

„Ich habe doch gesagt, dass es mir leid tut, verdammt, also machen Sie nicht so einen Aufstand drum! Letztendlich ist es ja auch kein Weltuntergang!" Der Angesprochene hielt kurz inne, als die aufgebrachte Stimme des Braunhaarigen erklang. Er hatte zwar die Worte von diesem unverschämten Menschenmädchen nicht verstanden, doch der trotzige Tonfall verriet genug.

Abermals begann er zu sprechen, leise im Vergleich zu seiner Rede zuvor, doch dafür legte er umso mehr Kälte und Arroganz in seine Stimme, mehr, als Nicoles bereits angespannte Nerven ertragen konnten. Ihre Hand ballte sich langsam zur Faust und ihr Gesicht färbte sich weiterhin rot, doch diesmal nicht aus Scham.

‚Gleich explodiert sie', schoss Mel durch den Kopf und sie wusste, bekam ihre Freundin einen ihrer berüchtigten Zornesanfälle, dann konnte sie kaum jemand mehr einfach so beruhigen. Die 18-jährige machte einen vorsichtigen Schritt in Richtung ihrer Freundin, erschrak jedoch, als sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter spürte.

„Was ist hier los?" „Nicole und ich wollten uns unten einmal umsehen... dann kamen wir hierher, auf den Markt... keiner versteht uns... sie wollte einen Apfel kaufen und hat mit dem Händler Streit angefangen...", stotterte das Mädchen zusammenhanglos hervor. Legolas nickte nur kurz und ging gemeinsam mit Lanthir zu dem Standbesitzer und der Braunhaarigen hinüber.

Auch der Prinz Düsterwalds war auf den Gedanken gekommen, sein Gemach zu verlassen und etwas frische Luft zu schnappen, traf jedoch schon nach kurzer Zeit auf seinen Freund. Die beiden Elben hatten beschlossen, hinunter zum Markt zu gehen, wo sich zufälligerweise auch die Mädchen befanden und allerlei Trubel verursachten... Sie schienen keine Minute zu früh zu sein, die Situation war dabei zu eskalieren.

Schnellen Schrittes näherte er sich der 16-jährigen, packte sie an der Schulter. „Bei den Valar, jetzt rege dich doch nicht so auf..." „Und was ist mit dem da?", sie deutete auf den Händler, mit dem gerade ein anderer Elb ein Gespräch begann. „Wenn mich jemand blöd anschnauzt, dann hab ich doch wohl das Recht, mich zu Wehr zu setzen!" „Ich sagte, rege dich nicht unnötig über solche einfachen Dinge auf!"

Legolas' Stimme duldete keinen Widerspruch. „In dieser Welt nimmt kaum etwas den Lauf, wie du es kennst, bedenke das! Was bei dir alltäglich sein kann, ist hier unbekannt oder nicht erwünscht...", fügte er ein wenig sanfter hinzu. Das Mädchen blickte zu dem Händler zurück, der immer noch mit dem anderen Elben redete – wer war das eigentlich? Zumindest schien er den aufgebrachten Mann beruhigen zu wollen, drückte ihn letztendlich doch einige Münzen in die Hand. Der Verkäufer nickte ihm nur kurz zu, nahm sich nach einem Augenblick des Zögerns eine der saftigen Früchte, die noch keine Bekanntschaft mit dem Boden gemacht hatten und ging hinüber zu Nicole.

„Sí garich galas lîn...– Hier habt Ihr Eure Frucht...", sagte er mit eiskalter Stimme, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und lief zurück zu seinem Stand, als sei nichts gewesen.

„Dieser... dieses... Individuum... Ja, guck mich nur so blöd an, du.... ich werde verdammt nochmal - ", grummelte sie leise vor sich hin, doch ein scharfer Blick vonseiten Legolas' ließ sie wieder verstummen.

Zögerlich tat Mel, die bisher alles eher still mitangesehen hatte, einige Schritte vorwärts und unterbrach das unangenehme Schweigen, welches über den Versammelten lag.

„Lasst uns gehen..." Die 16-jährige und der Blonde neben ihr nickten nur, ebenso wie der Elb, welcher auf den wütenden Händler eingeredet hatte und setzten sich in Bewegung.

Es glich beinahe einen Gänsemarsch, wie Legolas, Nicole, Mel und zu guter Letzt der andere Elb, welcher sich als Lanthir herausgestellt hatte, eine der unzähligen Treppen Caras Galadhons hinaufstiegen. Nicole murmelte reichlich angefressen unverständliche Dinge vor sich hin, doch aus den wenigen – nicht gerade freundlichen – Worten, die ihrer Freundin an die Ohren drangen, konnte diese daraus schließen, dass sie sich immer noch über den Vorfall auf dem Marktplatz aufregte.

Wahrlich, es war kein besonders ruhmreicher Abgang für sie gewesen, soviel stand fest. Aber warum konnten die anderen Elben sie beide nicht verstehen? Wieso sprachen sie nicht, wie alle anderen, die Mel zuvor in dieser Welt getroffen hatte, ihre Sprache?

Als hätte Lanthir die Gedanken des Mädchens erraten können, erhob er plötzlich die Stimme. „Ihr wisst recht wenig von dieser Welt, habe ich recht?" Ohne wirklich eine Antwort zu erwarten, fuhr er fort. „Die wenigsten Elben – die höheren Ranges, Boten oder diejenigen, die sich um Gäste kümmern mal ausgenommen – verstehen oder sprechen Westron – die Menschensprache. Hier, in Lothlórien hat man normalerweise kaum Kontakt mit Sterblichen... "

Mel konnte förmlich spüren, wie sich seine Blicke in ihren Rücken bohrten. Schon, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war er ihr mit Misstrauen begegnet, doch durch die Sache auf dem Marktplatz schien sich dieses nur noch verstärkt zu haben... .

„Wohin gehen wir eigentlich?", versuchte sie das Thema zu wechseln. „Zu Galadriel", antwortete Legolas, „Sie wünscht Euch beide zu sehen... Gimli und mich übrigens auch." „Wer ist überhaupt diese Galadriel?" „Die Herrin des goldenen Waldes, dem Reich, indem ihr euch momentan befindet", entgegnete Lanthir der fragenden Nicole. „Ah ja..."°Wo sind nur diese verdammten Mäuselöcher oder sich plötzlich auftuenden Erdspalten, wenn man sie mal braucht?!?! °

Nicoles weitere Hoffnungen, möglichst bald zu verschwinden, wurden im Keim erstickt, als die Gruppe vor einer Tür stoppte – wobei „Tür"nicht mehr der passende Ausdruck war. Zwei Wächter flankierten die reich verzierten Torflügel, das massive Holz machte den Eindruck, als könnte nichts und niemand es bewegen oder erschüttern.

Zwei durchdringende Blicke musterten die Angekommenen, ehe das Portal scheinbar ohne Mühe aufgestoßen wurde und die Vier den Saal betraten.

Habs doch noch geschafft! Wenn auch diversen Nachteinsätzen... Sooo, nun werde ich mich mal in die Heia begeben, damit das mit der Zeitumstellung (obwohl Kanada ja eigentlich „nur"6 Stunden sind) nicht ein allzu großen Jetlag gibt...

Bis dann Ende August, Schöne Ferien euch allen knuffl Eure mystica

Leider habe ich jetzt keine Zeit mehr, eure superlieben Kommis zu beantworten, aber trotzdem an alle ein ganz großes DANKE knuddl!!! Na, meint ihr, wir schaffen die 70 mit diesem Chap noch?