Kapitel III – Sentire Expergisci

Dieser Moment hätte für mich ewig andauern können. Nie zuvor hatte ich mich in den Armen eines Mannes dermaßen gehen lassen. Mein bisheriges Leben lief mir blitzartig vor den Augen ab: Meine Schulzeit, die Jugend und die damit verknüpften Probleme, mein erstes Abenteuer mit von Croy in Angkor Wat, meine Verlobung mit Earl William von Chestershire, mein kurz darauf folgender Flugzeugabsturz, der Tag der Veröffentlichung meines ersten Tagebuches, meine zahlreichen Abenteuer in der ganzen Welt und nicht zuletzt die Reise nach Ägypten, die für mich fast tödlich endete.

Ich repositionierte meinen Kopf auf Kurtis' Schulter, sog die Luft tief ein und sah die Szene in den Galerien deutlich vor mir ablaufen. Ich befand mich schon öfter in Situationen, in der eine Waffe an meinen Hals gehalten wurde, doch meine scharfen Sinne und mein erstklassiges Reaktionsvermögen leisteten mir stets gute Dienste. Als ich jedoch seine Hand auf meinem Körper und seinen heißen Atem in meinem Nacken spürte, entfiel mir einfach alles, was ich im Bezug auf Selbstbeherrschung über die vielen Jahre gelernt hatte. Kurtis hatte Gewalt über mich, und er wusste es.

Etwas zu schroff befreite ich mich aus seinen muskulären Armen, trat einige Schritte zurück und verkündete: „Lass uns von hier verschwinden". Sein erst verständnisloser, meine Reaktion betreffender Blick verwandelte sich in ein neckisches Grinsen. Mir war, als hätte er gerade meine Gedanken gelesen. „Haben wir nicht etwas vergessen?" Fragend sah ich ihn an. Kurtis näherte sich mir, sodass ich seinen Atem mein Gesicht streifen spürte. Er beugte sich vor und flüsterte leise: „Du... möchtest diesen Ort wirklich ohne eine Erinnerung verlassen?" Lethargisch schloss ich die Augen und wartete auf den Kuss, doch zu meiner Überraschung streifte er einige Zentimeter an mir vorbei. „Wo sind die Amulettsplitter?" fragte er. Ich war sauer. Nicht auf Kurtis, sondern auf mich selbst. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht? Ich betrachtete das Stehlen des Bildes im Louvre als einen fatalen Ausrutscher. Etwas dergleichen hatte einfach nicht wieder vorzukommen. „So etwas wirst du nicht noch einmal wagen, Kurtis. Und du, Lara, wirst so etwas nie wieder tatenlos hinnehmen.", dachte ich.

„Also, wo sind sie?"

„Wo ist was?" entgegnete ich in Gedanken, was er natürlich sofort bemerkte und es mit einem frechen Grinsen zu verstehen gab.

„Wo hast du Eckhardt umgebracht?"

„Streck mal deine Klinge aus! Vielleicht hast du Glück und sie führt dich genau dorthin!" entgegnete ich sarkastisch und wunderte mich selbst über eine solche Reaktion.

„Hey! Noch lange kein Grund, mich anzufahren!".

Ich mied seinen Blick und ging voran. „Ich habe ihn nicht getötet. Ich hatte Eckhardt bereits mit zwei Amulettsplittern durchbohrt. Den dritten hat Karel mir aus der Hand gegriffen und ihn damit selbst erstochen."

„Karel? Er hat doch für Eckhardt gearbeitet!"

„Das dachte ich auch. Er war ein Nephilim und davon besessen, die alleinige Macht zu bekommen. Er konnte problemlos seine Gestalt ändern und verwandelte sich sogar in dich. Für einen Moment habe ich wirklich gezweifelt, dass du real bist." Ich schilderte ihm meinen Kampf mit ihm und das Ende des Nephilims.

Wir betraten das Labor, ich ging auf Eckhardts Körper zu und zog die Splitter heraus. Kurtis sah mich skeptisch an: „Eckhardts Leiche ist hier. Aber wo ist Karels?" „Er muss sich wohl aufgelöst haben, als er vom Licht des Schläfers durchbohrt wurde." Eine karminrote dickflüssige Substanz befand sich auf dem Boden. Ich ging in die Hocke und wollte gerade prüfen, ob es sich um Blut handelte, als Kurtis mir an die Schulter fasste. Es war, als hätte mich ein Blitz durchfahren und ich war wie paralysiert. Ruhig und gelassen sprach er: „Ich will nicht, dass du das anfasst."

„Warum habe ich eigentlich immer das Gefühl, dass du Kontrolle über mich ausüben willst?" entgegnete ich. „Lara, das tue ich doch schon längst!" sagte er ernst, „Aber bitte, meinetwegen, stecke deine Hand da herein und ätze dir die Finger weg." Er sammelte ein Seil vom Boden auf und ließ es in die zähe Flüssigkeit fallen. Diese fing an zu sprudeln und löste schon nach einigen Sekunden den Strick vollständig auf. Ich blickte ihn kalt an und meinte: „Danke, ich bin dir was schuldig." Wir machten uns auf den Weg zu seinem Motorrad.