Kapitel IX - Atrium A Auxo

Die elliptische Halle, in der ich mich befand, erinnerte stark an das römische Kolosseum. Mächtige bildverzierte ionische Säulen verherrlichten Apollon, den griechischen Gott der Musischen Künste und des Lichtes, Auxo, die Göttin der Verblendung und Thanatos, den Gott des Todes, und bewahrten den monumentalen Saal vor einem Einsturz.

Das schwache Leuchten, was ich als Fackel zu identifizieren geglaubt hatte, war verschwunden. Befand sich außer mir noch jemand in diesem Gewölbe oder hatten meine Augen mir einen Streich gespielt? Zweifelsohne musste ich auf der Hut sein. Lautlos huschte ich zur Ostwand, stellte mich mit dem Rücken dagegen, damit ich den gesamten Raum überblicken und nicht aus dem Hinterhalt überrascht werden konnte. Ich entsicherte die Magnum.

Plötzlich flog eine orangegelb leuchtende flache Scheibe durch die komplette Dunkelheit knapp einen Meter an mir vorbei.

"Chirugai?" entfuhr es mir. Meine Augen folgten der Klinge. Sie überschlug sich einige Male in der Luft und wurde sicher von einer männlichen Hand gefangen.

Kurtis lächelte mich an und schritt geradewegs auf mich zu.

Schnell führte ich ein Rückwärtssalto aus und zielte auf ihn. "Karel!", grinste ich, "Noch einmal werde ich mich nicht von Ihnen täuschen lassen!"

Er schien verwundert zu sein. "Karel? Kurtis!"

"Extrem witzig! Was ein Zufall, dass du dich ausgerechnet zu dieser Zeit in dieser Stätte mit mir befindest. Aber gut, ich gebe dir genau eine Minute, um es mir zu beweisen!" Noch immer zielte ich auf ihn. Er antwortete nicht und ich wurde ungeduldig. "Na? Noch eine halbe Minute."

Krampfhaft dachte er nach: "In Eckharts Labor hast du mich durch deine außergewöhnliche Aura gerettet. Du lässt dir nicht gerne vorschreiben, was du zu tun hast,..."

"Fünfzehn Sekunden..."

"... und du bist extrem eifersüchtig."

"Eifersüchtig?..." sprach ich gelassen.

Er unterbrach mich: "Natürlich! In deinen wildesten Träumen!" Mein überhebliches Grinsen verwandelte sich in eine ernste Mine. Ich senkte die Waffe, sah ihn fassungslos an und lachte auf einmal auf. Es war wirklich Kurtis und dessen war ich mir ganz sicher. Er lächelte mich an.

"Ich wundere mich, wie du es geschafft hast, zu entkommen!"

"Ich stecke eben voller Überraschungen! Schnell! Wir einen Weg nach draußen finden."

Wir näherten uns einem Korridor, als ich mich an die Worte meines Entführers erinnerte: "Warte! Karel hat etwas von einem Stein in den Katakomben erzählt, aber nach Krypten sieht es hier nicht wirklich aus. Wir müssen ihn zuerst finden!" "Das hatte ich befürchtet. Ich bin durch die Katakomben hereingekommen." Er holte einen Stofffetzen aus seiner Tasche und packte den Inhalt aus. Zum Vorschein kam ein faustgroßer ovaler blauer, von innen gelb leuchtender Stein, ähnlich dem Mondstein. "Caecitas - Stein der Verblendung." erklärte Kurtis, "Er verfügt angeblich über eine gewaltige Macht, wenn er durch einen bestimmten Trunk in einer der Felskapellen in Cappadocia aktiviert wird. Bei meiner Aufnahmeprüfung der Lux Veritatis musste ich hier einige Prüfungen bestehen und eine der Aufgabe bestand darin, dieses Artefakt zu finden. Allerdings wundert mich, warum..." Er wurde durch das Auslösen des tödlichen Schwungpendels, dem ich knapp entkommen war, unterbrochen. Einer von Karels Archäologen war durchgekommen.

"Schnell! Wir müssen hier raus!" flüsterte Kurtis und zog mich hinter eine Säule. Er kletterte auf einen Podest, sprang an die Wand und krallte sich an einem unscheinbaren Spalt fest. Erst jetzt bemerkte ich eine flache runde Mulde mit fünf länglichen Löchern an der Innenwand der Vertiefung. Schnell wurde das Chirugai vom Gürtel entfernt und an die Aushöhlung gebracht. Die Klingen schossen heraus. Es passte perfekt. Einen Augenblick passierte nichts. Auf einmal nahm ich ein fremdartiges Geräusch wahr, ein Grollen wie von einer riesigen Maschine. Sie setzte sich in Bewegung ließ riesige Steinplatten vor die beiden Eingänge dieser Halle herunterfallen. Kurtis entnahm die Chirugai, ließ sich auf den Boden fallen und rollte sich ab. "Seltsame Fallentechnik für Griechen oder Römer." stellte ich fest. "Nicht irgendwelche Römer - Lux Veritatis! Damals gab es auch schon Probleme mit Grabräubern. Komm!" Der Archäologe hatte uns entdeckt und war im Begriff, mit seiner Pistole auf uns zu zielen, als die Chirugai durch die Luft schnellte und dem Mann die Waffe gnadenlos aus der Hand schlug. Kurtis war in der Hocke und verschränkte die Handflächen. "Lara, Schnell! Ich bringe dich hoch!" Ich rannte auf ihn zu, setzte meinen rechten Fuß auf und wurde blitzschnell in hohem Bogen durch die Luft zu einer Nische an der Decke befördert. Ich griff nach der Kante und zog mich hoch in den engen flachen Tunnel. Kurtis folgte kurz darauf und kroch voran, bis wir an einen etwas helleren und höheren Gang gelangten.

"Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass ein Nicht-Lux Veritatis nach Aktivieren dieses Mechanismus die Halle der Auxo lebendig verlässt." stellte er grinsend fest.

"Es ist ja auch das erste Mal, dass ich mit einem Lux Veritatis zusammenarbeite." entgegnete ich keck.

Kurtis verlangsamte seinen Gang, während er die kahlen Tunnelwände betrachtete. Plötzlich blieb er stehen, hob die Hände über seinen Kopf und tastete einen länglichen massiven Steinklotz ab. Er konzentrierte sich und drückte ihn telekinetisch heraus. Der enge Spalt war gerade breit genug für uns beide, um durchzukriechen.

Wir kletterten hinaus und befanden uns in der ersten Reihe des obersten Drittels der gewaltigen Tribüne, am Anfang des Heiligen Weges und nur etwa 300 Meter von der Celsus-Bibliothek entfernt. Mittlerweile war es spät Nachts und der sichelförmige Neumond erleuchtete in mattem milchigem Licht die riesige Manege unter uns. Es war der perfekte romantische Ort für zwei verliebte Seelen. Das wussten wir beide, doch die Umstände erinnerten mich, dass wir keine Zeit hatten.

Gerade, als ich zu den Stufen hinübergehen wollte, griff Kurtis nach meiner Taille und zog mich auf den Boden. Mein Atem war unruhig, "Kurtis, wir..." "Schhh" Er zeigte durch einen Spalt in der Brüstung auf die Manege. Eine bewaffnete Person befand sich in der Mitte der Bühne und blickte sich suchend um. "Wir können wohl damit rechnen, dass sie mindestens noch die ganze Nacht nach dir suchen werden."

Kurtis' schwerer muskulöser Körper nagelte mich erbarmungslos fest. Seine wunderschönen blauen Augen sahen tief in meine und er ergriff die Gelegenheit: er küsste mich. Ich wollte zurückweichen. Der Kuss - ich schloss die Augen und überließ mich ihm - war mit keinem anderen Kuss in meinem Leben zu vergleichen. Er war mehr als die Begegnung von Lippen und Zungen. Er erzeugte in mir grelle Lichtzuckungen, so, als hätte ich einen unbeschreiblichen Sonnenuntergang vor mir. Langsam, geduldig, freigiebig. Noch nie hatte mich jemand so berührt. Nicht so.

Als er den Kopf zurückzog, begriff ich, dass ich ihn fest umschlungen hielt und meine Fingernägel in seinen Körper grub. Die Erkenntnis war wie ein Schock für mich. Was trieb mich? Was hatte Besitz von mir ergriffen?

Widerstrebend löste ich mich von ihm. "Bitte," sagte ich, "bring mich hier weg."