Kapitel X - Sensus

Glücklicherweise schafften wir es, unbemerkt den Berg Panayirdag zu passieren und fanden einen halben Kilometer nördlich nahe den Ruinen der alten Stadtmauer Kurtis' Motorrad. Kurtis schien sich relativ gut in der Gegend auszukennen und brachte uns auf kürzestem Weg in die nächstgrößte Stadt Selçuk. Ich bestand darauf, diese Nacht in keinem sündhaft Hotel zu verbringen, da man uns dort sofort finden würde. Ziemlich außerhalb der Stadt fanden wir ein kleines Motel und verlangten dort nach einem Apartment.

Um ehrlich zu sein, hätte ich ein widerliches dreckiges Loch erwartet, aber dieses Zimmer überraschte mich in der Tat. Es war ungefähr fünfundzwanzig Quadratmeter groß, mit zwei relativ engen Fenstern an der rechten Wand. Darunter befand sich ein billiges Doppelbett mit einem Nachtschränkchen an jeder Seite und einem Schrank mit Fernseher gegenüber. Eine Tür links vom Eingang führte zu einer winzigen Küche. Durch die andere gelangte man in ein äußerst sauberes kompaktes Badezimmer mit Dusche.

Ich nahm eine heiße Dusche, trocknete mich ab, zog meine Unterwäsche wieder an und verließ das Bad. Ich spürte Kurtis' Blick auf meinem Körper ruhen. Der Kuss beschäftigte mich noch immer. Aus unbegreiflichen Gründen wurde mir unangenehm und ich blickte auf. Seine Lippen formten ein Lächeln und er verschwand im Bad. Während er duschte, griff ich Kurtis' Tasche, setzte mich aufs Bett und nahm das Artefakt heraus. "Caecitas" murmelte ich. Der Stein erkaltete in meiner Hand und ich vernahm ein leises summen. Seine Farbe änderte sich in ein helles Türkis.

Plötzlich wurde die Badezimmertür aufgerissen und ein bleicher, noch nasser Kurtis in Boxershorts stürmte mir entgegen. "Lass den Stein fallen!" rief er bestürzt. Ich tat wie mir geheißen und warf ihn sofort auf die Bettdecke.

"Kurtis, um Gottes Willen! Was ist passiert?" fragte ich. Er setzte sich zu mir und bekam wieder Farbe ins Gesicht.

"Der Stein! Er reagiert mit dir!"

"Karel hatte recht?" murmelte ich.

Kurtis holte sich ein Handtuch und trocknete seine Haare.

"Was meinst du damit, ‚Karel hatte recht'?" Er hörte aufmerksam zu, während ich von meiner Gefangennahme berichtete.

"Jetzt beginne ich zu verstehen! In den Aufzeichnungen der Lux Veritatis wird von einer Flüssigkeit zum Aktivieren gesprochen, aber nirgendwo wird erwähnt, dass es sich dabei um Blut handeln könnte! Darum hat Karel sich also so viel Zeit gelassen. Er musste die Auserwählte finden! Mein Gott, Lara, der Stein muss zerstört werden!"

"Kurtis, besprechen wir das morgen, okay? Ich bin wirklich müde und wir müssen morgen früh aufstehen." Mein Körper kühlte sich allmählich von der Dusche ab. Ich schlüpfte unter die Bettdecke und wickelte mich ein. Kurtis schaltete das Licht aus, legte sich dazu und musterte mich besorgt. "Kalt?" Ich fror regelrecht und konnte mir denken, was er beabsichtigte. Verneinend schüttelte ich den Kopf und drehte mich auf den Rücken. "Gute Nacht, Kurtis." Sagte ich halblaut, um das Zittern meiner Stimme zu vertuschen. Hatte er mir geantwortet? Ich hatte es nicht gehört.

Trotz des anstrengenden Tages merkte ich, dass es mir nur schwer gelingen würde, einzuschlafen. Gewöhnte ich mich wieder daran, was es hieß, monatelang nicht zu schlafen, weil ein Artefakt in einem Tempel gefunden werden musste? Oder war es Kurtis' Nähe, die mich unbewusst daran hinderte? Immer wieder erinnerte ich mich an den Kuss und obwohl ich wusste, dass ich nicht daran denken durfte, sehnte ich mich nach ihm, nach mehr.

Hans Zimmer - Gortoz A Ran - J'attends

Fünf Minuten lagen wir beide still nebeneinander. Dann drehte Kurtis sich in meine Richtung, stützte sich lethargisch auf den Ellenbogen und beobachtete mich nachdenklich. Im matten Mondlicht war er unheimlich sexy. Nicht dass er es nicht auch im Tageslicht war, aber jetzt konnte ich ihn zum ersten Mal in Ruhe betrachten. Ich drehte mich zu ihm und wir sahen einander einige Zeit schweigend an. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Kurtis führte einen Finger zu meinen Lippen und schüttelte den Kopf. Er hatte recht. Worte waren jetzt überflüssig. Dieser Mann ließ mich die gesamte Welt vergessen. Wir waren wie Seelenverwandte. Es war, als könnte er in meinen Augen wie in einem offenen Buch lesen. Genauso erging es mir auch. Ich spürte nicht die kopflose, stürmische, wilde Leidenschaft in seinem Blick. Er sah mich an, als würde er mich schon sein ganzes Leben kennen und mir seit seiner frühesten Kindheit vertrauen. Ich sah Liebe.

Seine warme Hand glitt unter die Decke und legte sich sanft auf meine. Ich schloss die Augen und prägte mir diese Berührung ein. Ich wollte ich diesen Moment einfach nicht wieder loslassen. Die andere Hand legte sich um meine Taille und zog mich langsam und sanft an seinen Körper. Diese zärtliche Berührung ließ meinen Körper erbeben. Vorsichtig hob er meinen Kopf und beugte sich zu mir. Wir küssten uns. Wieder spürte ich die gleiche Sensation wie in Ephesus, während sich unsere Beine unbewusst verflochten. Ich schmiegte mich fest an ihn und legte meine Arme um seinen Hals. Er löste meine Haare und strich mehrmals sanft durch sie hindurch.

Ich war erschöpft und hatte schon lange keine Zuwendung bekommen. Ich genoss dieses Gefühl und verdrängte meinen Verlobten, meine Eltern und die verdammte Society.

Federleicht streifte Kurtis' Hand meinen sensiblen Hals entlang und er strich über meine Brüste. Mein Herz pochte wie wild. Er versetzte mich in Extase. Die andere Hand berührte meinen Rücken und streifte zart meinen Po und meine Oberschenkel herunter.

Alles, was jetzt zählte, war der Moment. Ich erinnerte mich an die Worte meiner Großmutter, ‚dem Augenblick Dauer verleihen.' Als kleines Mädchen hatte ich diesen Satz nie verstanden und jetzt befand sich die Antwort darauf direkt in meinen Armen. Das also war Romantik. Meine Augen schlossen sich und ich lächelte dankend und zufrieden.

Seine Lippen berührten meinen Hals. "Gute Nacht, mein Engel" flüsterte er.