Kapitel XI - Praeceps Evexi

Der Raum roch angenehm nach frischem Regen, als ich aufwachte. Draußen war es noch sehr dunkel. Ein gelegentlich über den Himmel zuckender Blitz erhellte von Zeit zu Zeit den ganzen Raum und dumpfes Donnerrollen war in der Ferne zu hören. Schläfrig schaute auf die Uhr und registrierte, dass ich erst gut zwei Stunden geschlafen hatte. Betrübt drehte ich mich auf die andere Seite und erblickte einen friedlichen ruhigen Kurtis wie ein Baby neben mir schlummern.

Er hatte mich glücklicherweise letzte Nacht zu nichts gezwungen, was ich später hätte bereuen können. Ich hätte zwar garantiert nichts bereut, aber ich konnte mir einen solchen fatalen Fehler nicht erlauben, egal, wie sehr ich glaubte, ihn zu lieben. Ich war verlobt.

Kurtis' Haare lagen wirr über seinem Gesicht verteilt und animierten mich dazu, eine von den Haarsträhnen aus seinem Gesicht zu streichen. Wann sonst würde ich die Möglichkeit dazu haben? Kaum hatte seine Stirn berührt, als Kurtis plötzlich die Augen aufriss und hochsprang.

"Lara! Wir müssen sofort hier weg! Ich habe Karel und seine Männer gesehen! Er wird in einigen Minuten hier sein!"

Ich legte meine Hand auf seine Brust. "Kurtis, du hattest einen schlechten Traum. Leg dich wieder hin." Ich rollte mich genüsslich auf ihn, doch er drückte mich sanft weg.

"Es war kein Traum, Lara. Es war eine Vision!"

Ich seufzte und stieg schleppend aus dem Bett. "Bist du dir sicher?"

"Absolut! Drei Jeeps waren in der Nähe der Hauptstraße von Selçuk unterwegs."

Hastig zogen wir uns an, packten unsere Sachen und machten uns auf den Weg zu Kurtis' Motorrad. Der kalte strömende Regen durchnässte uns gnadenlos bis auf die Knochen. Kurtis bot mir einen Platz zwischen sich und dem Steuer ein, doch ich lehnte ab.

"So wie ich das sehe, werden wir viele Ausweichmanöver vornehmen müssen. Es ist besser, wenn ich dich nicht am Fahren behindere und unsere Verfolger lieber mit der Magnum und deiner Boran X ein wenig abschrecke."

"Es ist zu gefährlich!"

"Sag mir bitte nicht, was gefährlich ist! Ich weiß es mindestens genauso gut wie du." Es klang etwas harscher, als ich es beabsichtigt hatte. Diese plumpe Reaktion war einfach Folge einer kompletten Übermüdung. Sofort wechselte ich den Tonfall. "Außerdem braucht Karel mich lebendig."

"Karel wird mit allem gerüstet sein. Ich erinnere mich noch zu gut an deine Schockwaffe in Paris!"

"Woher...?"

"Ein anderes Mal. Wenn er dich damit erwischt, während dass du hinter mir sitzt, können wir unsere Mission vergessen! Bitte setz dich vor mich!"

Das hatte mich überzeugt und nahm zwischen Kurtis und dem Steuer Platz. Wir verließen Selçuk und fuhren in relativ zügigem Tempo südwestlich in Richtung der Hafenstadt Kusadasi. Kurtis beabsichtigte, von dort mit einem Schiff über Samos nach Athen zu gelangen, um dort Untersuchungen bezüglich der Nephili durchzuführen.

Der Regen hatte aufgehört und die Sonne, angekündigt durch das langsame Aufglühen über den türkischen Bergen, schob sich über den Bergkamm und tauchte die Straße vor uns in unbeschreiblich frisches, aprikotfarbenes Morgenlicht. Gemütlich lehnte ich mich zurück und betrachtete ehrfürchtig diesen wunderschönen Sonnenaufgang. Kurtis' linke Hand löste sich vom Steuer, schlang sich besitzergreifend um mich und ich spürte einen federleichten sinnlichen Kuss im Nacken.

Wir rasteten kurz, nahmen schnell ein kleines Frühstück zu uns und fuhren weiter gemütlich die türkische Westküste entlang. Zu unserer rechten erstreckte sich das sonnige weite Meer und die zauberisch lockenden Küsten der Türkei. Auf der anderen Seite wurde die steile Straße mit hohen Hügelwänden begrenzt. Bald würden wir die Hafenstadt erreichen.

Plötzlich merkten wir, dass unser Fahrzeug von drei Militärjeeps verfolgt wurde. Diese waren voll besetzt mit Karels bewaffneten Komplizen. Allerdings wagte vorerst niemand, auf uns zu schießen.

"Na endlich", stellte ich ironisch fest und entsicherte die Magnum,"ich habe schon gedacht, dass Karel uns nie finden würde!"



Kurtis lächelte und fuhr im Zickzack auf der schmalen Straße hin und her, die uns den Berg hinauf führte, als das Maschinengewehr im ersten Jeep zu feuern begann. Das Rattern der MG-Salven hallte von den Bergwänden wider, doch kein einziger Schuss traf uns oder das Motorrad. So schlecht konnten Karels Männer nicht ausgebildet worden sein. Offensichtlich wollten sie uns nur verängstigen.

Ein zweiter Jeep schien weiter oben auf einer Aussichtsplattform auf uns gewartet zu haben, fuhr los und bremste uns leicht ab. Bald hatten wir den Gipfel des Berges erreicht und die Straße begann, sich zu weiten. Die beiden hinteren Fahrzeuge beschleunigten ihr Tempo noch stärker, teilten sich auf und überholten den Jeep, der sich direkt hinter uns befand, um unser Motorrad komplett zu umstellen.

Bevor sie uns erreichen konnten, führte Kurtis eine scharfe Linksdrehung aus und lenkte das Fahrzeug zwischen die kahle Bergwand und den vorderen Jeep. Beim Vorbeifahren erschoss ich den Chauffeur, dessen schwerer Körper vornüber fiel. Der Wagen kam von der Bergstraße ab und stürzte die Klippen herunter.

Am Berggipfel erwartete uns Karels Hubschrauber, aus dem sich zwei Scharfschützen herauslehnten. Kurtis lenkte das Motorrad wieder im Zickzack, doch diesmal wurde er getroffen. Ein Betäubungspfeil steckte in seiner Schulter. Ich zog ihn schnellstens heraus, doch das Mittel wirkte schnell. Ein weiterer Pfeil bohrte sich in seinen Rücken. Er verlangsamte die Geschwindigkeit, brachte das Fahrzeug zum Stehen, taumelte, und fiel herunter. "Versprich mir, dass du es schaffst, Lara!" Ich zog den zweiten Pfeil ebenfalls heraus, öffnete seine Tasche, nahm den Stein an mich und eilte zum Abhang.

Die drei anderen Jeeps kamen zum Stehen. Karel stieg gelassen heraus und näherte sich mir im Schritttempo.

"Miss Croft, ich muss mich doch sehr wundern! Eine echte Herzogin hätte sich doch wenigstens von ihrem Gastgeber verabschiedet!"

"Nennen sie mir einen guten Grund, warum ich nicht springen sollte! Die spitzen Klippen würden meinen Körper durchbohren und das Blut, das sie so begehren, würde sich sofort im Meer verteilen. Was nützt ihnen der Stein, wenn nur ich allein in der Lage bin, ihn zu aktivieren? Ich habe keine Angst vor dem Tod." Schweigend marschierte er noch immer auf mich zu und ließ mir keine andere Möglichkeit. Ich glaubte an mich. Ich war eine ausgezeichnete Schwimmerin, aber was mich trotzdem stutzig machte, war das eisig kalte Meerwasser. Ich musste es wagen, denn es war meine einzige Möglichkeit. Ich rannte einige Schritte vor, vollführte blitzschnell eine 180°-Rolle, nahm Anlauf und Sprang.