Solange die Lilie noch blüht

Sie landeten im riesigen, fast parkähnlichen, Garten von Godric's Hollow und Lily fragte sich nach wie vor, wie die Jungen es hingekriegt hatten, dass sie ungesehen über ganz London und weiter fliegen konnten. Auf Fragen grinsten sie nur, einmal meinte Sirius etwas von „Berufsgeheimnis", aber dass war alles. Typisch! Lily schüttelte den Kopf, musste aber grinsen. Die Tatsache, dass sie so verrückt waren, war eine der Dinge, die James und Sirius so sympathisch machte.

Lily blickte zum Himmel. Gestern hatte es noch in Strömen geregnet, aber heute lachte die Sonne vom nahezu wolkenlosen Himmel. Das war auch, laut James, der Grund wieso sie geflogen waren. Allen dreien machte Fliegen Spaß und sie fanden darin eine Freiheit, die nur noch von den Ausflügen in Tiergestalt übertroffen wurde. Wenn Lily sich in Jewel verwandelte, dann fielen all ihre Sorgen und Ängste von ihr ab und sie fühlte sich frei, ungezwungen und irgendwie mächtig. Sie wusste, dass es Sirius und James genauso ging.

Doch auch Fliegen hatte seinen Reiz, besonders Quidditch. Alle drei spielten in der Hausmannschaft von Griffindor. Lily als Sucher, James und Sirius als Jäger. Die beiden bildeten ein perfekt harmonierendes Team und die Slytherins versuchten meist schon vor den Spielen zumindest einen von ihnen außer Gefecht zu setzen. Gemeinsam waren sie gefürchtet, weil sie immer zu wissen schienen, was der andere dachte oder im Begriff war zu tun und das nicht nur beim Quidditch. Lily war eine exzellente Sucherin und der Schnatz entging ihr selten. Das Griffindorteam war das Beste seit Jahren. Die anderen Spieler waren: Kathleen (Jäger, 5.Klasse), Candice (Treiber, 7.Klasse), Danny (Treiber, 3.Klasse) und Eddie (Hüter, 6.Klasse). James war seit zwei Jahren Kapitän.

Lily sah sich im Garten um. Alte Bäume, englischer Rasen und große Blumenbeete. Viele Lilien, wie Lily lächelnd feststellte. Nicht das es irgendetwas bedeutet hätte, aber Lily mochte Lilien gerne. Nicht nur, weil sie danach benannt war, auch weil sie einfach schöne Blumen waren. Die Lilie war Symbol der Schönheit, Reinheit und Jungfräulichkeit. Es passte durchaus zu ihr, wie Lily manchmal dachte. Sie wusste, dass sie hinter ihrem Rücken als „ewige Jungfrau" oder auch „Heilige" bezeichnet wurde. Doch, wie so vieles machte Lily auch das nichts. Sie hatte sich einmal geschworen nicht als Strich am Bettpfosten von irgendeinem Jungen zu Enden. Es war so etwas wie ein Wettbewerb bei den Jungen in Hogwarts. Sirius war unbestrittener Sieger und James lag, mit etwas Abstand, auf Platz zwei, dann kam lange Zeit gar nichts.

Lily betrachtete die beiden heimlich. Niemand wusste, wie viel Mädchenherzen diese zwei schon auf dem Gewissen hatten, noch nicht einmal sie selber. Die Strichlisten wurden längst nicht jedes Mal aktualisiert und auch Remus und Peter hatten aufgehört zu zählen. Viele wunderten sich, wie Lily mit den beiden gut befreundet sein konnte, ohne mit einem im Bett zu landen. Candy und Emmy hatten das nicht lange geschafft. Lily wusste selbst nicht, woran es lag. Sirius hatte einmal gesagt, er würde sie dafür viel zu gerne mögen und Lily glaubte zu verstehen, was er damit meinte. James äußerte sich nie zu dem Thema, sondern verschwand immer möglichst schnell, wenn es angeschnitten wurde. Komisches Verhalten, aber James benahm sich sowieso komischer als die anderen Marauder. Vielleicht weil er als indirekter Anführer gehandelt wurde, etwas anderes konnte Lily sich nicht denken.

Es gab es bei den Maraudern keinen wirklichen Anführer. Tatsächlich aber schien James inoffiziell wirklich so etwas zu sein. Er war meistens der Kopf, führte seine Ideen aber auch aus. James war der Einzige, der Sirius halbwegs unter Kontrolle zu haben schien. Dieser war der Spaßvogel, der Unbekümmerte und wohl auch Schwierigste. Er hielt den Rekord im Punkteverlust und in der Menge der Strafarbeiten und schien sogar stolz drauf zu sein. Remus war das Gegenteil. Still und oft zurückgezogen. Das brachte seine Natur als Werwolf mit sich. Er las viel und hatte ein ungemeines Hintergrundwissen. Allerdings besaß Remus einen versteckten Sinn für Humor und hatte seinen Spaß an den Streichen der Marauder. Remus war ein guter Freund und man konnte ihm problemlos vertrauen. Peter dagegen war eigentlich nichts anderes als der Mitläufer. Er versteckte sich hinter seinen Freunden und Lily hatte das dumpfe Gefühl, dass Peter sich immer die Stärksten aussuchte, ihnen nach dem Mund redete und sie bewunderte, was grade James und Sirius genossen, nur um nicht ihr Opfer zu werden. Lily mochte Peter nicht. Sie war sich sicher, dass er nicht mit einer Wimper zucken würde seine Freunde zu verraten um seine Haut zu retten. Sie sollte auf schmerzhafte Weise erfahren, wie Recht sie damit hatte.

Wieder glitt ihr Blick hinüber zu den Lilien. Vornehmlich weiße, wie Lily sie am liebsten hatte. Ihr fiel ein, dass die Lilie auch Symbol des Todes war. Sie wuchs außerdem angeblich auf den Gräbern unglücklich verliebter und unschuldig Hingerichteter. Wenn das stimmte, dann musste die Lilie zurzeit ziemlich oft vorkommen. Voldemort und seine Todesser brachten täglich mehr unschuldige Menschen um. In Hogwarts war Lily geschützt und leicht abgekapselt gewesen, ebenso im Ligusterweg. Sie kannte nicht das ganze Ausmaß von Voldemorts Taten und man redete nicht oft darüber. Doch Lily konnte sich halbwegs vorstellen, wie es war, auf seiner ‚Schwarzen Liste' zu stehen. Wieder etwas, was sie noch erfahren sollte. Denn es würde der Tag kommen, an dem Lily, James und ihr gemeinsamer Sohn ganz oben auf dieser Liste stehen sollten. Es würde der Tag sein, an dem Peter seine Vergangenheit verriet und sich selbst in den Schatten stürzte.

Durch lautes Lachen wurde Lily aus ihren Gedanken gerissen. James und Sirius balgten sich auf dem Rasen. Sie hatte nicht mitbekommen, wieso sie ‚stritten', aber Lily war sich sicher, dass es ein wenig triftiger Grund war. Sie musste Lachen. „Sagt mal", wandte sie sich an die zwei Marauder, „werdet ihr eigentlich NIE erwachsen?" „Nee", antwortete Sirius lachend. Auch Lily grinste. James dagegen wirkte ernst. „Wir sollten wohl froh sein, wenn wir so spät wie möglich erwachsen werden. Wir werden den Ernst des Lebens noch früh genug kennen lernen. Auch du", er wandte sich an Lily, „solltest noch froh und glücklich sein, denn eines Tages wirst auch du verblüht sein, Lilie." „Prongs?", fragte Sirius ehrlich besorgt, doch James schüttelte abwehrend den Kopf und lief zum Haus. Sirius und Lily blickten sich an, dann zuckte Sirius mit den Schultern und folgte James.

Lily verharrte einen Moment. Sie dachte über James merkwürdige Worte nach. Das passte nicht zu ihm. Sollte er vielleicht doch erwachsen werden? Lily seufzte, denn unterbewusst wusste sie, dass er Recht hatte. Noch ein Jahr und das unbekümmerte und behütete Hogwarts-Leben würde vorüber sein. Dann würden sie auf eigenen Beinen stehen und einzig Merlin wusste, was dann auf sie zukam. Was hatte James gesagt? ‚Auch du solltest noch froh und glücklich sein, denn eines Tages wirst auch du verblüht sein, Lilie.' Er hatte Recht. Sie würde aus diesem Sommer und dem nachfolgenden Jahr das Beste machen und sie würde alles herausholen an Spaß und Freude. Sie würden noch früh genug erwachsen werden. Lily blickte hinüber zu den Lilien. Sie ging hin, riss eine ab und schob sie hinter ihr Ohr. Dann folgte sie James und Sirius ins Haus.