Die Kutsche hielt direkt vor dem Haupteingang Pemberleys, wo auch schon das Ehepaar Darcy auf Mary wartete. Ohne sich darüber zu wundern, wie der Zeitpunkt ihrer Ankunft vorhergesehen werden konnte, begrüßte die jüngere ihre ältere Schwester und deren Gatten herzlich, erfreut beide nach so langer Zeit wieder zu erblicken. Immerhin waren drei Jahre seit dem letzten Aufeinandertreffen vergangen und auch der schwesterliche Briefkontakt wurde hier nicht so beständig gepflegt wie zwischen Elizabeth und Jane, oder Lydia und Kitty. Mary war immer die mittlere Schwester ohne größeren Bezug zu den übrigen vieren gewesen. Umso mehr freute es sie, dass Lizzy gerade sie um Hilfe bat, wo doch Jane sicher mit einer Lösung zur Seite gestanden hätte.

"Liebe Mary, ich bin so froh, dass Du kommen konntest. Du willst Dich doch sicher ausruhen nach der anstrengenden Reise, nicht wahr?"

Elizabeth Darcy umarmte ihre Schwester ebenso herzlich, wie sie selbst begrüßt wurde, konnte aber ein Schmunzeln bei Marys Anblick nicht unterdrücken. Was war nur geschehen?

Ihr Ehemann, Fitzwilliam Darcy, mehr als wohlhabender Besitzer von Pemberley und die große Liebe in Elizabeths Leben, betrachtete seine Schwägerin ebenfalls grübelnd. Auch darauf bedacht, diesen Anblick vor seinen Sprösslingen zu verbergen, unterstützte er Elizabeth in ihren Drängen, Mary könne sich ohne die üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten auf ihr Zimmer begeben.

Und so befand sich unsere Heldin nur kurze Zeit später in den Gemächern, die zumindest für ein paar Monate ihr gehören würden - ohne Tee, der sie hätte aufwärmen können, und ohne ihre Nichten und Neffen gesehen zu haben. Als sie jedoch in den Spiegel blickte, wusste sie warum. 'Was sollen sie nur von mir denken?' fragte sie sich bestürzt und hätte einige wenige Tränen der Verzweiflung vergossen, wäre nicht Eile gefragt gewesen. Auch klopfte es an der Tür und ein Dienstmädchen trat ein.

"Ich bin Jenny, Miss. Mrs Darcy hat mich Ihnen für die kommenden Monate zugedacht."

"Erfreut Jenny. Könntest du mir bitte eine Schüssel mit heißem Wasser bringen?"

Nachdem sich Mary vom Dreck der Straße befreit hatte, zog sie ein taubengraues Kleid an und formte ihre Haare zu einem einfachen Knoten. Dann begab sie sich ins Erdgeschoss und wurde von einem Butler ins Teezimmer geführt. Bereits vor der Tür vernahm sie Gesprächsfetzen, die nichts gutes ahnen ließen. Als sie eintrat, sah sie auch sofort den Grund dafür: auch Colonel Fitzwilliam war natürlich anwesend und berichtete bereits von ihrem Aufeinandertreffen, sowie der schwierigen Rettungsaktion. Alle lachten fröhlich, als sie seinem Bericht lauschten, nur Mary nicht.

Beschämt betrat sie das Gesellschaftszimmer und die Herren erhoben sich, bis sie sich auf den Platz neben dem Fenster gesetzt hatte.

"Ach Mary, das Missgeschick tut mir schrecklich leid," wandte sich Elizabeth nun an sie und ergriff mitfühlend ihre Hand. "Ich hoffe, Du hast Dich von dem Schrecken erholt?"

"Ja, das habe ich," versicherte ihre jüngere Schwester.

"Dann kann ich dir ja Miss Dashwood und deine zukünftigen Schüler vorstellen. Sie müssten sich gleich zu uns gesellen. Tee?"

Kaum das Mary ihre Tasse Tee entgegen genommen und sie auf einem kleinen Tischchen neben sich abgestellt hatte, öffnete sich die Tür schwungvoll und herein kamen vier Kinder unterschiedlichen Alters.

Elizabeth lächelte und holte sie alle vier zu sich.

"Meine lieben Kinder. Ich hoffe, Ihr erinnert Euch noch ein wenig an Eure Tante Mary. Mary, das sind William, der älteste mit 10 Jahren, die Zwillinge Emma und Josephine, beide 8 Jahre alt und unser kleiner John, 7 Jahre alt."

Die Kinder, zumindest die beiden Mädchen und der jüngste, schienen sich ein wenig hinter ihrer Mutter zu verstecken. Mary versuchte, sie aufmunternd anzulächeln, als Lizzy auch schon fortfuhr. "Ah, und hier kommt unsere wundervolle Miss Margaret Dashwood."

Ein Mädchen von vielleicht 24 Jahren betrat das Teezimmer. Sie hatte blonde Locken, blaue Augen, rosige Wangen und ein einnehmendes Lächeln.

"Margaret, das ist meine Schwester Mary," stellte Elizabeth die beiden einander vor.

"Sehr erfreut, Miss Bennet, ich habe schon so viel von Ihnen gehört."

"Ebenso, Miss Dashwood. Und darf ich Ihnen bei dieser Gelegenheit zu Ihrer Verlobung gratulieren?"

"Vielen Dank, Miss Bennet."

Wahrscheinlich hätten die beiden Damen noch mehr Worte miteinander wechseln können, wenn nicht die Kinder nach ungeteilter Aufmerksamkeit verlangt hätten.

"Mama, wir haben einen Frosch gesehen!" berichtete der älteste der vier Geschwister voll Enthusiasmus, begleitet von passenden Kommentaren seiner Geschwister und Erklärungen von Margaret Dashwood.

Derweil waren Mr. Darcy und Colonel Fitzwilliam in ihr eigenes Gespräch vertieft und Mary lauschte eher unbeteiligt der Erzählung des Froschabenteuers. Nun ja, sie versuchte zuzuhören, ertappte sich aber immer wieder dabei, wie sie auf ihre dampfende Teetasse starrte, ohne überhaupt an etwas zu denken. Die Reise hatte sie doch mehr beansprucht, als sie angenommen hatte.

"Miss Bennet," sprach sie Margaret an. "Ich bin so froh, dass sie so früh kommen konnten. Ich werde bald nach Matlock Manor abreisen müssen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen."

"Das ist doch das Anwesen der Fitzwilliams, wenn ich mich nicht irre," unterbrach Mary sie.

"Ja, das ist es. Dort wird auch die Hochzeit statt finden. Ich bin so glücklich. Es ist ein wunderbares Haus. Mein Verlobter und ich werden aber nach unserer Heirat nach Indien gehen, wo er in der Armee beschäftigt ist. Ich wollte immer schon nach Indien."

Mary lächelte, anstatt zu antworten.

Nach dem Abendessen fand sich die Gesellschaft, diesmal ohne Kinder, wieder im Teezimmer ein, in dem auch ein braunes Pianoforte stand. Auf Wunsch des Colonels nahm Miss Dashwood daran Platz und sang und spielte so wundervoll, wie es zu ihrem zarten Äußeren passte. Die anderen waren verzückt und verlangten nach mehr Musik, doch Miss Dashwood merkte an, dass sie alle in den letzten Jahren genug von ihrem Spiel gehört hatten und vielleicht Miss Bennet bereit wäre, die willkommene Abwechslung zu bieten. Jene setzte sich, wie gewünscht, ans Pianoforte (nicht ohne, dass Elizabeth an vergangene Jahre erinnert zusammenzuckte) und begann etwas von Beethoven zu spielen, jedoch nicht mit ihrem Gesang zu begleiten. Nein, Mary wusste, dass sie Lieder vielleicht perfekt, doch niemals mit so viel Gefühl singen konnte, wie Lizzy, oder eben die bezaubernde Miss Dashwood. Schmerzliche Erfahrungen hatte sie in dieser Hinsicht in ihrem ersten Jahr als Lehrerin in London machen müssen, als sich die Töchter der hoch angesehen Familien über sie belustigt hatten. Seitdem hatte Mary nie wieder vor anderen gesungen, nur für sich selbst, denn sie liebte es zu singen, wollte sich jedoch um alles in der Welt die sichere Beschämung eines öffentlichen Auftrittes ersparen.

Als sie geendet hatte, folgte höflicher Applaus und eine Frage des Colonels: "Miss Bennet, ich bin verzaubert ob Ihres spielerischen Könnens," sagte er mit einem Lächeln um die Lippen, "doch wollen Sie uns gar nicht mit Ihrem Gesang beehren?"

Diesmal hatte Mary eine gute Antwort parat, über die sie nicht lange nachdenken musste: "Glauben Sie mir, Colonel, ließe ich meine Stimme erklingen, so fänden Sie das Stück bestenfalls noch halb so schön. Und wie könnte ich mit Absicht die Empfindungen aller so grausam schmälern wollen?"

"Darüber kann ich mir in der Tat kein Urteil erlauben."

Etwa zwei Stunden verbrachten sie noch ins Gespräch vertieft im Teezimmer. Als die Uhr zehn schlug, verabschiedete sich der Colonel mit dem Hinweis darauf, dass ein anstrengender Tag hinter ihm und ein weiterer vor ihm lag.

Schon war Richard Fitzwilliam verschwunden und auch die anderen begaben sich nach und nach in ihre Gemächer.

Als Mary am Abend in ihrem Bett lag, konnte sie nicht umhin, festzustellen, wie wenig der Colonel und Miss Dashwood ein Liebespaar zu sein schienen, in Anbetracht der Tatsache, dass die beiden in wenigen Wochen den Bund der Ehe eingehen würden. Doch welchen Grund sollte es neben der Aussicht, nach Indien reisen zu können, für eine Heirat zwischen ihnen geben? Als zweiter Sohn der Familie konnte Richard Fitzwilliam nicht über viel Geld verfügen und Miss Dashwood wäre sicher nicht Lehrerin geworden, besäße sie ein Vermögen. Vielleicht hatte sie ja ein Vermögen von einer Tante geerbt. In derartige Gedanken vertieft, schlief Mary schließlich erschöpft ein.