- KAPITEL ZWÖLF -
Endlich...
Nachdem sich Nala wieder etwas erholt hatte, beobachtete sie ihren
Reisebegleiter aus den Augenwinkeln. Er packte gerade sein Tagebuch mit dem
schwarzen Ledereinband weg und trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Danach
lehnte er sich zurück in seinen Sitz und schloss die Augen. Ein Schmunzeln flog
über Nalas Gesicht, während sie sich seine Kleidung einmal etwas genauer ansah.
Er trug natürlich seine üblichen schwarzen Hosen, doch seinen Frack hatte er
für einmal ausgetauscht. Stattdessen trug er einen dunkelblauen Pullover und am
Hals schaute ein weisser Hemdkragen hervor. Sein schwarzer Mantel und sein
schwarzer Schal hatte e abgelegt, wobei ihm Letzterer nun als Kopfkissen
diente. Müde und erschöpft sah er aus und sein Erscheinen war irgendwie gar
nicht mehr einschüchternd, sondern irgendwie anders. Wie anders, konnte Nala
nicht sagen. Einfach anders.
Während Snape schlief machte sie einen kleinen Spaziergang durch den Zug und
als sie zurückkam, hatte sie immer noch viel Zeit, um nachzudenken. Erst jetzt
begann sie zu verstehen, was Snape vorhin zu ihr gesagt hatte. Ihr wurde klar,
dass es eigentlich wirklich nur eine Nebensache war, ob nun Snape oder ein
anderer Sean getötet hatte. Sean wäre so oder so tot. Ihr wurde bewusst, dass
Snape keine Wahl gehabt hatte, wenn er im Sinne von Dumbledore Spion hatte
bleiben wollen, und wenn er nicht selbst getötet werden wollte. Sean war
einfach ein weiteres der vielen Opfer Voldemorts und Snape war nur sein
Werkzeug gewesen. So und nicht anders wollte sie die Sache ab jetzt betrachten.
Das nahm sie sich fest vor. Sie musste versuchen die Schuld nicht ihm zu geben.
Aber im Moment wollte sie eigentlich gar nicht mehr daran denken. Sie wollte
sich nun lieber auf Florenz freuen und das Beste daraus machen. "Das Beste
daraus machen" bedeutete für sie nun eben auch, mit Snape klarzukommen und
es doch irgendwie zu geniessen. So schwer konnte das doch nicht sein, immerhin
war er seit letzter Nacht sogar recht freundlich zu ihr. Und ziemlich erstaunt
hatte sie eigentlich auch, dass er ein ganz kleines bisschen Gefühl gezeigt
hatte vorhin, als er ihr gesagt hatte, dass er es hatte tun müssen. Es tat ihm
tatsächlich leid. Vielleicht würde sie diesen Menschen doch noch von einer
anderen Seite kennen lernen und Severus war wirklich nicht der, für den sie ihn
hielt, wie ihr Dumbledore so schön gesagt hatte. Immerhin fand sie es mutig und
ehrlich von ihm, dass er ihr vorhin die Wahrheit gesagt hatte. Diese
Ehrlichkeit schätzte sie, das war ja schon mal etwas.
Irgendwann schloss auch Nala ihre Augen und genoss einfach die Ruhe, bis auch
sie einschlief. Es war schon halb 3 Uhr in der Früh, als sie von einer sanften
Hand auf der Schulter wachgestupst wurde.
"Wir sind in London. Ich glaube, wir müssen zum Waterloo Bahnhof. Wissen
Sie, wie man dort hinkommt?" fragte er schon etwas nervös.
Nala nickte noch benommen und schläfrig. "Ja, kein Problem. Wir haben auch
gar keinen Stress, denn der Zug fährt erst um 5:15 Uhr."
Keineswegs beruhigter, reichte er ihr ihren Mantel, ihren Schal und ihre
Handschuhe und wartete ungeduldig, bis sie sich endlich angezogen hatte. Nala
wollte ihn zusätzlich noch etwas quälen zum Spass, deshalb zog sie ihren letzen
weissen Handschuh ganz besonders langsam an.
Dann musste sie sich schnell noch ihre Tasche schnappen, denn er war schon
ausgestiegen. Draussen auf dem Bahnsteig wehte ihr en eiskalter Wind ins
Gesicht und sie atmete die frische Luft ein. Snape ging noch voraus durch die
Schranke, die beide in die Muggel-Welt brachte, aber danach musste er Nala die
Führung überlassen. Wieder einmal musste Nala lächeln, als sie den einst so
strengen und gehässigen Mann, nun so hinter sich her schlendern sah, völlig
entblösst in dieser Welt, mit grossen, aber skeptischen Augen und sein
Handgepäck mit beiden Händen festhaltend.
Der einfachste Weg um diese Zeit den Waterloo Bahnhof zu erreichen, war, sich
ein Londoner "Cab" zu nehmen. Kaum hatten sie den Bahnhof verlassen,
konnte Nala auch schon eines zu sich rufen, aber bevor sie einsteigen konnte,
musste sie Snape noch ganz genau erklären, was das Ganze soll. Er fand die Idee
mit dieser schwarzen Blechkiste herumzufahren nicht so toll. Misstrauisch und
leise vor sich hin knurrend folgte er dann doch noch Nala ins Taxi.
"Zum Waterloo Bahnhof, bitte", meinte Nala höflich.
"Sicher, aber was wollen Sie um diese Zeit dort?" fragte der
Taxi-Fahrer erstaunt.
"Das geht Sie nichts an", knurrte Snape den Mann von hinten an.
"Ach, ist schon gut", beschwichtigte Nala. "Unser Zug fährt
dort, aber leider erst in über zwei Stunden."
"Das ist kein Problem, Miss. Es gibt dort ein Bahnhof-Bistro, dass auch um
diese Zeit geöffnet hat. Ich kann es Ihnen nur empfehlen, denn dort ist es
wenigstens warm."
"Vielen Dank für den Tipp", sagte Nala, während sie Snape sanft in
die Seite boxte. Dan flüsterte sie ihm zu: "Sehen Sie? Er konnte uns
helfen? Wenigstens sitzen wir jetzt nicht in der Kälte herum." Sie sah ihn
streng an, aber mit einem Schmunzeln auf den Lippen an und Snape antwortete
nicht mehr.
Am Bahnhof angekommen, bezahlte sie den Taxifahrer und war sehr froh, dass
Hagrid sich schon um die fremde Währung gekümmert hatte. Sie besass nun neben
ein paar Pfund auch noch Euros. In diesem Punkt waren die Muggel wirklich sehr
seltsam. Wieso brauchten sie überhaupt auf der ganzen Welt so viele
verschiedene Währungen?
Wie ihnen geraten, gingen Nala und Severus in das Bistro am Bahnhof, wo Nala
sich eine heisse Schokolade bestellte und Snape einen Pfefferminztee. Während
Snape seine Hände an der heissen Tasse wärmte und ab und zu an seinem Tee
nippte, befasste sich Nala mit ihrem Buch über Horoskope. Snape schaute eine
Weile zu, wie sie in diesem Buch blätterte, dann fragte er:
"Glauben Sie, was in diesem Buch steht?"
"Manchmal", schmunzelte sie.
"Was sind Sie für ein Sternzeichen? Sie sind doch Widder, oder?"
Nala starrte ihn mit grossen Augen an. "Woher wissen Sie das?"
"Mit Ihrem Dickschädel und Ihrer Angriffslustigkeit ist das
offensichtlich", sagte er ganz sachlich und überzeugt.
"Ach, diese Eigenschaften könnte ich Ihnen genauso zusprechen, aber ich
glaube Sie sind eher ein Skorpion oder ein Löwe", gab sie schnippisch
zurück.
"Darf ich das Buch einmal sehen?" fragte er unbeirrt weiter.
"Nur, wenn Sie mir sagen, wann Sie Geburtstag haben" grinste Nala
frech. Auf einmal interessierte es sie brennend, wann er Geburtstag hatte.
"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Aber gut, ich bin an einem 25. Juli
geboren." Er streckte seine Hand nach dem Buch aus.
"Also doch ein Löwe", lächelte sie und reichte ihm ihr Buch.
Er begann gleich in dem Buch herumzublättern, als würde er etwas Bestimmtes
suchen. Nach kurzer Zeit hatte er anscheinend schon gefunden, wonach er suchte.
"Da. Sehen Sie? Ich hatte recht!" grinste Severus hämisch. "Hier
steht es: 'Die vom Feuerplaneten Mars beherrschten Widder-Menschen sind
angriffslustig, doch ebenso naturliebend.' Oder hier noch ein Beweis. 'Es
ist der sprichwörtliche Dickkopf, der manchmal sogar die besten Freunde an den
Widder-Menschen zweifeln lässt.' Was sagen Sie jetzt?"
"Schon gut, schon gut", stöhnte Nala. "Sie haben auch Ihre
Schwächen!"
Doch Snape hörte gar nicht recht zu, sondern stöberte genüsslich in dem Buch
weiter. Ein paar Seiten weiter stiess er auf etwas, dass ihm noch viel
interessanter fand.
"Oh, das ist köstlich! 'Dieses Mädchen muss man lieben!', steht
hier. So, so." Er las still weiter, während er immer wieder Laute von sich
gab wie "Aha, da sehen wir es" oder "Interessant..."
Dabei war Nalas Gesicht schon knallrosa. "Geben Sie wieder her!"
schnaubte sie.
"Ah, jetzt kommt das Beste! 'Welcher Mann zu ihr passt...' "
Aber da hörte er plötzlich auf zu lesen. Ein wenig verlegen, gab er ihr das
Buch zurück.
"Sie sind doch ein Idiot", sagte Nala, aber in einem leicht
verspielten Ton. Nun las sie für sich weiter, wo er aufgehört hatte.
...Anders ist das, wenn ein Löwen-Mann von ihr angeworben wurde. Er wird trotz
königlicher Haltung bei ihr zärtlich schnurren und sie nur im Notfall böse
anfauchen, vor allem, wenn er schon manchen heftigen Einsatz in Liebesgefechten
hinter sich hat.
"Das ist allerdings interessant", dachte sie bei sich, gab aber
keinen Kommentar ab.
Doch sie konnte einfach nicht anders und las nach, was denn so über die Löwen
stand. Jetzt war sie an der Reihe ihn in Verlegenheit zu bringen.
"Ich werde Ihnen sagen, was hier über Löwen geschrieben wird. Hier steht,
dass er sehr grosszügig, gutmütig und hilfsbereit sein kann, aber auch sehr
egoistisch. Kein Kommentar." Sie schenkte ihm einen durchdringenden Blick
und lächelte schelmisch. "Hmm, hier machen Sie wohl eine Ausnahme... Es
wird gesagt, dass ein Löwen-Mensch sich gerne und viel im Mittelpunkt sonnt. 'Keiner
sollte ihm widersprechen...' Das ist jedoch wieder sehr wahr." Dann
zog sie eine Augenbraue hoch und meinte: " 'Vorsicht, reizt man ihn
einmal doch zu sehr, kann er schon mal zubeissen.' Wie wahr..." Sie
klappte das Buch zu, während sie ihn musterte.
Zuerst druckste er etwas herum, aber dann kam doch noch eine Antwort. "Ich
glaube, ich bin Ihnen noch eine Entschuldigung schuldig. Es tut mir leid, dass
ich Sie an diesem Abend zu Halloween so behandelt habe. Ich wollte sie nicht
beissen oder sonst irgendwie verletzen. Ich weiss selbst nicht, was mich dort
überkommen hat. Ich hoffe, Sie können mir das irgendwann verzeihen."
Beschämt sah er in seine Tasse.
Im ersten Augenblick war Nala sprachlos. Mit dieser Entschuldigung hatte sie
nicht mehr gerechnet und eigentlich hatte sie dieses Ereignis schon fast
vergessen gehabt. Aber er hatte es offensichtlich nicht vergessen und nun
fühlte sie sich plötzlich leicht ums Herz wegen dieser Entschuldigung.
"Ich hätte nicht gedacht, dass du dich deswegen noch jemals entschuldigen
würdest, Severus." Ganz automatisch war sie auf das vertraute
"Du" übergegangen. Schon vorhin im Taxi war es ihr irgendwie seltsam
vorgekommen, dass sie sich immer noch so formal anredeten. Es stimmte einfach nicht
mehr und vor allem würden sie nun eine ganze Weile aufeinander hocken, das
musste man so einfach wie möglich handhaben. Ausserdem war sie mit den meisten
Lehrern von Hogwarts per Du, es war schon fast lächerlich, dass sie es nicht
mit ihm war. So hatte sie nun ganz selbstverständlich den Anfang gemacht, war
aber etwas angespannt, weil sie nicht wusste, wie er jetzt reagieren würde.
"Miss, ich..."
"Nala", unterbrach sie ihn und zwinkerte ihm zu.
Da hatte Severus das Gefühl, sein Magen würde verrückt spielen. Er hatte wahrscheinlich
schon Sehnsucht nach einem Frühstück, dachte er und richtete seine Gedanken
wieder ihr zu. Er grämte sich dafür, was er getan hatte, doch irgendwie wollte
er sie doch ansehen.
"Nala, es tut mir wirklich leid, auch dass du so lange darauf warten
musstest. Bitte, verzeih." Kleine Sorgenfalten waren in seinem Gesicht,
doch seine Augen wichen ihr nicht mehr aus.
"Ich denke schon, dass ich dir das verzeihen kann. Ist ja nichts all zu
Schlimmes passiert." Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln und er nickte
schwach zurück, wobei er kurz die Augen schloss.
Sie war überrascht, wie zivilisiert er sich plötzlich mit ihr unterhielt. Wenn
er so war, konnte sie ihn eigentlich recht gut ertragen.
Schliesslich erklärte Nala ihm die genaue Reiseroute. Irgendwie verging die
Zeit dann plötzlich sehr schnell und sie konnten in ihren Zug einsteigen. Snape
setzte sich in einem Abteil ans Fenster. Nala nahm neben ihm Platz und zog ihre
Schuhe aus.
"Was tust du da?" fragte er verwundert.
"Nach was sieht es denn aus? Ich kann nicht mehr sitzen. Ich muss meine
Beine strecken." Sie legte ihre Füsse auf den Sitz ihr gegenüber, während
Snape seine Beine einfach unter den gegenüberliegenden Sitz ausstreckte. Nala
machte es sich so richtig bequem und mit der Entspanntheit kam auch die
Müdigkeit zurück. Bald schlief sie ein.
Als sie langsam wieder erwachte, fühlte sie sich so wohl wie schon lange nicht
mehr. Ihr Kopf war auf etwas gebettet, das unheimlich gut roch. Sie kannte
diesen Geruch, aber nur schleppend dämmerte ihr, woher er stammte. Sie lag auf
Snapes Brust! Sein Arm war um sie gelegt und er atmete tief und regelmässig.
Während sie so da lag und sich nicht traute sich zu bewegen, horchte sie auf
seinen Herzschlag, dann schloss sie beruhigt noch einmal kurz ihre Augen.
Schnell wurde ihr aber bewusst, was sie da eigentlich tat. Vorsichtig hob sie
seinen Arm hoch, um sich zu befreien, doch er hob seinen Arm von alleine.
Severus war schon länger halbwach gewesen und hatte sie studiert. Er hatte
keine Ahnung, wie sie beide in diese Position geraten waren, aber er hatte es
nicht übers Herz gebracht, sie in ihrem friedlichen Schlaf zu stören. Also
wollte er warten, bis sie von selber aufwachen würde. In der Zwischenzeit
machte er seine Augen wieder zu und döste vor sich hin. Erst als sie sich
regte, kam auch er wieder in die Gänge.
"Sorry", flüsterte Nala verlegen. Sie bekam nur ein "Hmm"
als Antwort. Dann schnappte sie sich ihren Geldbeutel und verschwand. Nachdem
sie auf der Toilette gewesen war, holte sie für Severus und sich Kaffe. Als sie
ihm den heissen Becher unter die Nase hielt, nahm er ihn dankend an.
Die weitere Reise verlief ruhig und ohne Zwischenfälle. In Paris mussten die
beiden umsteigen, doch dann hatten sie einen Zug, der sie direkt über Mailand
nach Florenz brachte. Aber die Reise dauerte sehr lange. Erst spät am Abend
kamen die beiden müde und erschöpft endlich in Dumbledores Wohnung an, die zum
Glück nicht weit vom Bahnhof entfernt war.
Es war eine niedliche kleine Wohnung auf dem Dach eines Hauses im typischen
Baustil der Florentiner Renaissance. Nala hatte sich sofort in die grosse
Dachterrasse verliebt, auf der eine feine Schneedecke lag. Es schneite ganz
leicht und es war wohl eine der wenigen Nächte des Jahres, in denen es in
dieser Stadt schneite. Ausser einer Gartenbank und einem wetterfesten Tisch gab
es eigentlich aber nichts auf der Terrasse. Im Innern der Wohnung sah es ganz
anders aus. Küche und Badezimmer waren modern eingerichtet und so auch das
Wohnzimmer. Nur einzelne Möbelstücke, wie ein Bücherregal oder ein Sessel,
erinnerten sie an Hogwarts.
Bald aber stellte sich schon das erste Problem. Es gab nur ein Schlafzimmer mit
einem Doppelbett darin. Nala hatte zwar gerade so etwas wie Waffenstillstand
mit Severus, aber ein Bett würde sie sich auf keinen Fall mit ihm teilen. Da
sie fiel zu müde war, um noch irgendetwas zu diskutieren, zog sie einfach ihren
Zauberstab hervor und verwandelte das Sofa im Wohnzimmer in ein Bett. Während
Severus noch im Badezimmer war, hatte sie ihr Pyjama schon angezogen und machte
es sich in ihrem selbstgemachten Bett bequem.
"Willst du nicht erst kurz auspacken?" fragte Severus mit einem
genervten Unterton und deutete auf Nalas geöffnete Tasche, die mitten im
Wohnzimmer auf dem Boden lag. Die Kleidung, die Nala vorhin noch getragen
hatte, schaute etwas unordentlich aus der Tasche heraus.
"Morgen. Ich will nur noch schlafen", murmelte Nala.
"Bist du immer so chaotisch?" eiste er sie an.
Nala drehte sich auf den Bauch, zog die Decke über den Kopf und brummte:
"Gute Nacht, Severus!"
