Zufrieden lehnte Jem sich zurück und betrachtete seine Familie. Faith saß neben ihm und öffnete grade einen Brief, der heute aus Toronto gekommen war. Eine Strähne ihres blonden Haares löste sich und fiel ihr ins Gesicht. Jem beugte sich vor und strich sie zurück. Faith lächelte ihren Mann an. Obwohl sie nun schon 18 Jahre verheiratet waren, liebte Jem sie noch immer so, wie am ersten Tag. Er betrachtete sie und dachte bei sich: Sie hat sich gut gehalten, wirklich gut. Nan ist ja mittlerweile ziemlich in die Breite gegangen, dabei war sie doch früher so schlank. Faith dagegen ist immer noch ziemlich hübsch. Was habe ich nur für ein Glück gehabt, dass ich sie bekommen habe…

Joy kicherte und stieß ihre Zwillingsschwester Merry an. Merry ließ sich zu einem Lächeln herab und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Die beiden waren sehr verschieden, Joy hatte die langen blonden Haare und grünen Augen ihrer Mutter geerbt. Sie war mit ihren 14 Jahren schon eine richtige Schönheit und wusste das auch. Joy war etwas eingebildet und manchmal benahm sie sich hochnäsig, aber alles in allem war sie eigentlich ein liebes Mädchen, auch wenn sie, wie Faith oft sagte, viel zu viel Interesse auf ihr Aussehen und auf Jungen verschwendete. Jem musste grinsen, als er das dachte. Faith war genauso gewesen und er rieb es ihr nur zu gerne unter die Nase. „Wie die Mutter, so die Tochter."

Merry hatte nichts von der Schönheit ihrer Mutter. Sie hatte rostrote, krause Haare und braune Augen. Sie war klein und ein bisschen pummelig, aber ein wirklich liebes und wohlerzogenes Mädchen. Sie war feinfühlig, höflich und brav. Mit Merry hab es selten Schwierigkeiten, mit Joy dagegen öfters. Niemand merkte Merry an, wie sehr sie Joy beneidete. Sie stand immer im Schatten ihrer, 2 Minuten älteren, Schwester und neidete ihr ihre Schönheit und ihren Charme. Keins der beiden Mädchen war besonders intelligent, aber die würden später gute Hausfrauen abgeben und keine der beiden hatte einen größeren Ehrgeiz, als zu Heiraten und Kinder zu kriegen.

In dem Moment kam James herein. Er war mit Abstand der älteste und schon recht vernünftig. Als er seine Schwestern sah, verdrehte er die Augen, machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. James hielt recht wenig von der eher oberflächlichen Joy und der ewig braven Merry. Er war der klügste, der vier Blythe- Kinder und würde einmal in die Fußstapfen seines Vaters treten und Arzt werden. Das schien langsam in eine Art Tradition auszuarten. James hatte den Ruf ein ziemlicher Herzensbrecher zu sein und so falsch war das gar nicht. Er sah verdammt gut aus, mit seinen schwarzen Haaren, die ihm immer leicht wirr in die Stirn vielen und seinen bezwingenden grünen Augen, den Augen seiner Mutter.

Vom Charakter her kam James eher nach seinem Vater. Auch er war der Standhafte und Furchtlose und zog seine jüngeren Geschwister gerne auf. Er brachte eigentlich jeden Sonntag ein anderes Mädchen von der Kirche nach Hause, ging auf jeder Tanzparty mit einer anderen und manch eine nahm er auch mit auf einen abendlichen Spaziergang durchs Regenbogental, doch keins der Mädchen bedeutete James etwas. Vorerst hatte er nur sein Studium im Kopf und sein Vater war da auch recht froh drüber. Faith dagegen machte sich manchmal Gedanken über ihren Ältesten. Er schien keinerlei Interesse daran zu haben, zu heiraten. Eine Zeit lange hatte Faith gehofft, er wurde sich in Annie verlieben, die älteste Tochter von Jerry und Nan, aber James hatte ihre Hoffnungen recht schnell zunichte gemacht. Nach wie vor nannte er Annie nur „Rotschopf die Erste".

Rotschopf die Zweite war Carls Tochter Rachel und Rotschopf die Dritte Dis Tochter Phil. Faith jüngster Sohn hatte ebenfalls rote Haare und Joe wurde von seinem Bruder meistens „Rübe" gerufen. James hatte eigentlich für jeden einen Spitznamen und die wenigsten davon waren freundlich. Der einzige freundliche Name, den Faith je aus seinem Mund gehört hatte war an Opal gerichtet gewesen, Rillas Tochter. Nun ja, es war kein richtiger Spitzname gewesen, James hatte mal gesagt, sie sähe aus wie eine Mondschein-Göttin. Faith musste zugeben, das es sogar passte. Opal hatte die weiße Haut und zarte Gestalt ihrer Mutter geerbt. Überhaupt sah sie Rilla sehr ähnlich, auch wenn die Haare ein paar Nuancen dunkler waren und die Augen eher die von Ken. Das war auch einer der Gründe, wieso der Inhalt des Briefes Faith so freute. Rilla hatte zugesagt, die sie, Ken und ihre zwei Kinder nächstes Wochenende nach Ingleside kommen und auch ein paar Wochen bleiben würden. Ihr Kommen hatte bis zu letzt auf der Kippe gestanden, denn Ken war ein viel beschäftigter Anwalt in Toronto und so einfach konnte er seine Kanzlei nicht für ein paar Wochen schließen.

Faith hatte allerdings das sichere Gefühl, das da niemand anders als Rilla selbst hinter steckte. Rilla hatte den Rat, den ihr ihre Mutter vor der Hochzeit gegeben hatte („Gib deinem Mann das Gefühl, er wäre der Herr im Haus, auch wenn in Wirklichkeit du die Entscheidungen triffst. Lass ihn einfach glauben, es wären seine eignen.") beherzigt und kriegte somit fast alles, was sie wollte. Das lag wohl nicht nur daran, das Rilla es aufs Beste verstand Ken zu „manipulieren", sondern auch daran, dass Ken seiner Frau keinen Wunsch abschlagen konnte. Selbst nach 17-jähriger Ehe versuchte er immer noch, ihr jeden noch so kleinen Wunsch von den Augen abzulesen. Da Rilla aber meistens dasselbe Tat waren sie durchaus quitt.

Das Telefon riss sowohl Faith, als auch Jem aus ihren Gedanken. „Ich geh schon", sagte Joe, sprang vom Boden auf, lief ins Nebenzimmer und riss den Hörer von der Gabel. „Ingleside, John Blythe am Apparat", meldete er sich vorschriftlich. Wenige Sekunden später rief er: „Für dich, Dad." Jem stand seufzend auf, hoffentlich kein Patient. Er hatte sich auf einen geruhsamen Abend im Kreise der Familie gefreut, aber daraus würde wohl nichts werden. Nächstes Wochenende schon wurde das Haus voll sein, wenn Shirley und Persis mit den Kindern und hoffentlich auch Rilla und Ken kommen würden. Jem wusste noch nichts von der Zusage seiner kleinen Schwester, denn Faith hatte noch nicht erzählt, was in dem Brief stand. Auch Anne und Gilbert hatten ihr Kommen angemeldet. Jonas und Di mit Gefolge würden, ebenso wie Carl, Jane und ihre Kinder, im Pfarrhaus bei Nan und Jerry wohnen.

Jem stand auf, ging ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich. Faith ließ Rillas Brief sinken und griff nach ihrem Strickzeug. Sie beobachtete ihre Kinder. Merry las immer noch und lies sich in eine Welt von tapferen Rittern, bösen Drachen und schönen Burgfräulein entführen. Joy saß neben ihr, hatte ein Tuch, an dem sie grade stickte auf dem Schoß und blickte verträumt lächelnd in die Flammen des Kaminfeuers. Faith fragte sich, an welchen Jungen Joy jetzt grade dachte. Sie war schon irgendwie gestraft, ihre beiden Ältesten hatten entschieden zu viel Interesse am anderen Geschlecht. Aber war das nicht zu erwarten gewesen? Schließlich waren Jem und sie selber ja früher genauso gewesen. Vor dem Krieg.

Krieg… in Europa braute sich wieder etwas zusammen, so ganz gefiel das Faith nicht. Nächstes Jahr, 1939, würde James 18 sein und somit alt genug um… nicht dran denken. Außerdem musste man ja nicht den Teufel an die Wand malen. Bisher gab es keinen Krieg und es würde auch nichts geschehen, der letzte Krieg lag doch noch keine 20 Jahre zurück. Die Menschheit hatte gelernt. Oder? Faith Blick klebte an James. Er stand an der Wand, vertieft in ein Buch über Medizin. Er lernte viel und würde sicher einen guten Arzt abgeben. Wenn nicht… nun ja, Faith war auf jeden Fall froh, das ihr anderer Sohn, Joe, erst 12 war. Er würde ihr noch länger bleiben.

Zärtlich sah Faith ihren Jüngsten an. Vom Äußerlichen erinnerte er sehr an Jem, mit seinen rotblonden Locken und den braunen Augen. In seinem Innern jedoch war Joe ein stiller und verträumter Junge, der allerdings ebenso intelligent zu sein schien wie sein älterer Bruder. Anders als James, war Joe eher unauffällig und zeigte seine Intelligenz selten. Er war jedoch nicht schüchtern und hatte einen versteckten Sinn für Humor. Jem sagte immer, Joe hatte Shirleys Sohn werden müssen und er hatte Recht damit. Joe glich Shirley mehr als dessen eigene Söhne.

Jem kam wieder herein. „Mrs. Elliot scheint nun endgültig im Sterben zu liegen. Ich muss hin. Sie ist jetzt auch schon 87 Jahre alt, wird ja irgendwie langsam Zeit", erklärte er, während er nach seiner Tasche griff und sich den Mantel anzog. „Jem", Faith war entrüstet, „wie kannst du…" „Schon gut, schon gut", beruhigte Jem sie grinsend, „ich sag ja nichts mehr. Aber stimmen tut es ja doch." James lachte und gab seinem Vater Recht. Joy kicherte, während Merry kaum von ihrem Buch aufsah. Joe lag bewegungslos neben dem Kamin, den Arm um Foxy geschlungen, den Familienhund. Jems alter Hund Monday war 5 Jahre nach ihrer Heirat gestorben und Foxy war jetzt schon der vierte Hund, der auf Ingleside lebte, seit Faith und Jem es ihr Eigen nannten. Foxy war ein großer, brauner Hund. Seine Rasse war schwer definierbar, aber Jem tippte auf irgendetwas Labrador- mäßiges.

Jetzt küsste er Faith auf die Wange und sagte: „Warte nicht auf mich, wird wohl länger dauern. Joe, es ist langsam Zeit ins Bett zu gehen und ihr Mädchen müsste auch bald." Es gab zwar Gemurre, aber keiner Widersprach und Jem verschwand zur Tür hinaus. James stieß sich von der Wand ab. „Ich geh hoch, muss noch lernen", sprachs und verschwand. Faith schickte Joe und die Mädchen hoch, sagte ihnen gute Nacht und legte sich dann selber hin. Sie sah, dass in Unas Zimmer noch Licht brannte.

Una war ihre Haushälterin, da sie sich nach Walters Tod nicht hatte entschließen können zu heiraten. Die Kinder mochten sie und grade Merry liebte sie heiß und innig. Faith seufzte, es tat Una nicht gut, das ganze Leben über so alleine zu sein, aber was sollte man machen? Rilla hatte einmal gesagt, Walter hätte Unas Herz mit in den Krieg und mit ins Grab genommen und Faith musste ihr Recht geben, so war es wohl. Außer Rilla, Faith und Anne wusste niemand, wieso Una nicht geheiratet hatte und niemand sollte es je erfahren. Faith ging ins Bett. Sie wollte aufbleiben, bis Jem heimkam und plante deswegen das Familientreffen der Blythes, Fords, Merediths und Blakes, aber als Jem gegen 2 Uhr nach Hause kam, schlief Faith bereits tief und fest.