Rilla kniff die Augen zusammen, als sie aus dem Zug stieg. Die Sonne blendete ganz schön. Rilla atmete einmal tief ein, endlich wieder zu Hause. In Toronto war es ja ganz nett, aber es war eben nicht Glen. Glen in den sie aufgewachsen war, ihre Kindheit und Jugend mit allen Hohen und Tiefen verbracht hatte. Und bald würde sie wieder in Ingleside sein. Wo sie ihren ersten Kuss bekommen hatte und wo Ken um ihre Hand angehalten hatte, damals, 18 Jahre zuvor. Wo sie geheiratet hatte und erwachsen geworden war. Ingleside, wo sie um Walter getrauert und um Jem gefürchtet und um alle Jungen gebangt hatte, während des Krieges.

Sie verband viele Erinnerungen mit diesem Ort, schöne und schreckliche. Aber auch mit Toronto verband sie Erinnerungen, hauptsächliche welche, die mit Ken und ihren Kindern zu tun hatten. Doch, auch in Toronto war es schön: sie bewohnten ein schönes, großes Stadthaus, Ken verdiente gut und sie lebten weiß Gott nicht in Armut. Es war eher so, das Rilla manchmal Angst hatte, ihre Kinder zu sehr zu verwöhnen. Sie hatte nur zwei. Man munkelte, dass Rilla deshalb nach Walter kein weiteres Kind bekommen hatte, weil sie in ihrer Jugend keine Babys hatte Leiden können, aber so war es nicht.

Vielmehr war es Ken gewesen, der seiner Frau das Versprechen hatte abgenommen keine weiteren Kinder auszutragen. Auch Ken hätte gerne mehr Kinder gehabt, doch da Rilla nach beiden Geburten sehr krank und teilweiße dem Tode nahe gewesen war, hatte Ken beschlossen, aus Angst um seine geliebte Frau, dass zwei Kinder genug waren. Rilla hatte nur widerwillig zugestimmt, aber sie wusste, dass Ken nie und nimmer zugelassen hätte, dass sie ihr Leben für ein ungeborenes Kind aufs Spiel setzte.

Opal trat neben sie und Rilla betrachtete ihre Tochter. Opal sah ihr nicht nur ähnlich, sie glich Rilla auch charakterlich. Zumindest der „Nachkriegs- Rilla" wie Ken es einmal ausgedrückt hatte. Tatsächlich hatte Opal nichts mit dem oberflächlichen, flatterhaften Ding gemeinsam, welches Rilla vor dem Krieg gewesen war, dafür aber umso mehr mit der ernsthaften, klugen und starken jungen Frau, die Kenneth nach seiner Rückkehr angetroffen hatte. Wie Rilla war auch Opal romantisch veranlagt und oft verträumt, dabei aber auch feinfühlig und manchmal ziemlich aufbrausend.

Viele Leute hatten sie gefragt, wie Rilla ausgerechnet auf den Namen Opal gekommen war, immerhin war der Name bisher weder bei den Blythes noch bei den Fords vorgekommen. Rilla antwortete auf solche Fragen meistens: „Es gibt so viele Annes und Dianas und James und so in meinem Umfeld, ich musste mir doch mal was neues einfallen lassen." Den wahren Grund wussten nur wenige. Rilla liebte Opale, sie erinnerten sie immer an zwei Dinge: zum einen wahren Opale Walters Lieblingssteine gewesen, zum anderen hatte Ken ihr aus dem Krieg eine Kette mit einem Opalanhänger zu Weihnachten geschickt (das war 1916 gewesen). Diese Kette war Rilla immer ein besonderer Schatz gewesen und sie hatte den Anhänger bis heute aufbewahrt.

Deshalb hatte Rilla ihre erste Tochter Opal genannt und Opal selber gefiel ihr Name ausnehmend gut. Opal, das klang so schön und elegant. Früher hatte Opal sich immer ausgemalt, sie wäre eine Prinzessin. Prinzessin Opal, wie gut das immer geklungen hatte. Mittlerweile war sie darüber hinweg, aber es gefiel ihr dennoch, wie die Leute sie ansahen, wenn sie ihren Namen das erste Mal hörten. Er war ungewöhnlich.

Walter sprang aus dem Zug und nahm die Koffer von seinem Vater entgegen. Rilla und Opal hatten nur ihre Handtaschen. Um die Koffer durften sich die Männer kümmern. Ken tat das sowieso, das war seine Erziehung und bei Walter kam noch hinzu, dass er sich sehr erwachsen dabei fühlte. Walter hatte wenig mit seinem gestorbenen Onkel gemeinsam, nach dem er benannt war, sondern kam nach seinem Vater. Er war ebenso groß und hatte die gleichen dunklen Haare und die dunkle, wohltönende Stimme wie Kenneth. Nur die dunkelgrauen, glänzenden Augen, das waren wirklich die von Rillas Bruder.

Ihr Sohn galt, wie sein Cousin James und auch wie sein Vater und sein Onkel Jem einst, als Herzensbrecher, allerdings war daran weniger dran als bei James. Er ging zwar manchmal mit Mädchen aus, aber er war praktisch genug veranlagt, um zu wissen, das er eines Tages eine von ihnen Heiraten wurde. Aber das war für Walter noch in weiter Ferne, immerhin war er erst 15 Jahre alt. Er wollte seinen Spaß haben und vier Wochen in Glen mit allen Cousinen und Cousins, das versprach spaßig zu werden.

Walter war schon ziemlich aufgeregt. Nervös spielte er mit dem Griff des Koffers. Wann waren die denn endlich fertig? Opal stand ruhig und aufrecht neben ihrer Mutter. Opal hatte dieses königliche Gebaren, was schon bei ihrer Großmutter Anne und auch bei ihrer Mutter vorhanden gewesen war und wurde deshalb oft für hochnäsig gehalten, was sie allerdings nicht war und wenn, dann nur ein kleines bisschen.

Ken stand nun ebenfalls auf dem Bahnsteig, der Zug für ab. Dann hörten sie Hufgetrappel und James bog mit der Ingleside- Kutsche um die Ecke. Er parierte die beiden braunen Wallache durch und sprang vom Bock. Er begrüßte seine Tante und seinen Onkel, dann Walter und schließlich Opal. Die beiden standen einander kurz gegenüber, bevor James ihre Hand nahm, sie kurz drückte und Opal schief angrinste. Dann schnappte er sich einen Koffer und ging zur Kutsche. Walter wandte sich grinsend ab und Rilla lächelte Ken viel sagend an, vielleicht würde da ja doch noch was draus werden…

Ein paar Minuten später standen sie auf der Veranda von Ingleside. Faith und die drei Jüngeren kamen heraus um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Jem war auf Krankenbesuch in Four Winds, hatte aber versprochen, sich zu beeilen. Nach der Begrüßung verschwanden James und Walter sofort nach oben. Die beiden verstanden sich trotz des Altersunterschiedes von 2 Jahren sehr gut, was daran liegen mochte, das sie mit Abstand die ältesten Jungen waren. Es gab mehr Mädchen als Jungen in dem Blythe-Meredith-Ford-Blake-Klan und meistens waren die Mädchen die Älteren. Außer Faith und Persis hatten alle Frauen erstmal Mädchen zur Welt gebracht. Di hatte keinen einzigen Sohn.

Rilla und Faith gingen in die Küchen und Opal ging mit Joy und Merry. Sie machte sich wenig aus ihren beiden Cousinen, aber da Ceci, Carls älteste Tochter, noch nicht da war und ihre Mutter ihr nicht erlaubte zum Pfarrhaus zu gehen und Annie zu besuchen, da Nan sicher sehr gestresst war, musste sie sich wohl oder übel mit den „Kleinen" abgeben. Joe war mit Foxy im Regenbogental verschwunden. Er war es gewohnt, dass ihn zu Hause meistens alle übersahen und war gerne im Pfarrhaus bei Bert, aber auch er durfte nicht rüber.

Ken leistete den Frauen in der Küche Gesellschaft und hörte sich grinsend ihr Gespräch an. Faith war ja an sich kein Lästermaul, aber sie hatte eine ganz schön spitze Zunge und wusste es nur zu gut, den neusten Klatsch aus Glen und Umgebung interessant zu verpacken. Grade an Mary Douglass (geb. Vance) und ihrer „Brut" ließ sie kein gutes Haar, es war offensichtlich, dass Faith Mary für eine unfähige Hausfrau und Mutter hielt. Aber Faith hatte besagte Mary noch nie Leiden können und das beruhte auch auf Gegenseitigkeit.

Eine halbe Stunde nach Eintreffen der Fords kam Jem nach Hause. Freudig begrüßte er seine Schwester und seinen Schwager, der gleichzeitig ein guter Freund von ihm war. Trotzdem war Ken vor seiner Hochzeit mit Jems Schwester ebenso wenig wie Jerry und Jonas um die Predigt des „großen Bruders" herumgekommen. Jerry und Ken allerdings waren ähnlich verfahren mit den Männern, die ihre Schwestern heiraten wollten. Die Frauen wussten zwar davon, sprachen es aber nie an, sondern grinsten nur, wenn das Thema angedeutet wurde.

„Ich war eben noch im Pfarrhaus. Carl und Jane mit ihren Kindern sind schon da. Mum und Dad und Jonas, Di und die Mädchen werden, wie Shirley und Persis mit ihren Dreien wohl erst morgen kommen. Nan hat uns eingeladen heute Abend vorbei zu kommen. Wir sollen nur kurz anrufen", fragend sah Jem in die Runde. „Also ich hätte nichts dagegen", erklärte Rilla und auch Faith stimmte zu. Ken grinste: „Seid doch ehrlich, ihr seid nur zu faul zum kochen." So ganz Unrecht hatte er da ja nicht, aber beide, Rilla und Faith, wären eher gestorben als das zuzugeben. Jem ging telefonieren um Nan Bescheid zu geben und danach setzten sie sich zusammen ins Wohnzimmer und redeten, bis es Abend wurde.