„Opal! Na endlich, ich dachte schon ihr kommt gar nicht mehr", rief Annie, während sie auf ihre Cousine zu rannte. Opal grinste heimlich und umarmte den Rotschopf. Annies graue Augen glitzerten, als sie begann auf Opal einzureden. Annie war das Abbild ihrer Großmutter Anne und glich der auch vom Charakter. Sie war ebenso fantasie- und temperamentvoll und manchmal zu überschwänglich. Komplettiert wurde das Trio durch Ceci Meredith, die grade aus dem Haus trat. Sie hatte schwarze Haare und ebenfalls graue Augen, in denen man ihre Stimmungen immer sehr genau sehen konnte. Ceci war das Gegenteil von Annie, sie war die Ruhige und Schüchterne und erinnerte die meisten sehr an ihre Tante Una.
In dem Moment trat Nan an die Tür. Sie schien zwar wütend zu sein, aber in Wirklichkeit versteckte sie ein Grinsen: „Anne Meredith, also wirklich, so benimmt man sich doch nicht. Habe ich dir denn gar nichts beigebracht?" „Anscheinend nicht", bemerkte Rilla und ging auf ihre Schwester zu, „lange nicht gesehen, Nan." „Rilla! Ja, ist wirklich schon eine ganze Zeit vergangen, seit unserer letzten Begegnung", stimmte Nan zu und musterte ihre ‚kleine' Schwester, „gut siehst du aus. Wie machst du das, Rilla? Ich bin in den letzten Jahren dermaßen in die Breite gegangen und du bist immer noch so schlank wie damals bei deiner Hochzeit." Rilla lachte: „Nun ja, soo schlank dann auch nicht mehr. WALTER! Kommst du jetzt endlich mal her? Rose und Rachel kannst du später noch verschüchtern, begrüß erstmal deine Tante. Opal!"
Opal seufzte still, das hasste sie an Verwandtenbesuchen. Normalerweise ging ihre Mutter mit Walter und ihr nicht so um. Der strenge war ihr Vater, aber wenn sie bei ihren Schwester war, dann konnte Rilla sich von ein auf die andere Sekunde ziemlich verändern. Während des Krieges damals, war die Kluft zwischen den Zwillingen und der ‚Kleinen' unüberbrückbar geworden und das zeigte sich bis heute. Keine wollte vor der anderen Schlecht dastehen. Sie ging auf ihre Tante zu und begrüßte sie freundlich lächelnd: „Guten Tag, Tante Nan. Darf man fragen, was es zu essen gibt? Hoffentlich das Lamm, deines ist immer köstlich." Nan lächelte geschmeichelt und Opal spürte den amüsierten Blick ihrer Mutter. Ja, das war eins der Dinge, die Opal, als kleines Kind, gelernt hatte, indem die Rilla beobachtet hatte: Manipuliere die Leute, ohne das sie es merken, dadurch verschaffst du dir nur Vorteile. Und Opal hatte schnell verstanden, dass man ohne diesen Leitspruch in der kanadischen Highsociety, in der sie, dank Kenneth, verkehrten, ziemlich hilflos war.
Ein Grinsen stahl sich über Opals Lippen, als sie ihren Bruder betrachtete. Er hatte sich grade mit Rose und Rachel unterhalten, den jüngeren Schwestern von Annie und Ceci. Rose war blond und hatte freundliche braune Augen. Sie war immer brav und höflich, ganz anders die rothaarige Rachel, deren grüne Augen immer frech und abenteuerlustig glänzten. Jetzt schlenderte Walter langsam auf sie zu. Klar, er musste sich natürlich mal wieder aufspielen. „Walter…", Rillas Stimme war zu ruhig, als sie das sagte, dann plötzlich grinste sie: „Aber okay, was habe ich erwartet, er ist immer noch Kens Sohn."
Und wieder wurde Nan manipuliert ohne es zu merken. Rilla führte ihrer Schwester heimlich, aber sehr wirkungsvoll vor Augen, wer von ihnen die bessere Partie gemacht hatte. Sicher, Jerry war nett, sah nicht schlecht aus und war nicht unbedingt arm, aber Rilla hatte es damals geschafft, den Herzensbrecher zu binden, während Nan sich mit dem brüderlichen Freund hatte ‚begnügen' müssen. „Tag, Tantchen", kam es vom Walter, was ihm einen warnenden Blick seiner Mutter einbrachte. Nan jedoch lächelte immer noch: „Kommt doch rein, Jerry, Carl und Jane sind im Wohnzimmer. Wann kommen Jem und Faith mit ihren Kindern?" „Gleich, Jem war noch auf einem dringenden Besuch und Faith wollte auf ihn warten." „In Ordnung, dann werden wir mit dem Essen noch nicht beginnen. Kommt Una?", fragte Nan weiter und Rilla antwortete schnell: „Ich weiß es nicht, sie wollte es sich noch überlegen."
Im Wohnzimmer saßen die beiden erwachsenen Meredithbrüder und Carls Frau zusammen. Blythe und Dave hockten in einer anderen Ecke und flüsterten. Beide waren sie dunkelhaarig (Blythe dunkelbraun, Dave schwarz) und blauäugig. Blythe war frech, wild und machte es seiner Mutter oft nicht einfach. Dave dagegen war eher still, aber sehr klug und listig. Zusammen heckten die zwei die komischsten Dinge aus. Von oben kam Bert herunter um Joe, seinen besten Freund, zu begrüßen. Bert war ebenfalls schwarzhaarig und, ähnlich wie sein Cousin Dave, klug und ruhig, aber bei ihm fehlte die Listigkeit. Seine Augen waren von einem angenehmen Schokoladenbraun und schienen immer zu Lächeln.
Nachdenklich betrachtete Opal ihre Tante Jane. Sie hatte rote Locken, wie so viele in der Familie. 5 der Kinder (Merry, Joe, Annie, Rachel und Phil) Di und Jem, außerdem Anne. Jane war immer freundlich und hatte ein angenehmes Wesen. Ihre jüngeren Kinder, Rachel und David, waren nach Janes Eltern benannt, die ums Leben gekommen waren, als sie noch ein Baby gewesen war. Carl hatte sie in Vancouver kennen gelernt, wo er sich zum Wissenschaftler hatte ausbilden lassen und einige Monate später hatten die zwei geheiratet. Rosemary betrat den Raum und verkündete, dass das Essen fertig sei.
Grade als alle sich gesetzt hatten, klingelte es an der Haustür. „Das werden Jem und Faith sein. Ich gehe aufmachen", erklärte Jerry und erhob sich. Er sollte Recht behalten und, zur Überraschung aller, kam auch seine jüngste Schwester ins Esszimmer. Una mied sonst die Zusammenkünfte vieler Menschen und grade mit der Familie kam sie nicht gut klar. Wieso wusste kaum jemand so genau, nur Rilla und Faith warfen einander einen traurigen Blick zu.
Oft schon hatte Opal sich gefragt, was mit Tante Una los war. Streng genommen war Una nicht ihre Tante, aber sie machten da keinen so genauen Unterschied, ob man jetzt wirklich mit jemandem verwandt war oder nicht. Blut hin oder her. Von Una glitt Opals Blick zu ihrem Bruder, der sich grinsend mit James unterhielt. Walter war nach dem verstorbenen Bruder ihrer Mutter benannt. Der war ein wirklich großartiger Dichter gewesen. Rilla hatte ihren Kindern früher immer seine Gedichte vorgelesen. Am berühmtesten war ‚Der Pfeifer', aber das Gedicht verstand Opal nur so halb. Sie hatte den Krieg nicht miterlebt, weshalb es ihr schwer fiel sich in das Gedicht rein zu versetzen.
Grade als sie fertig gegessen hatten, klingelte es wieder. Diesmal ging Annie öffnen und man hörte ihren erfreuten Aufschrei aus der Diele. Die Neuankömmlinge waren sowohl Persis und Shirley mit ihren Kindern, als auch Di und Jonas mit den Mädchen. Anne und Gilbert waren ebenfalls da. „Volles Haus", grinste Jerry, während seine Frau vollkommen hektisch in der Küche verschwand, um aus dem übergebliebenen Essen und den übrigen Lebensmitteln noch etwas zu zaubern.
Glich Joe äußerlich seinem Vater Jem und innerlich seinem Onkel Shirley, so war es bei Frankie umgekehrt. Er war mit seinen braunen Augen und Haaren das Abbild seines Vaters, vom Charakter her schlug der wilde und scheinbar immer aktive Junge aber nach seinem Onkel. Owen hatte ebenfalls die braunen Augen seines Vaters, aber die blonden Locken von Persis. Er war eigentlich immer freundlich und wohlerzogen. Lessy, das einzige Mädchen hatte die blauen Augen und den witzigen, aber leicht naiven Charakter der Mutter. Ihr Haar war von unscheinbarem hellbraun. Äußerlich erinnerte weder bei ihr, noch bei Owen etwas an die einstmals so gut aussehenden Großeltern, nach denen sie benannt waren. Franke trug den Namen von seinem Urgroßvater, dem Vater von Leslie.
Opal sah sich ihre Tante Di an. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass Di in Wirklichkeit lieber Ken, ihren Vater, geheiratet hätte, als Jonas Blake jr., aber da war ihr ihre eigene Schwester in die Quere geraten. Es schien, als würde Di Rilla eben das immer noch nachtragen. Nach dem Krieg hatte Di dann wohl lieber den Sohn von Philippa Blake, einer der besten Freundinnen ihrer Mutter, geheiratet, anstatt als alte Jungfer zu sterben wie Una es anscheinend vorhatte. Jonas liebte seine Frau von ganzem Herzen, die jedoch schien eher genervt zu sein.
War es ein Wunder, dass ihre Töchter Correy und Phil irgendwie ‚komisch' waren? Correy, benannt nach Miss Cornelia, einer Frau, die Di wohl sehr imponiert hatte, die aber kurz nach Opals Geburt gestorben und ihr somit fremd war, war hübsch und das wusste sie auch. Sie hatte lange, blonde Locken und azurblaue Augen. Manche sagten, sie sähe aus wie ein Engel, aber Opal selber bevorzugte den dunkleren Typ. Sie fand die schwarzhaarige Ceci weitaus hübscher und auch bei Männern fand Opal dunkle Haare besser. Ihr Bruder zum Beispiel sah nicht schlecht aus und James war sogar ziemlich attraktiv. Eigentlich kein Wunder, das er ein ziemlicher Herzensbrecher war, er bekam ja auch jede.
Phil war die letzte Rothaarige. Sie hatte braune Augen und ein sehr verschlossenes, naives Wesen. Correy dagegen war leicht arrogant, arroganter sogar als die gleichaltrige, aber, in Opals Augen, hübschere Joy. Eigentlich war Correy ein liebes Mädchen, aber nicht wirklich einfühlsam und manchmal taktlos. Wie auch jetzt. „Sag mal", wandte sie sich leise, aber nicht leise genug, an Joy und Merry, „ihr wohnte doch mit Una zusammen. Habt ihr rausgekriegt, wieso die keinen Mann hat? Hat sie keinen abgekriegt oder was?" Sämtliche Tischgespräche verstummten und alle starrten die Mädchen an. Merry errötete und starrte auf ihren Teller, während Joy den Mund öffnete, als wolle sie etwas sagen, ihn dann aber wieder schloss.
„Wieso wird eine Frau eigentlich als verrückt oder anormal abgestempelt, wenn sie nicht heiratet?", fragte Opal in die Stille, „Falls ich keinen Mann finden sollte, den ich lieben kann, werde ich auch nicht heiraten. Und nehmen wir mal an, die Situation in Europa führt wirklich zu einem Krieg, was, meiner Meinung nach, durchaus sein kann, und ich tatsächlich mal einen Verlobten haben sollte, der geht, um nicht zurück zukehren, dann würde ich auch nicht mehr heiraten, sofern es wirklich der Mann war, den ich liebe." Jetzt starrten alle die dunkelhaarige junge Frau an. Opal sah ihnen fast schon trotzig ins Gesicht.
„Du bist wirklich die Tochter deiner Mutter, Opal", stellte Una ruhig fest, stand auf und verließ den Raum. In der Tür drehte sie sich noch einmal um: „ Und um deine Frage zu beantworten, Cornelia, ich hätte durchaus heiraten können, aber der Mann, den ich liebte und immer noch liebe, fiel in Courcelette. Ob er ähnliche Gefühle hatte, weiß ich nicht und werde es auch nie erfahren." „Hatte er, Una", bemerkte Rilla, „hatte er, vertrau mir." Una nickte nur kurz und ging. „Redet sie von Walter?", fragte Jem irritiert. „Stell dir vor", kam von Faith die Antwort und damit wurde das Thema beendet. Opal aber nahm sich vor, herauszufinden, was Walter für ein Mensch gewesen war und wie er zu Una gestanden hatte.
